Montag, 11. April 2011
Rassentrennung im sowjetischen Estland
Sozusagen passend als Vorprogramm zu der Rezension von Sofi Oksanens „Fegefeuer“, die ich schon seit Wochen schreiben will, lieferte mir am Freitag eine Kollegin einige Informationen über Estland in sowjetischer Zeit.
Erst kürzlich hatte ich erfahren, dass diese schöne, zurückhaltend-gepflegte, sehr russisch aussehende Sprachlehrerin mittleren Alters gar keine richtige Russin ist, sondern eine halbe Estin. Jetzt gab sie mir einige sehr interessante Informationen dazu.
Ihre Mutter ist Russin, nach Estland, in die estnische Teilrepublik, eingewandert und dort als Ingenieurin tätig gewesen. Sie ging eine Liebesbeziehung mit einem estnischen Kollegen ein. Als sie schwanger wurde, musste er alles seiner Familie beichten, die eine Verbindung mit einer Russin strikt ablehnte. Er brach den Kontakt ab, erkannte die Vaterschaft nicht an. Seine Tochter hat ihn nie kennen gelernt. So war das damals, erklärte mir meine Kollegin, die Bevölkerungsgruppen lebten nebeneinander her, hasserfüllt und auf Abstand. Es gab Betriebe, die waren in estnischer Hand, die wichtigen Industriebetriebe aber alle russisch – auch wenn ein estnischer Ingenieur, wie im vorliegenden Fall, durchaus auch dort eine Chance hatte. „Na klar, ich war ja auf einer russischen Schule, wir haben ab der dritten Klasse Estnisch gehabt – auch wenn`s die meisten nie wirklich sprechen lernten – wir hatten natürlich auch estnische Schüler, das war schon möglich für Esten, man konnte natürlich mehr erreichen als Absolvent einer russischen Schule. Also, den X., den Y., den Z. Iwanow ... ja, der war wirklich Este, manche Esten nahmen halt einen russischen Namen an, man konnte dann mehr erreichen ..“
Mit dem Jahr 1990 änderte sich dann die Richtung der Diskriminierung. Die Russen bekamen die neue estnische Staatsbürgerschaft nicht nach dem Ende der sowjetischen – sie bekamen von den Russen die russische, sofern sie dort geboren waren. Die Jüngeren mussten auf eigene Kosten einen Sprachkurs machen und einen Test bestehen, einige sind bis heute staatenlos (mit einem Schengen-Pass). Meine Kollegin hätte ja die estnische gleich bekommen, mit einem nachgewiesenermaßen estnischen Vater. Aber der, längst mit einer Estin verheiratet, ließ sich verleugnen, und sie machte, bei ihrem Sprachtalent kein Thema, die Prüfung, um Estin zu werden. Inzwischen hat sie einen deutschen Pass. „Ich hätte ja die estnische Staatsangehörigkeit drangegeben, aber man hat mir direkt angeboten ...“ Jetzt hat sie eine doppelte Staatsbürgerschaft. „Schön“, sagte ich, „da haben Sie wenigstens noch etwas von Ihrem Vater – die Staatsbürgerschaft.“

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Mittwoch, 6. Oktober 2010
Wo kommen eigentlich die ganzen arbeitslosen Ausländer her? (noch zwei Beispiele)
Unsere Sportlehrerin an der EOS sprach einmal begeistert von dem hervorragenden "Schülermaterial" einer neuen Klasse. Wir Siebzehnjährigen waren entsetzt und überzeugt, so eine Menschenverachtung wäre nur im Realsozialismus möglich. Dabei war das nur die Vorschule des Lebens.
Jetzt bin ich selbst Lehrer und prüfe die Deutschkenntnisse von Migranten. Einer von ihnen erzählte, wie er nach Deutschland gekommen ist. "Ich bin Profifußballer." und ein deutscher Verein hatte ihn, als hervorragendes Menschenmaterial, in Ghana entdeckt. Er spielte einige Jahre in Deutschland, dann war er verletzt und natürlich hieß es: Ab nach Hause! Auf seiner Abschiedsparty lernte er eine Ghanaerin aus Hamburg kennen. Sie heirateten in Ghana, er zog nach Hamburg. Jetzt ist die Ehe schon einige Jahre kaputt, seine Fußballerkarriere sowieso, er sitzt ohne Ausbildung, ohne Job in einer Hamburger Einzimmerwohnung. Wahrscheinlich wird ihn die Arge noch zu einigen sinnlosen "maßnahmen" schicken, sofern Frau Merkel die Gelder dafür nicht gänzlich streicht. Man kann nur noch hoffen, dass die Ghana-Connection ihm doch noch einen Job besorgt. Die viel gescholtenen Ausländer-Parallelwelten schaffen garantiert mehr Arbietsplätze als die Arbeitsagentur.
