Dienstag, 12. März 2019
Bekämpfung der Fluchtursachen
Am Bahnhof gab es die „Welt am Sonntag“ kostenlos. Darin stand, dass Frau Kramp-Karrenbauer gegen einheitliche Sozialstandards in Europa oder gar einen gemeinsamen Mindestlohn ist. Eine viel bessere Idee findet sie einen europäischen Flugzeugträger.

Und was die außereuropäischen Fluchtursachen betrifft, da schlägt vor, die Grenzen für afrikanische Agrarprodukte vollkommen zu öffnen, damit sich die europäischen Privatinvestitionen in Afrika auch wirklich lohnen.

So viel zu europäischen Werten und der Bekämpfung von Fluchtursachen.

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Freitag, 8. März 2019
Fundstück
Zu den Kindespflichten gehört es, ab und an die Eltern zu besuchen, mit ihnen beim Essen oder vor dem Fernseher rumzusitzen und zwischendurch den Haushalt auf Vordermann zu bringen, zumindest ansatzweise, zumindest soweit möglich. Das Schöne daran ist, dass ich beim Aufräumen jedes Mal unweigerlich auf Artefakte stoße, die schlagartig die Gefühlslage von damals wieder aufrufen, als ich hier noch wohnte:



Nicht dass mein Leben damals besser gewesen wäre, es ist nur der Zauber der Jugend und der weite Abstand zu ihr, der diese Gefühle sich so süß anfühlen lässt. Aber dennoch ist es so.

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Sonntag, 24. Februar 2019
„Flughunde“ (Beyer/ Lust) - graphic novel und Politschmonzette
Habe gestern/ heute das nächste Buch von meinem Lesestapel konsumiert. Vorweg das Positive: Das Buch ist wirklich gut gezeichnet, manchmal etwas textlastig, häufig aber doch so, dass in meinem Kopf, Stimmungen, Töne, Bilder (auch über das Gezeichnete hinaus) entstanden – wirklich eindrucksvoll, bewegend. Aber doch nicht geistig anregend, und das liegt eindeutig an der klischeehaften Geschichte. Der mystisch klingende Titel „Flughunde“ führt ganz in die Irre, hier ist nichts mystisch, wir haben es mit dem üblichen Nazikitsch zu tun – der treffendere Titel wäre „Goebbels Kinder oder Der Mitläufer im Führerbunker“.
Da gibt es also einen versponnenen Wissenschaftler, der so versponnen ist, dass er rein gar nichts von der Wirklichkeit um sich herum mitkriegt (über diese Ausreden hat sich schon Billy Wilder in „1,2,3“ lustig gemacht: „Ich hab bei der U-Bahn gearbeitet, ich hab gar nicht gemerkt, was oben los war.“), aber von dem irgendwie mit ihm befreundeten Goebbels vor der Front in ein SS-Menschenversuchs-Projekt gerettet wird (dieser Umstand immerhin scheint mir realistisch), bei dem er mit schweren innerlichen Skrupeln aber doch ziemlich aktiv mitmacht. Irgendwann landet er im Führerbunker und fungiert dort als Stimme des Menschlichen, vor allem für die Goebbels-Kinder, insbesondere die älteste, Helga. Helga und die Kinder müssen natürlich sterben, er aber entkommt, entkommt auch der Bestrafung nach 45, wird alt, erinnert sich, voller Reue.
Das ist nun wirklich der typischste Schuldverdrängungskitsch: Natürlich muss es das Leiden im Führerbunker sein, die Leiden der Zigtausenden in den anderen Bunkern, die machen sich nicht so gut, da haben wir ja das Tragische der Schuld nicht so schön dramatisch. So wollen wir den Mann sehen: als schuldlos in Schuld Geratenen – aber bitte auf der höchsten Führungsebene. Und gibt es etwas Schöneres als Gegenstück zu ihm als eine Frau, die sterben muss? Ja, gibt es: ein pubertierendes Mädchen, eine Frau im Werden. Weshalb wir in der Erzählung aufs Genaueste über Brustwarzen, Schamlippen und Hymen dieses Mädchens informiert werden.
„Und das wiederholt sich doch nochmal auf einer anderen Ebene“, meinte meine Frau, als ich ihr nach dem Zuklappen des Buches berichtete: „Es ist eine geschickte und talentierte Zeichnerin, die die hier die Männergeschichte des männlichen Autors kolportiert.“ War mir gar nicht aufgefallen. Aber so ist es – weshalb ich mir erlaube, diese Rezension nicht unter dem Thema „Rezensionen“, sondern unter „Genderfragen“ abzulegen.

