Sonntag, 27. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 7
Also wieder nach Bremen. Natürlich per Anhalter, wie immer. Gleich hinter dem Schulamt gab es einen Kreisverkehr, durch den mussten alle Autofahrer, die die von Rostock aus nach Westen wollten. Dort kam man immer gut weg.
In Wismar wurde es schon langsam dunkel, als endlich ein Kleinlaster stoppte. Mit dem Fahrer kam ich schnell ins Gespräch: ein Obsthändler von der Insel Rügen auf dem Weg zum Großmarkt in Hamburg. Er war der Sohn eines Hamburger Einzelhändlerpaars, seine Frau kam aus dem Osten. Ihre Familie war ein Opfer der Aktion „Rose“, der großen Umsiedlungs- und Enteignungsaktion grenznaher Gebiete in der DDR. Sie hatte dabei ihre Existenzgrundlage, einen Obst- und Gemüseladen auf Rügen, verloren und war nach Hamburg übergesiedelt. Jetzt bekamen sie den Besitz wieder und er übernahm mit seiner Frau den Laden. Während sie an der Theke stand, fuhr er jede Nacht zum Hamburger Großmarkt, um Ware zu holen. Die Stasi-Akte hatten sie im Zuge der Rückübertragungsverhandlungen 1990 einmal kurz einsehen können, als der Beamte den Raum verließ. Jetzt, zwei Jahre später, bekamen sie sie in offizieller BStU-Kopie - und um ein Drittel ausgedünnt. Es fehlten alle Blätter, auf denen Namen verzeichnet waren, die für das Nachwende-Rügen noch eine Rolle spielten. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die „roten Socken“ und ich musste ihm Recht geben. Uneins waren wir nur in der Frage, ob es moralisch gerechtfertigt sei, Sozialhilfe zu beziehen und gar nicht arbeiten zu wollen. Für ihn war soziale Fürsorge nur als Wohltat für menschliches Elend denkbar; arbeiten zu gehen, so wie er sich in die Arbeit stürzte, sich die Nacht um die Ohren schlug, empfand er als selbstverständlich, als Pflicht.
Ein anderer solcher Pflichtmensch nahm mich von Hamburg nach Bremen mit, ich glaube, es war eine andere Tramptour, aber auch schon gegen Abend: ein gepflegter Mann mittleren Alters, im Anzug und in Begleitung einer entsprechend gekleideten Ehefrau. Worüber wir redeten, habe ich vergessen, aber ich erinnere mich noch, wie es sich anfühlte, mit eine Generation älteren Leuten zu reden, die einem offen begegnen, wirklich etwas wissen wollen, dabei selbst kenntnisreich sind, die Dinge einordnen können, aus einem sicheren Standpunkt heraus, der nicht meiner war, aber den ich respektieren konnte. Beim Aussteigen luden sie mich ein, sie doch einmal zu besuchen. Der Mann übergab mir seine Visitenkarte und ich erschrak, weil darauf stand „Geschäftsführer der CDU Bremen“. Das waren doch die Bösen, wie man sie aus dem Fernsehen kannte. Ich verkroch mich in meinen Keller. Die Karte warf ich weg.
Da schien mir Michael doch von anderem Schlag, der Rock-Gitarrist mit der Elvis-Tolle. Den mochte ich und er mich auch, aber irgendwie – es fand sich keine gemeinsame Basis. Er wollte mich sogar mit Frauke verkuppeln, der besten Freundin seiner Ex-Freundin, einer sympathischen Frau, umtriebig, Asta-Aktivistin, aber nicht schön, ganz und gar nicht, und als sie mir noch erklären wollte, dass „Hoch – die – internationale – Solidarität!“ ein super Slogan wäre und ich nur mal meine individuellen DDR-Erfahrungen hinter mir lassen müsste, nahm ich diesen eher kleinen Dissens zum Anlass, die Bekanntschaft nicht zu vertiefen. Auf der Oberflächenebene war es natürlich gut. Wir fuhren zu viert – Michael, seine Ex Maria, Frauke und ich – nach Kuhmühlen zu der berühmten Dorfdisko und tanzten die Nacht durch oder begeistern uns für Monstermagnet, als sie in meiner Lieblingsdisko in Hemelingen auftraten.
Überhaupt nahm mein Bekanntenkreis immer weiter zu, während die Kontakte, die mir wirklich etwas bedeuteten, weniger und weniger wurden. Sören verschwand für einige Wochen in der Psychiatrie, danach wurde es irgendwie nicht mehr so dicht zwischen uns. Hardi kaufte für einen Spottpreis von einigen tausend DM (von denen ich ihm 2 pumpen musste) das Haus seiner Ex-Vermieterin, die ins Altersheim gekommen war, und ging zurück in die alte Heimat. Anja, meine heimlich verehrte Mitbewohnerin, wurde schwanger von einem Süditaliener, zog aus und heiratete. An meinem dreißigsten Geburtstag sah ich mich umgeben von jüngeren fußballbegeisterten Studenten, mit denen mich hauptsächlich die Freude am Bier verband. Einmal geriet ich auch in ein Frauenbett, in das einer Jugendfreundin aus Berlin, die sich zu einer großbusig blonden, aktiven Frau ausgewachsen hatte. Das kam überraschend, es war irgendwie nicht schlecht. Ich sah mir selbst zu, es war wie in einem der „Sexy Clips“, die ich in Samstagnächten zu konsumieren pflegte. Wir vollführten halt Übungen, die uns beiden gut taten und die möglich waren, weil wir von früher her, aus Ostzeiten, noch ein Vertrauensverhältnis zueinander hatten, ohne uns jetzt besonders nahe zu sein.
Als Maria, die wildlockige Schönheit und große Liebe von Michael, auf mich zukam und sich mit mir verabreden wollte, war es schon zu spät. Es gab zwei Abende beim Bier, an denen wir uns nahe kamen, ich sie, ihr großes Herz zu gut erkannte: Zuneigung und Erotik, das ging für mich gar nicht mehr zusammen. Als es bei der drtitten Verbredung auf Sex hinauszulaufen schien, jedenfalls war ihr WG-Mitbewohner nicht da und sie verkündete, heute nicht mehr ausgehen zu wollen – ergriff ich panisch die Flucht. Ab da zeigte ich für niemanden mehr Gefühle. Ich schrieb an meiner Examensarbeit, endlich eine losgelöste, glückliche Zeit. Ich schlief jeden Tag bis zehn, ging dann beim Frühstück meine Notizen durch, danach einkaufen und spazieren, ab sechs abends saß ich am Schreibtisch und schrieb bis zwei Uhr nachts. Wenigstens das mit dem Examen, das klappte gut.

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