Auch dazu ein Beispiel: In einer ebensolchen Arbeitsamtsmaßnahme sollten wir einen türkischen KFZ-Mechaniker in Arbeit vermitteln. Wir fanden nicht einmal einen Praktikumsplatz für ihn. Das Problem war schlicht seine sture Weigerung, in einem türkischen Betrieb zu arbeiten. In einem türkischen Unterrnehmen hätte sofort Arbeit gefunden. Aber er wollte partout sein Deutsch verbessern. Sie sehen, mit der Integration ist es wie mit einer Schwangerschaft: Da gehören immer zwei dazu.

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Freitag, 10. September 2010
Die Geschichte von Herrn E.
Ich bin ja verantwortlich für die Alphabetisierungkurse und im Kurs 40 gab es ein Problem, und zwar mit Herrn Y., einem älteren Afghanen bäuerlicher Ausstrahlung. Teilnehmer beschwerten sich, dass er stinke, wollten mit ihm nicht in einem Raum sitzen. Das erzählte mir der Dozent ratlos. Ich war es auch. Immerhin schlug mein Herz für Y: Ich hatte ihn eingestuft – er war Ende 50 und tatsächlich Analphabet: auch in seiner Muttersprache konnte er nur seinen Vornamen schreiben - und ich hatte ihm in meinem Anfängerkurs die ersten Buchstaben beigebracht. Von Stinken war mir nichts aufgefallen, allerdings: Ich bin in der Frage auch toleranter als im desodorierten Westdeutschland üblich. Was also tun? Ich schickte meine Kollegin J. in die Klasse, eine Polin und entsprechend etepetete. Sie setzte sich unter einem Vorwand neben Y. und befand: unangenehmer Geruch spürbar, aber im vertretbaren Bereich. Fast gleichzeitig erreichte mich ein Anruf von Y.s Sohn: Sein Vater werde von Frau M. gemobbt und wolle nicht mehr zum Kurs kommen. Bei mir schrillten die Alarmglocken: Ein Teilnehmer weniger bedeutet einen spürbaren Einnahmeverlust für die Firma. Ich beraumte eine Ansprache an, eine heikle Sache, wenn man es mit Sprachanfängern aus aller Herren Länder zu tun hat und selber nichts als Deutsch kann. Aber es wurde einfacher als gedacht: Die Iranerin M. und Y. kristallisierten sich schnell als die eigentlichen Kampfhähne heraus, sie sprachen dieselbe Sprache. Frau M., die Bildungsbürgerin unter Stress (sie befand sich gerade in einem hässlichen Scheidungskrieg) und Y., der Bauer, der mit Hartz IV und seinem Minijob in einer Restaurantküche ganz gut klar kann, solange der Sohn ordentlich seine Ausbildung machte. Sie kamen aus zwei Welten und sprachen dieselbe Sprache - was die gegenseitige Abneigung leider nur verstärkte. M. empfand Y. als ihren Landsmann und das war ihr peinlich.. Sie benahm sich wie eine persische Sarrazinin. Aber zum Glück sprach auch Herr E. Persisch und er fand sich bereit zu moderieren. Ihm ist es zu verdanken, dass die Sache nach zehn Minuten beigelegt war. So weit, so gut,.

Ein dreiviertel Jahr später war Prüfung, die ich mit einer Kollegin durchzuführen hatte. Und da waren sie wieder. Zwar nicht Y., der hatte aus Angst vor der Prüfung, die er einfach nicht bestehen konnte, einen Monat zuvor den Kurs verlassen. Und ich hatte auch ein paar Telefonate mit der Arge, der ich Gott sei Dank verständlich machen konnte, dass dieses Verhalten nachvollziehbar und jedenfalls keine Integrationsunwilligkeit ist. Frau M. aber war da. Im ersten Teil der Prüfung muss der Prüfling sich und seine Familie kurz vorstellen. Ich machte mich auf giftige Statements über ihren Ex-Ehemann gefasst. Aber etwas ganz anderes geschah. Sie brach in Tränen aus. "Ich habe zwei Töchter. Ich habe sie im Iran zurückgelassen. Ich weiß nicht, was mit ihnen ist. Ich halte das nicht aus. Ich habe eine Therapie begonnen. " Und wieder Heulen.

Aber damit nicht genug. Kurz darauf war Herr E. da. Er begann seine Vorstellung mit: "Mein Leben ist kaputt." Dann erzählte er: Als Jugendlicher hatte er bei den Volks-Mujahedin gekämpft (das hatte ich gar nicht gewusst, dass es die nicht nur im Iran gegeben hatte, dass es auch linken Widerstand gegen die Russen in Afghanistan gegeben hatte, nicht nur den durch Pakistan und den Westen unterstützten rechten Widerstand der Taliban). Nach Abzug der Russen gab es einen ungleichen Konkurrenzkampf der Anti-Russen-Aktivisten. Herr E. malte in Herat Anti-Taliban-Parolen an Häuserwände - und setzte sich sofort in Richtung Iran ab. Die Taliban erschossen ersatzweise seinen Vater und seinem Bruder. Herr E. schlug sich bis nach Deutschland durch, konnte seine Geschichte nicht beweisen und bekam jeweils eine vierteljährliche Duldung und einen Schlafplatz im Ausländerwohnheim. Ohne Arbeitserlaubnis, ohne ein Recht auf einen Deutschkurs. Acht Jahre lang. Dann gingen deutsche Soldaten nach Afghanistan, und aus schlechtem Gewissen bekamen die Afghanen in Deutschland alle ihren "Aufenthalt". Auch Herr E. Zu spät. Er ist Mitte dreißig, hat bescheidene deutsche Sprachkenntnisse und nicht die richtigen Kontakte. Seine Moderationsfähigkeit, seine Freundlichkeit helfen ihm da wenig.