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Mittwoch, 13. Februar 2019
Ich ziehe weiter ... (ein rein privater, egozentrischer Post, immerhin mit vielen Links)
... natürlich nicht aus Bloggersdorf weg, obwohl das andere längst getan haben: stubenzweig und den hinkenden Boten vermiss ich schon sehr, die im Vergleich zu ihnen jüngeren und weiblichen wondergirl und Morphine schreiben ja wenigstens noch andernorts, aber vert und M.A.D. sind nahezu ganz verstummt, während Don Alphonso, der Chef vons Ganze, ja immerhin aus seiner Totenstarre erwacht scheint und immerhin ab und an mal wieder Beiträge schreibt, die an seine frühere Genialität anknüpfen ...
... nein, wirklich nicht von hier weg, aber mal wieder an eine neue Arbeitsstelle. Diesmal ganz risikofrei ohne Verlust von Arbeits-und Tarifvertrag, nur an eine andre Schule und erstmal auch nur mit einer halben Stelle. Aber es ist so schön, einfach zu gehen. An meiner jetzigen Schule rückt die angekündigte Schließung (zwecks Verhökerung des Innenstadtgrundstücks – ich hatte davon berichtet) näher, ich habe mir rechtzeitig eine neue gesucht – und genieße es, neue Leute kennenzulernen, neue Räume (die neue Schule ist ein Musterbeispiel des Neuen Bauens der 1920er Jahre), von außen wenig ansehnlich, aber mit genialen Innenräumen, heute habe ich einen rundum verglasten Besprechungsraum mit Dachterrasse und Blick über den Stadtteil entdeckt!), neue Gepflogenheiten. Am alten Standort wars zuletzt bequemer, nachdem der Stress der Flüchtlingskrise (mit seinen Folgen für meine Bildungsarbeit) abgeebbt ist, am neuen Standort ist es natürlich zuerst mal stressig, ich muss mich reinfinden, viel neu organisieren. Aber das erfrischt. Wahrscheinlich bin ich nirgends zu Hause, und das ist das Schöne am Nirgends-Zu-Hause-Sein: Es wird nie langweilig. Ich verliere Menschen, ich gewinne neue – und immer darf ich lernen. Das ist das Schönste.

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Sonntag, 3. Februar 2019
Interkulturelle Verständigungsschwierigkeiten


Dieses Fundstück aus den sozialen Netzwerken beweist, dass sich die Handys noch zu viel auf ihre Deutschkenntnisse einbilden - und die Deutschen zu viel auf ihre Mobilfunkfertigkeiten.

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Donnerstag, 3. Januar 2019
Glückliche Leseabende in Sicht
Zum Fest bin ich reich mit Lesematerial beschenkt worden, teils hatte ich mir die Sachen gewünscht, teilweise kamen sie unerwartet. Ich freu mich auf alles - wären Sie nicht auch glücklich bei dieser Zusammenstellung?

* Inger-Maria Mahlke: Archipel
* Marina Leky: Was man von hier aus sehen kann
* Harald Meller/ Uli Michel: Die Himmelsscheibe von Nebra
* Ulli Lust/ Marcel Beyer: Flughunde, graphic novel
* Stephen King: Der Outsider
* Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste
* Susanne Röckel: Der Vogelgott
* J. D. Vance: Die Hillbilly-Elegie

Ganz unüblich für mich sind diesmal auch zwei amerikanische Titel dabei, und da ich ja neulich auch "Unschuld" von Jonathan Franzen am Wickel hatte, möchte ich demnächst hier eine USA-Sammelrezension einfügen, wenn ich erst alles gelesen habe.

