Donnerstag, 12. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 4
Vielleicht war es auch nur, dass es hier keine Disziplinprobleme gab, jedenfalls keine nennenswerten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine kleine Gruppe russischer Männer, die in der ersten Doppelstunde enttäuscht feststellte, dass auch beim Vertretungslehrer Unterricht stattfindet, und in der Frühstückspause verschwand. Einer davon machte den Fehler, nach der Mittagspause wieder zu erscheinen – mit Alkoholfahne. Er versuchte sich in die Behauptung zu flüchten, er würde kein Wort Deutsch verstehen. Da ich aber sein Russisch verstand und deutsch darauf antworten konnte, ergab er sich in sein Schicksal und mimte für den Rest den Tages den immerhin passiv anwesenden Schüler – was genug war. Anwesenheit reichte aus, um das Arbeitsamt zufrieden zu stellen. Die anderen waren dann eben halt „nicht anwesend“ und flogen ein paar Tage später raus, was noch nicht mal ich verkünden musste, sondern der zuständige Lehrer. Alles sehr einfach.
Etwas komplizierter war’s in dem Alphabetisierungskurs, den mir Frau Meyer als „schwierig“ angekündigt hatte und den ich für eine ganze Urlaubsvertretung übernahm. Hier wurde jeden Morgen darüber erbittert darüber diskutiert, ob und wie weit die Heizung einzuschalten sei (es war inzwischen März, aber immer noch kalt). Der Auslöser für das Problem war offenbar – und trug den Namen Grace. Grace war Afrikanerin, Ende Dreißig, verhärmt und kommunikationsunfähig. Jeden Morgen betrat sie den Klassenraum, setzte sich wortlos in eine Ecke und schraubte die nächstgelegene Heizung so hoch wie möglich. Auf jegliche Ansprache reagierte sie unwirsch, auf das Thema „Heizung“ aber grundsätzlich mit Wutanfällen. Klar, dass das die stolzen Türken und Araber nicht auf sich sitzen lassen konnten. Und so wurde eben jeden Morgen erst mal rumgeschrien. Meine Aufgabe war es, als Deutscher, als Lehrer, niemandem Recht zu geben und niemandem Unrecht. Damit allein ließen sich die Gemüter meist schnell besänftigen, und es gab Tage, an denen sich sogar Grace am Unterricht beteiligte.
Überhaupt war Stolz für die meisten ein größeres Problem als mangelnde Sprachfähigkeiten. Es gab da im selben Kurs ein Ehepaar aus Griechenland, das sein Arbeitsleben in deutschen Fabriken verbracht hatte, zuletzt in der Schokoladenproduktion. Die Kinder waren inzwischen groß, die beiden alt und in Deutschland gibt es kaum noch Stellen für Ungelernte. So kam das Arbeitsamt auf die irrige Annahme, die Arbeitslosigkeit der beiden könne mit ihren Sprachproblemen zusammenhängen. Aber wie dem auch sei, die beiden waren da und bemühten sich redlich, das deutsche Alphabet zu erlernen. Dass aber sie binnen kurzem die Buchstaben schreiben konnte, ertrug er nicht – und erfand unendlich viele Ausreden. Oder stellte sich selbst scherzhaft als Lehrer vor die Klasse in der Pause. All das führte natürlich dazu, dass er noch weiter hinter seiner emsig weiterlernenden Frau zurückblieb ... ein Teufelskreis. Nur als Clown schaffte es Kostas, noch ein Mann zu bleiben.

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