Ob das alles stimmt das weiß ich auch nicht. Ich hänge mich nie in die Lebensgeschichte meiner Teilnehmer. Aber so habe ich es gehört und ich wollte es einfach einmal aufschreiben.

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Donnerstag, 9. September 2010
Jeder kehre vor seiner Tür
Eigentlich wollte ich mich nicht zur Sarrazin-Debatte äußern. Ich hatte keine Lust, seine Thesen nun genau zu prüfen. Ob die Statistiken, die er zitiert, nun frei erfunden, manipuliert oder nur kühn interpretiert sind, das im Einzelnen nachzuprüfen, macht keinen Spaß. Da gibt es Journalisten, die dafür bezahlt werden nachzurecherchieren, und das haben Sie ja auch getan.
Was ich zur allgemeinen Diskussion beitragen kann, sind meine eigenen Erfahrungen mit Migranten, Erfahrungen eines Deutschen, wie er deutscher nicht sein könnte, und vor allem: Erfahrungen von Angesicht zu Angesicht und nicht aus der Vogelperspektive, wie sie Politiker und Statistikenbefrager bevorzugen und aus der die Betroffenen meist recht klein erscheinen.
Dass ich also so eine „Kopftuchfrau“ zum ersten Mal aus nächster Nähe gesehen habe, ist noch gar nicht so lang her. Mein Sohn war anderthalb, meine Frau wollte wieder zu arbeiten anfangen und wir suchten eine Tagesmutter. Nach einigem Zögern entschieden wir uns für eine Türkin. Die Alternative wäre eine etwas schmuddelige Deutsche gewesen oder eine perfekt durchorganisierte Zehn-Kinder-Einrichtung, die so sehr nach „KITA“ roch, dass es einfach gar nicht ging. Das ging im Februar los, es schneite manchmal und ich musste mein Kind zu halb acht früh per Fahrrad nach Ottensen kutschieren, wo Frau Z. im Morgenmantel die Tür öffnete und den Kleinen übernahm. Erst später, als einiges Vertrauen gewachsen war, gestand sie, dass dann immer seine kalten Händchen an den Busen nahm und nochmal mit ihm ins Bett verschwand, bis die anderen Kinder kamen. Frau Z. war super, obwohl sie nur so viel Deutsch radebrechen konnte, wie sie von den Tageskindern lernte. Die Skepsis aus unserem Umfeld („Gerade jetzt in der so wichtigen Phase der frühkindlichen Sprachentwicklung!“) erwies sich als unbegründet: Mein Sohn (2. von rechts) hat sehr gut Deutsch gelernt – und sein frühkindliches Türkisch (er konnte mehr als drei Sorten Börek unterscheiden) hat er leider schon völlig vergessen.

Und diese Frau soll eine Gefahr für Deutschland sein? Es gab nun mal nicht genug Arbeit in der Türkei damals. Ihr Mann fand einen guten Job in Hamburg (den er bis heute inne hat), da hieß es für sie mitkommen und Kinder großziehen. Natürlich hatte sie Sehnsucht nach zu Hause. Als sie sehr krank wurde, dachte ich sogar, dass es diese Sehnsucht war, die fast hat sterben lassen. Übrigens: Ihre Tochter erzählte, dass der Notarzt, als sie ihn rufen musste, zuerst überzeugt war, natürlich wieder zu so einer weinerlich-depressiven Türkin geholt zu werden. Erst als er vor ihr stand, wusste er, dass es um Leben und Tod ging. Diesen Blick – von Angesicht zu Angesicht – würde ich auch Herrn Sarrazin empfehlen.
Natürlich gibt es auch andere. Es gibt Leute, die aus derselben Verlegenheit heraus, in Deutschland zu sein und in Deutschland isoliert zu sein, nicht auf die Idee kommen, Tageskinder aufzunehmen, sondern sich – was näher liegt – zu gekonnten Sozialgeldempfängern und -ertricksern entwickeln. Und Leute, die anfangen Deutschland zu hassen. Meistens sind das dieselben.