Nur so viel vorweg: Ich stieß gerade bei Stephan King auf eine Szene, die ich kurz zuvor genau so bei Mariana Leky gelesen hatte: Der Arzt muss den Angehörigen auf dem Krankenhausflur erlären, dass der Patient verstorben ist (wahrscheinlich eine Standard-Szene in Romanen). Also, das war bei Leky um Meilen besser geschildert: zurückhaltend, originell, fast elegant, während King unbeholfen und grob geschnitzt daherkam. Was natürlich nur einen Aspekt betrifft: das Stilistische. Was der jungen Deutschen (jedenfalls im Vergleich mit dem alten Hasen aus USA) an Spannung, an politischem Interesse, ja Durchblick, fehlt, das macht sie locker mit sprachlichem Können wett. Und ich mag beides.

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Montag, 10. Dezember 2018
Ein antisemitischer Vorfall
Es ist schon ein paar Jahre her, es gab da eine neue Berufsschulklasse. In Deutsch ging es erstmal darum auszuprobieren, was die Neuen so können, wie es um die Rechtschreibung, wie um den Wortschatz steht, ob sie sinnvolle Sätze formulieren können und ihren Texten vielleicht sogar intuitiv Anfang und Schluss verpassen. Ich machte das mit Personenbeschreibung, sie konnten sich ein Portraitfoto ihrer Wahl aus dem Internet ziehen zur Beschreibung. Natürlich bekam ich die üblichen schrillen Gestalten zu sehen, Rapper, Glamour-Promis, gruftimäßige Figuren. Am schrillsten aber die Wahl einer wortkargen, blonden, etwas hektischen 18-jährigen mit osteuropäischem Hintergrund: Sie beschrieb das altertümliche Schwarz-weiß-Foto eines älteren Mannes mit langem Bart. Theodor Herzl, wie sich auch Nachfrage herausstellte.

Zwei Wochen später: Dieselbe Schülerin vertraut sich in ihrer Not der Schulsekretärin an, es ging um einen hässlichen Judenwitz-Post (über den Holocaust) in der Klassen-WhatsApp-Gruppe, der sie direkt traf. Die Sekretärin wandte sich zunächst an mich, da die Klassenlehrerin gerade stellvertretende Schulleiterin und eigentliche Organisatorin der ganzen Schule geworden war und ihre Klassenleitung so nebenher laufen ließ. Also organisierte ich eine Gesprächsrunde mit Klassenlehrerin und Klasse. Damit die Betroffene nicht so blöd als Opfer dasteht, hatte ich mir ausgedacht, dass vorab jeder erzählt, was ihm wichtig ist, was ihn verletzen würde, bevor sie dann drankam.

Es stellte sich nicht nur dabei nicht nur heraus, dass der Urheber des blöden Posts sich nicht ansatzweise klar gewesen war über das Hasspotential seines irgendwo aus dem Netz gezogenen Bildchens und auch angesichts von Theodor Herzl nicht geschnallt hatte, dass eine bekennende Jüdin neben ihm in der Klasse sitzt, es stellte sich auch heraus, dass von den 15 Schülern 5 heftige Mobbing-Erfahrungen mitbrachten 3 - 4 weitere familiäre Probleme, bei deren Schilderung mir der Mund offen stehen blieb. Als dann am Ende die Betroffene selbst zu Wort kam, war schon eine derart intime Atmosphäre im Raum entstanden, dass sie gar nicht mehr auf das eigentlich auslösende Problem eingehen wollte – sie schilderte stattdessen ihr persönliches Leiden, nämlich unter ihrem autoritären Vater, ihre Sehnsucht, einfach so, jenseits der Leistung, akzeptiert zu werden.

Was aus der Geschichte noch geworden ist, weiß ich nicht: Zwei Monate später ergab sich für mich eine unerwartete Karrierechance und ich verließ die Schule und damit auch diese Klasse, der ich, ohne es zu wollen, so nah gekommen war.