Ich erinnere mich an einen Mann (aus Afghanistan), der Frau und Schwiegertochter zu mir in den Kurs schickte. Die beiden Frauen teilten sich in die Betreuung eines Babys – die Mutter kam vormittags, die Großmutter nachmittags – er selbst kümmerte sich um die Formalien, Bescheinigungen usw., sein Schwiegersohn arbeitete. Jetzt war die Großmutter (deren Kurs noch nicht begonnen hat) krank, also kann die Mutter nicht zur Schule kommen. Ich sage zu ihm: „Bringen Sie mir eine Krankschreibung Ihrer Frau. Das genügt.“ Darauf er: „Nein, das ist zu kompliziert.“ Und erscheint am Folgetag mit einer Krankschreibung für seine absolut gesunde Schwiegertochter. Diese selbe Schwiegertochter hat übrigens später den Termin für die schriftliche Prüfung verschlafen. Ich sage zu ihr: „Warum sind Sie nicht zur Prüfung gekommen?“ – „Mein Mann hat mir nicht gesagt, dass Prüfung ist.“ Na super! Ich: „Entweder Sie legen mir eine gültige Krankschreibung vor oder Sie bezahlen die Prüfungskosten. Das sind 95 Euro.“ Sie: „Kein Problem.“ Und zückt einen 50-Euro-Schein. Die Frau hat in einem Jahr Deutschunterricht nicht begriffen, dass 50 Euro weniger als 95 Euro sind. Weil sie nicht mit Geld umgehen darf. Weil ihr Mann ihr gesagt hat: Wenn es Probleme gibt, zückst du diesen Schein. Da krieg ich so einen Hass! Und sage: Dieselbe Sorte ist es, die mir dann erzählt: „Ist das nicht schrecklich, da in Dresden, wo einfach eine Muslimin erstochen wurde, mitten im Gerichtssaal. Furchtbar, dieses Deutschland!“ Als ich erwidere: „Ich finde es gut, dass in Deutschland eine Muslimin, wenn sie beleidigt wird, vor Gericht gehen kann und dort Recht bekommt.“, da stellt sich heraus, dass die Empörte über den Sachverhalt gar nicht informiert ist, sondern nur irgendwelche hetzerische Propaganda nachgeplappert hat.
Und da sind wir beim Punkt: Es gibt diese Leute, auf die Sarrazin abzielt. Aber man erkennt sie nicht am Kopftuch (das tragen andere auch), man erkennt sie an ihrer Haltung. Diese Leute sind nicht fundamentalistisch, kulturalistisch oder was auch immer – nennen wir das Kind doch beim (deutschen) Namen: Sie sind rechts. So rechts wie Sarrazin oder sogar noch mehr. Und das ist kein Wunder. Ich hatte in der Vergangenheit Anlass, mich mit Danzig und Königsberg vor dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. Die Leute dort waren mehrheitlich rechts, nationalistisch, Nazianhänger. Offenbar korrumpiert die Trennung von der Heimat das liberale Denken. Dieses Phänomen beobachte ich auch bei Menschen aus dem arabisch-persischen Raum und der Türkei. Sie fangen an, die Familie, Gott, die Hierarchie höher zu schätzen als ihre eigenen Angehörigen. Die Folge ist, dass Analphabetinnen aus Kamerun in der Regel doppelt so schnell lernen wie Analphabetinnen aus Pakistan. Gott sei Dank sind nicht alle so. Es gibt da auch Frauen, die könnten direkt aus dem wunderbaren „Women without men“ entsprungen sein, es gibt wunderbare Menschen wie Herrn E. aus Afghanistan, dessen Geschichte ich nochmal extra aufschreiben muss.
Und es gibt auch in Deutschland andere Menschen als diesen ideologischen Sarrazin, der, so scheints, lieber altklug über Probleme redet als sich diesen Problemen ehrlich zu konfrontieren. Wie kommt der überhaupt dazu, so auf Menschen herabzublicken, die er gar nicht kennt?! Da könnte ich mich genau so hinstellen und behaupten, er, Thilo Sarrazin, wäre als Bundesbanker per se und persönlich Schuld daran, dass ich so wenig Geld habe. Da gibt es sicher auch irgendwelche Statistiken, die das beweisen. Aber, um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung von Finanzen. Also behalte ich meine sozialen Ressentiments für mich. Und das sollte er auch tun.
Ein jeder kehre vor seiner Tür und rein bleibt jedes Stadtquartier.

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Mittwoch, 5. Mai 2010
Warum ich nicht zum Chef tauge ...
... und auch nicht zum Revolutionär (denn das ist nur eine andere Ausformung derselben spezies): Ich hab irgendwie keinen Sinn für Macht. Und das ist nichts, worauf ich stolz sein könnte, denn da es Macht nun einmal gibt, führt das zu absurden Konstellationen: „Komisch“, meinte meine vorige Chefin (die kürzlich an ihrem eigenen Machtanspruch scheiterte und die Notbremse „Kündigung“ zog), „Wenn man dir Verantwortlichkeiten überträgt, gibt’s Probleme. Scheinbar fühlst du gar keinen Ehrgeiz, die auszufüllen. Aber wenn du kein Amt hast, handelst du umsichtig, übernimmst selbstständig Verantwortung ...“ Tja, und nun hab ich eine neue Chefin, eine toughe Osteuropäerin – Ihr kennt sicher den Typ – und es gibt einen Herrn X., einen alten 68er, den Typ kennt Ihr auch, der hat schon als junger Mann im Asta gegen die Schulbehörde geklagt (und sich die Fünf im Staatsexamen eingefangen als Dank) und jetzt lässt er sich immer noch nichts sagen.
In seinem Kurs (d.h. dem Kurs, in dem er freiberuflich unterrichtet und ich als Festangestellter der Seminarleiter bin) war eine Teilnehmerin, die hatte ihr Stundenkontingent fast aufgebraucht, ohne die Aussicht, die Abschlussprüfung zu bestehen (denn das schaffen in den Analphabetenkursen nur die Wunderkinder, von denen bestenfalls eins aufs Dutzend kommt). Und die wird nun krank, drei Wochen lang. X. bittet mich um eine Verlängerung für die Frau. Nun, das kann man schon machen, es liegt sogar nahe: Die Fehlzeit wird nicht abgerechnet, sie bekommt nochmal hundert Stunden, das ist ein Monat, den sie noch mit den andern im Kurs sitzen darf, der kostenlose Kindergartenplatz für die Tochter wird auch verlängert für die Zeit. Allemal besser als mit Hartz IV und dem Kind allein in der Wohnung sitzen. Jetzt kommt sie wieder und zehn Tage später stürzt sie, bricht sich die Hand – wieder wochenlang krank. „Was machen wir?“ fragt mich A. , die die Kurse abrechnet. „Nochmal verlängern, das hat doch keinen Sinn.“ sag ich „Sie kommt doch im Unterricht überhaupt nicht mehr mit, nach fast zwei Monaten! Und nur wegen dem Kindergartenplatz? Nee, das mach ich nicht.“ Und ich sag X., dass für Frau Hastdunichtgesehen der Kurs nun leider vorbei ist. „Kann man da gar nichts mehr machen?“ – „Nichts zu machen“, sag ich und bin zu feige zu sagen: „Das ist meine Entscheidung und ich hab meine Gründe.“ Zwei Tage später sagt mir X.: „Ach, wegen Frau ... – ich hab beim Bundesamt in Nürnberg angerufen.“ Und ich sag nicht: „Das geht dich gar nichts an. Das ist unsere Entscheidung.“ Sondern nur: „Wenn du meinst, bitte sehr!“ Natürlich war ich sauer, dass er mich nicht ernst nimmt. Aber ich fühlte mich im Recht und auf der sicheren Seite. Und irgendwie belächelte ich auch seine revoluzzerhafte Art, gleich bei der obersten Behörde anzurufen. Eine Woche später stürzt meine Chefin wutentbrannt aus ihrem Büro: „Wissen Sie, dass Herr X. ...? In Nürnberg!“ Ich sag: „Ja, er hat mich informiert, nachträglich.“ – „Er hat sich als Mitarbeiter unserer Firma ausgegeben! Also, das geht gar nicht!“ Kurz und gut, sie hat ihn sich einbestellt – aber wie gesagt, X. ist ein alter 68er und lässt sich nichts sagen – dann hat sie mich gefragt: „Ist er jetzt wirklich so ein toller Lehrer, dass wir nicht auf ihn verzichten können?“ und ich sage „So toll nun auch wieder nicht.“ (anstatt die differenziertere Wahrheit: großartiger Pädagoge, aber jetzt grad kein Alphabetisierungsspezialist). Und diesmal hab ich das nicht aus Feigheit gesagt, sondern weil ich immer noch sauer war auf X.
Tja, und jetzt ist er raus und ich hab ein schlechtes Gewissen. Wie gesagt, in der Sache hab ich Recht, glaube ich, nur hätt ich den Vorgesetzten raushängen lassen müssen, wo ich ja in der Tat auch Vorgesetzter war. ... da hab ich mir den Niedriglohnbereich ausgesucht und gedacht, da entgeh ich den Problemen. Tu ich aber nicht.

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Donnerstag, 21. Mai 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 11: Kollegen
Endlich mal wieder „Lehrer zweiter Klasse“, ich hab ja selbst nicht geglaubt, dass ich an diesem Text nochmal weiter schreibe. Und das ist ja auch kein Wunder: Nicht nur inhaltlich ist das Schnee von gestern. Auch meine schriftstellerischen Ambitionen, aus denen heraus ich den Bericht einst begann, sind ja über der Bloggerei sanft entschlafen (wenigstens dafür wars gut, das Bloggen). Aber heute geb ich mirs noch einmal und geh nochmal voll rein in das Jahr 2007, mein erstes Jahr im Lohndumping-Bereich, als ich das alles noch absurd fand.