Was ich mitgenommen habe: die Erkenntnis, dass all die politischen Schlagwörter, der Antisemitismus, die Nation, die Migration oder was auch immer, das allerletzte sind, worum es wirklich geht, hier unten an der Basis, im wirklichen Leben. „Denke global, handele lokal!“ hieß es mal. Vielleicht sollten wir auch wieder mehr lokal reden, statt empörungsgierig Weltprobleme zu verhandeln, nur um von unseren eigenen, echten Problemen abzulenken.

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Samstag, 1. Dezember 2018
So war das, Teil 14
Und mit diesem „nein“, da war es wie im Herbst mit meinem Ja. Ich grübelte danach tagelang, ob das richtig war oder nur Trotz und Enttäuschung. Ich kam zu keinem Ergebnis und schob die Grübelei einfach beiseite. Als ich eine Woche später zwei Tage frei hatte – Ausgleich für den Wochenenddienst – da drängte es mich, irgendwas trieb mich, und um das Gefühl der Unruhe zu bekämpfen, ging ich los. Vor Kerstins Haus blieb ich stehen. Ich zog an der riesigen, verwitterten Haustür – sie war offen. Im Hausflur empfing mich Modergeruch, angenehm kühl und mild. An Kerstins Wohnungstür klebte ein Zettel mit ihrem Selbstportrait, die Klingel funktionierte. Aber sie war nicht da. Ich wartete einige Zeit, dann steckte ich einen Zettel neben dem Portrait in die Türritze und ging wieder. Draußen empfing mich eine Windbö. Die Leere hatte mich wieder und trieb mich durch Merseburg, am Bahnhof vorbei, durch die Altstadtstraßen. Es dauerte nicht lang, und ich stand am Fluss.

Aber auf das „komische Brückchen“ wollte ich nicht, ich bog ab zum Saaleufer. Es gibt einen Fußweg am Deich, den ich mit den Großeltern oft gegangen war. Von Leuna bis hier waren wir manchmal zu Fuß unterwegs gewesen, um dann im „Haus des Handwerks“ einzukehren, wo es Fassbrause gab, Kaffee für die Großeltern und ein Bier für den Großvater. Jetzt nahm ich den umgekehrten Weg. Und Sommer war es auch nicht gerade. Eher das Gegenteil. Ungemütliches Wetter, wenn auch kein Regen. Aber auf die Saale war Verlass. Sie floss wie immer träge in ihrem Bett. Ich ging ihr entgegen, weg von Merseburg, weg von der verschlossenen Tür, vorbei an dürrem Gestrüpp, dicken Rohren der Fernwärmeleitung, kahlem Brachland und nutzlosen Weidezäunen. Früher hatten hier Kühe gestanden, und die Mutprobe hatte für uns Kinder darin bestanden, den Elektrozaun anzufassen. Jetzt waren hier keine Tiere mehr zu sehen. Aber es war nicht trostlos, es war nur vorbei. Und so, wie ich damals mit den Großeltern nach Merseburg aufgebrochen war, voll Vorfreude auf das Schloss, auf den Raben und die Fassbrause, so ging ich jetzt zurück, nur dass ich nicht wusste, wohin. Ich folgte einfach dem vertrauten Pfad. Solange die Saale neben mir gurgelte, war alles gut.

Irgendwann rückte die Bebauung aus dem Hintergrund näher an den Weg, und dann war ich auch schon in Leuna. Ich ging die zwei Straßen vom Uferweg hinauf zu dem Haus, in dem immer noch meine Mutter wohnte. Ich sah hoch zu ihrem Küchenfenster, dann ging ich weiter zur Straßenbahnhaltestelle und fuhr nach Halle zum Bahnhof. Ich nahm den nächsten Zug nach Berlin.