Astrid Laue also, die Kollegin (die in der hier auftretenden Form natürlich genau so verfremdet und Fiktion ist wie alles andere auch). Von der ich nach drei Tagen schon weiß, dass sie ihren Literatur-Prof. so distanziert angeschwärmt hat, dass ihr am Ende nichts als ein nutzloser Magister-Abschluss davon übrig blieb; dass sie das Erbe ihrer Eltern in eine kleine Eigentumswohnung investiert hat – in einer Stadt, in der es keinen Job gibt für sie, an der Uni schon gar nicht; die ihren Vater hasst für seine rechten Überzeugungen und weil er nicht ihr Vater ist (und ihre Mutter für den Seitensprung); die Herrn D. aus dem Kurs für einen „Faschisten“ hält, weil der ein Macho und Prolet ist und ihr das sehr bekannt vorkommt – und weil er ihr in der Frühstückspause das Handy vom Lehrertisch klaute, um sie zu ärgern. „Aber da kann man doch was tun, da kann man doch die Polizei rufen.“ sag ich, und sie antwortet: „Das haben wir auch getan.“ Die Polizei, fremdenfeindlich und unterbeschäftigt, wie das in der Provinz wohl so ist am Vormittag, fragte nur: „Wie viele Ausländer?“ und erschien zwanzig Mann hoch auf dem Gewerbehof, in dessen Hinterstübchen der Unterricht stattfand. Und natürlich lag dann das Handy plötzlich auf dem Aschenbecher der Raucherecke, als hätte es Astrid selber da vergessen. Nicht anders als in der Schule, damals in der achten Klasse.
Nicht anders als in der Schule auch die Team-Sitzungen, in denen Astrid Laue dann besonderes Interesse an den pädagogischen Einschätzungen der Teilnehmer für die Arge (Hartz-IV-Behörde) zeigte, während Herr Y. (Single, Porschefahrer und Leiter einer kleinen Werkstatt, in der alte Stühle aus den umliegenden Firmen von 1-€-Jobbern für den Schuldienst in Afghanistan aufgemöbelt wurden) mit Vorliebe viertelstundenlang über Arbeitsschutzvorschriften referierte und wie das Unfallbericht-Buch am Verbandskasten korrekt zu führen sei.
Und zwischendurch ich, wie alle anderen auch ein am Höheren Gescheiterter, der sich einfach immer nur stumm wunderte, wo er hier gelandet ist ...

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Sonntag, 26. April 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 10: Methodisches
So begann die Arbeit in meinem Bereich. Wollte man nun die Methode beschreiben, mit der ich Menschen das Alphabet beibrachte – da hatte mein Arbeitgeber in seinem Konzept immerhin eine Idee vorgebracht: dass es nämlich erlaubt und sinnvoll sei, deutsche und ausländische Analphabeten gemeinsam zu unterrichten (wobei der Begriff Analphabet sehr weit gefasst wurde: wer auf einer deutschen oder türkischen Schule immerhin die Mindestzeit mitgeschleift wurde, beherrscht in der Regel das lateinische Alphabet, in meinem Kurs landete er trotzdem). Natürlich fand das mein Arbeitgeber sinnvoll, weil es ökonomisch angebracht war und insofern auch der Arge in den Kram passte.
Aber so ist das: Jeder entwirft sein Konzept aus seinen Bedürfnissen heraus. Und manchmal kann das ja sogar passen: Jedenfalls fand ich das pädagogisch gar nicht abwegig, dass in meinem Kurs die deutschen ehemaligen Sonderschüler auch mal als klug dastehen konnten, weil ihnen nämlich der deutsche Alltagsgrundwortschatz durchaus vertraut war. Da konnten sie die Ausländer belehren, und diese konterten, indem sie häufig die Regeln der deutschen Grammatik schneller begriffen. Ein schönes Geben und Nehmen.
Und da fühlte ich mich wieder bestätigt: Ich war ganz unten, und ganz unten funktionierte es. Schon im Fortgeschrittenen-Kurs nebenan war das anders: Der iranische Ingenieur, der russische Jugendliche mit Knasterfahrung und der deutsche Sonderschüler mit acht Klassen hatten sich herzlich wenig zu sagen.
Ich fühlte mich auch bestätigt, weil hier die üblichen methodischen Tricks versagten und meine Klientel mit ihrem Chaos scheinbar meine gehassten pädagogischen Lehrer ins Unrecht setzte.
Der besagte Landarbeiter (ein „echter“ Analphabet übrigens) war von meinem Vorvorgänger (bezeichnenderweise wechselten hier die Lehrer schneller als die Schüler) bewegt worden, die Buchstaben aus Knete zu formen, um sie sich sinnlich erfahrbar zu machen. Natürlich ohne Erfolg. Ich war sehr erheitert, dass dieser beschränkte, sehr gutwillige Fünfzigjährige hier also offenbar ein paar Wochen Knetfigürchen gebastelt hatte, und versuchte es nun meinerseits mit der Ganzwortmethode, an die ich mich noch aus dem Studium flüchtig erinnerte, weil sie einst irgendwelche ideologischen Flügelkämpfe in der Grundschulpädagogik ausgelöst hatte: Ich ließ den Mann Memory-Kärtchen auswendig lernen – auf der einen Seite das Bild, auf der anderen Seite das Wort. Und brachte ihn tatsächlich dazu, dass er nach zwei - drei Wochen viele der Wörter als sogenanntes Wortbild und sogar einige Anfangsbuchstaben sicher erkennen konnte.