Zwei Tage später war ich zurück, und die Sache war klar. Ich kündigte die Wohnung und den Arbeitsplatz, noch bevor ich mit irgendwem geredet hatte. Erik war schockiert, als er von meinen Plänen hörte. „Ich versteh das nicht“, meinte er, „du lernst in der Disko eine Frau kennen und beschließt ein paar Tage später, alles aufzugeben und zu ihr zu ziehen.“ - „Ja, sie stand neben mir an der Theke und sagte, du bist bestimmt schwul, aber sprech dich jetzt mal trotzdem an. Ich hab sie angesehen, und da wusste ich, dass sie die Richtige ist.“ So kitschig hab ich das Erik gesagt, und deshalb hat er mir vermutlich nicht geglaubt. In Wahrheit hab ich ihre alberne Punkfrisur im ersten Moment da im Kneipenschummerlicht auch überhaupt nicht gemocht. Ich war einfach nur haltlos. Und ich mochte die Art, wie sie mich in ihr Bett – nein, nicht zerrte, sondern freundlich einlud, und ich verstand sehr bald, warum es mit Kerstin nichts werden konnte.

Margit hatte Zeit, sie war neugierig, vorurteilsfrei. Wir lagen in einem riesigen Bett in einem leeren Zimmer, dahinter eine Reihe von Sälen, mit Stuckdecken und Doppelfenstern, so schien es mir. Vor diesen Fenstern, von denen die Farbe bröckelte, Straßenbäume und entfernte Geräusche der Stadt. Die Straße vorm Haus leer, wir beide allein mit uns und unseren weißen, nackten Körpern. Die DDR: vergessen, das Leben: möglich.

So war das Jahr 1989, so war es für viele: ein überraschendes Jahr. Für mich trägt es den Namen von Margit, auch wenn sie damals nicht so genannt werden wollte. Ich erfuhr, dass die Welt größer ist als Merseburg, und dass groß nicht grausam bedeutet. Wir nahmen uns die Freiheit zu sehen, was kommt. Natürlich hatten wir Angst, Margit hatte sich ein Visum für Ungarn besorgt für den Sommer, für alle Fälle. Aber sie nutzte es nicht. Sie saß mit mir in Cafés und wir fuhren in alle die Provinzstädte, nach Bautzen, nach Tangermünde, nach Stralsund an die Ostsee, natürlich auch nach Merseburg und Leuna, als wollten wir uns alles noch einmal ansehen. Aber meistens waren wir in Berlin unterwegs. Was um uns herum passierte, die Foren, die sich gründeten, die Künstler, die auftraten, und die Diskussionen, die alles begleitete, das nahmen wir hin wie ein Fest, auf das wir aus Versehen geraten waren.

Ganz nach Berlin gezogen bin ich erst im Herbst. Und dann kamen andere Zeiten. Ein Studium. Eine Familie. Und natürlich irgendwann eine süddeutsche Großstadt, denn da gibt es die Jobs.

Knut oder Kerstin hab ich nicht wieder getroffen. Nur Johanna ruft manchmal noch an. Sie lebt mit Erik in Dresden. Und sie meint, dass Knut doch ein IM gewesen sein muss, anders könne sie sich das nicht erklären, dass er 1989 so spurlos verschwand und nie wieder auftauchte. Und neulich kam sie mir sogar mit der Nachricht, Kerstin solle jetzt mit einer Frau zusammenleben. So genau will ich das alles gar nicht wissen. Es lag nicht an Kerstin, es lag nicht an Knut. Vielleicht lag es an Merseburg.

Wenn ich, selten genug, nach Leuna fahre, dann steige ich dort nicht aus, ich seh nicht mal aus dem Straßenbahnfenster. Und spätestens, wenn ich am Leunator und am „Heiteren Blick“ vorbeikomme, dann freue ich mich einfach, dass die Stadt und die Zeit so weit hinter mir liegen und dass ich irgendwie aus ihr herausgefunden habe.

So war das.

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Freitag, 30. November 2018
So war das, Teil 13
Danach ging jeder seiner Wege. An meinen freien Tagen besuchte ich meinen Cousin in Gera. Ich klapperte ein paar Pflegeheime ab. Bei Onkel und Tante in einem Dachkämmerchen würde ich erstmal wohnen dürfen. Aber es war nicht das Richtige. Obwohl mir einer der Chefs Hoffnung machte. In Gera lag Vorfrühlingsduft in der Luft, es war noch kalt, und eine so schwächliche wie intensive Sonne kitzelte mir die Nase. Bald würde alles aufwachen. Ich konnte jetzt in kein Dachkämmerchen ziehen, in keine Provinzstadt.