Nur bei dem „Arzt“-Bildchen gab es Probleme – weil er immer wieder vergaß, dass der „Dokter“ ja „Arzt“ zu nennen sei und folglich mit „A“ beginne. Allerdings helfen ja auch die Anfangsbuchstaben noch nicht weit: Woher seine Lebensgefährtin kommt – Peru oder Portugal – das brachte er immer wieder durcheinander. Insofern hatte meine Chefin – der die deutsche Sprache piepegal war – letztendlich Recht: Sie sprach von „sozialer Stabilisation“ und meinte damit, dass ein Mensch, der jeden Tag einer Beschäftigung nachgeht (und seien es Knetfiguren), anstatt zu Hause rumzuhängen, signifikant weniger säuft.
... nun, sollte hier ein Grundschul- oder DaF-Pädagoge mitgelesen haben, wird er vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen über so viel unprofessioneller Stümperei. Aber genau das will ich erklären: Stümperei ist das nicht – es ist Dilettantismus! Und zwar im edelsten Sinne, so wie ihn Alfred Lichtwark verstand (http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Lichtwark): Ich hatte keine Ahnung von irgendwas – ich hatte nur eine Erfahrung. Als Kind einer elitären Schicht (deren Privilegien ich nicht mochte und die es auch nicht mehr gibt) war ich als Jugendlicher in die Fänge der NVA geraten, wie ich hier schon berichtet habe – und da haben mich die Prolls gerettet, die Heavy-Metal-Fans – und es war damals schon so, dass meine Bildung und ihr Chaos eine ganz gute Mischung ergaben. Das ist ein rückwärtsgewandter, ein konservativer Ansatz. Aber er funktioniert. Liebe Pädagogen, glaubt es mir: Ich habe Menschen etwas beigebracht! Als letzte Woche N., mein Sorgenkind aus dem derzeitigen Kurs (aus Afrika, nie zur Schule gegangen, kann nach einem Jahr langsam kurze Sätze entziffern, und zu mehr wird sies nicht bringen) stolz erzählte, dass sie beim Hausmeister war, und er hat verstanden, dass die kleine Lampe im Flur kaputt ist, da hat sich ihr Stolz ganz und gar auf mich übertragen.

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Mittwoch, 11. März 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 9
Aber am ersten Tag interessierte mich das noch wenig, was da so an Firma vorhanden war. Nur am Rande nahm ich die Chefin wahr und fand sie sympathisch. Wichtiger war schon die Begegnung mit meiner neuen Kollegin, die mich ja einweisen musste. In ihren Sätzen zitterte noch die Aufregung über die letzten Tage nach. Offenbar hatte es Knatsch gegeben, hatten sich Teilnehmer beim Arbeitsamt über meine Vorgängerin beschwert – und prompt war diese entlassen worden. Ob die Vorwürfe berechtigt waren, das schien mir eher unwahrscheinlich: ihre schlechte Aussprache, ihr russischer Akzent und die deutsche Grammatik würde sie auch nicht beherrschen – diese Vorwürfe klangen mir eher nach Rassismus (an meiner feinen Privatschule war eine Deutschrussin mit exakt denselben Argumenten von Schülern und Eltern angegriffen und von der Schulleitung überstürzt entlassen worden), auch meine neue Kollegin, Astrid Laue hieß sie, deutete so etwas an: die Macht der Arge (Hartz-IV-Behörde), die Renitenz der Teilnehmer, und das Wichtigste wäre, jetzt wieder Ruhe reinzukriegen, und vor allem solle ich mich vor Herrn D. in Acht nehmen, das wäre ein richtiger Faschist (was immer darunter zu verstehen ist).
Ach so, was inhaltlich zu tun war, darüber erfuhr ich wenig, eigentlich gar nichts. Das erwartete mich, als ich im Unterricht war. Aber es war nicht schlecht, was mich da erwartete. Eine bunte Truppe – vom strohblonden, rotnasigen norddeutschen Landarbeiter mit Alkoholneigung über einen Schwarzen mit Rastazöpfen und ca. 20 Wörtern Deutsch und die unvermeidlichen arbeitslosen Türken mittleren Alters bis hin zum arabischstämmigen Hauptschüler, der den Abschluss nicht geschafft hat – da wurde halt alles, was nicht ordentlich lesen und schreiben konnte in den Dörfern im Umkreis, zusammengekehrt und auf die Schulbank gesetzt. Nun gut, wir saßen zusammen und machten das beste draus. Ich erfuhr hier zum ersten Mal, wie schwer es ist, das kleine b und das kleine d auseinander zu halten und dass es noch viel schwerer ist, Kreuzchen in einer Tabelle richtig anzuordnen. Also malten wir Kreuzchen und Bs und Ds, auch Herr D. war eifrig dabei (nur reichte seine Energie immer nur für drei bis vier Tage, dann schwänzte er wieder) – es war wie bei den Grundschülern (auch die Witze waren oft wie bei den Grundschülern), eigentlich schöner, weil kein „Och, sind die niedlich!“ die Relationen verschob ...

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Donnerstag, 19. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 8
Es war die letzte Novemberwoche. „Ende November, das Kalt und das Grau, sind meine Heimat im Weiß-nicht-genau.“ Das hatte ich mal gereimt, als ich mich, selbst kaum der Schule entronnen, in ein blasses Teenager-Mädchen und ihren düsteren Geburtstag verliebt hatte. Der Vorortzug jedenfalls war halb leer an meinem ersten Arbeitstag; schließlich pendeln die meisten Menschen ja in die Großstadt hinein, nicht aus ihr heraus. Nach zwanzig Minuten stieg ich an einem Kleinstadtbahnhof aus und in den Bus um. Dort standen geduckte
Häuschen einen ehemaligen Mühlbach entlang und alle paar Minuten stoppte vor dem Buswartehäuschen ein Auto, dessen Fahrer eine Ehefrau oder ein Schulkind entließ. So wuchs die wartende Menge und endlich kam der Bus, und er brauchte Ewigkeiten, bevor er nach Zwischenstopps an Berufsschule, Friedhof und Klinikum endlich das Gewerbegebiet am Ortsausgang erreichte, wo ich aussteigen musste.
Meine Firma hatte die Räume über einer Elektrofirma angemietet. Vor der Tür gab es einen Fahrradständer und einen Raucherplatz, zwei reservierte Parkplätze – für die Chefin und die Sekretärin – und jede Menge Ladeverkehr für die Handwerker im Erdgeschoss. Die Chefin (offenbar gibt es in dieser Branche keine Chefs, jedenfalls nicht auf den unteren Rängen) beaufsichtigte ein kleines Büro und neben den beiden Deutschkursen noch ein paar andere „Maßnahmen“ für Arbeitslose: die üblichen Bewerbungs- und Computertrainings sowie einen Kurs „Berufliche Orientierung“, wo auch wieder Bewerbungsmappen hergestellt wurden.

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Mittwoch, 18. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 7
Was blieb, war ein finanzielles Loch. Frau Meyer hatte ein Einsehen und lud mir auf mein Betteln hin Vertretungsstunden auf bis zum Abwinken. Abzüglich der Steuer blieb dennoch nichts übrig. Außerdem hatte ich mir mit meiner Familie in diesem Sommer einen echten Urlaub geleistet, richtig mit Autozug und Ferienwohnung in Bayern. Wir kamen aus den Schulden nicht mehr raus.
Ende November wurden die Vertretungsstunden rarer und weitere Kürzungen standen ins Haus. Die Firma hatte eine Anschlussausschreibung nicht gewonnen – die Konkurrenzfirma mit noch schäbigeren Räumen und noch niedrigeren Honoraren hatte uns unterboten. Frau Meyer hatte Schwierigkeiten, die Stunden halbwegs gerecht unter den Honorardozenten aufzuteilen. Eines Abends rief sie mich überraschend an und bestellte mich für den folgenden, einen Freitagabend, ins Büro: ein Jobangebot. Wir trafen uns zu dritt in ihrem Büro, es war um sechs, schon dunkel, ich hatte das Büro bei Lampenlicht noch nicht erlebt. Der Dritte war aus der Führungsebene, von der Mutterfirma, und beaufsichtigte eine kleine Schwester-GmbH vor den Toren der Stadt. Dort gab es nur zwei Deutschkurse und zwei Lehrer, einer davon war überraschend ausgefallen. Arbeitsbeginn am Montag. Frau Meyer war das Angebot ein bisschen peinlich: „Ja, aber wissen Sie, Sie kennen die Situation, und da haben Sie immerhin erst mal einen Monat gesichert ...“ Das fand ich auch und akzeptierte einen auf vier Wochen befristeten Arbeitsvertrag auf dem Gehaltsniveau einer Supermarktverkäuferin.
Am Wochenende war ich mit Frau und Kind ein paar Stunden bei Freunden auf dem Land, genauer gesagt, bei Freunden, die mit dem zweiten Kind rausgezogen waren, in das berühmte Häuschen im Grünen. Ich nutzte die Gelegenheit und bat meine Frau, nach dem Kaffeetrinken nicht gleich nach Hause zu fahren, sondern eine Autobahnabfahrt weiter in Richtung Provinz. Ich wollte meine neue Arbeitsstelle wenigstens einmal gesehen haben. Aber da war nichts zu sehen. Da war nur ein gesichtsloses Gewerbegebiet an der Autobahn, mit einer Shell-Tankstelle und dem Bürohaus von einer dieser windigen Mobiltelefongesellschaften, daneben Großhandelslager und Kleingewerbe, sogar Einfamilienhäuser, und mittendrin ein Schild, das auf einen Hinterhof zeigte und den Namen der Schule trug.

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