Einmal sprach ich mit Erik über die Stimmung im Land, die Atmosphäre der Veränderungen, die immer deutlicher wurde. Man merkte es an der Zahl der Menschen, auch unseres Alters, die die DDR nach Westen verließen, es gab jetzt immer öfter genehmigte Ausreisen, es gab Scheinehen mit Westlern, zunehmend auch genehmigte Besuchsreisen, von denen die glücklich Entflohenen nicht zurückkamen. Wir konnten die Leute verstehen, einerseits. Aber wir fühlten uns auch übertölpelt, abgehängt. „Eigentlich müsste man auch gehen.“, meinte Erik. Ich gab ihm Recht. Wenn ich nur gewusst hätte, wohin. Denn hier war mein Zuhause.

Aber dieses Zuhause gehörte mir nicht mehr. Das verstand ich, als ich Kerstin wiedertraf, beim Tiefen-Keller-Festival. Ich fand das ganze Fest albern. Die Denkmalpfleger hatten die mittelalterlichen Keller unter Merseburg für sich entdeckt, und jetzt machten sie ein Event daraus, ein gewollt lockeres Frühlingsfest mit Imbiss- und Infoständen. Man verteilte Flyer sowie eine Broschüre der Stadtverwaltung, beide verziert mit einer flott skizzierten Karikatur vorne drauf, auf der ein ungelenker Mensch in ein Kellerloch fällt. Ich fand das nicht witzig.

Natürlich wusste ich von den tiefen Kellern. Mein Großvater hatte darin gehockt, als die Bomben fielen. Und jetzt wurde das zum Event-Ort, jeder wollte nach unten kriechen in die alten Gewölbe. Irgendwie musste man da hingehen. Die DDR tat auf einmal, als ob sie lebte, und nun eroberte sie Merseburg. Es war, als nähmen sie es mir.

Am Eingang traf ich unter den Massen auf Kerstin. „Mario!“, rief sie. Ich reihte mich ein. Und ich ging mit ihr zusammen durch die Gewölbe. Sie fand das alles spannend, guckte sich alles an. Erzählte von ihrer Wohnung, von neuen Freunden. Ich wusste nichts dazu zu sagen. Als wir wieder draußen waren, der Moment des Abschieds da war, meinte sie: „Lass uns noch einen Kaffee trinken!“ Ich sagte nein.

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Donnerstag, 29. November 2018
So war das, Teil 12
Danach sahen wir uns erstmal nicht mehr. Dass ich nicht mehr bei der Wohnung helfe, teilte ich ihr schriftlich mit, auf einem ebensolchen Zettel, wie sie sie zu verteilen pflegte. Zeichnen konnte ich zwar nicht, aber die richtigen Worte zu finden, das gelang mir immer ganz gut, und hier waren kalte Worte die richtigen.

Ich hörte dann, dass andere ihr halfen mit der Wohnung. Es gab auch eine Einweihungsparty. Johanna und Erik gingen hin. Auch ich hatte ein Zettelchen mit so einer Kerstin-Kritzelei erhalten. Ich sah es mir lange an, es war schon genial, wie sie in wenigen schwarzen Federstrichen auf einem winzigen Papier eine zauberhafte Atmosphäre entstehen lassen konnte, die Idee einer Kerstin im Aufbruch, an der Schwelle eines selbstbestimmten Lebens. Eine Idee, von der ich glaubte, sie stimmt nicht.

Kerstin war nicht die einzige, die dieser Idee anhing im Frühjahr 1989. Erik engagierte sich neuerdings an der Uni, es ging um die Legalisierung von Schwarzwohnungen. Den Parteichef der Uni habe er schon auf seiner Seite, erzählte er mir stolz. „Und die Baupolizei kriegen wir auch noch überzeugt!“ Alle paar Tage saß nun eine Gruppe von Studenten bei uns in der Wohnung, außer Erik allesamt Schwarzwohner. Natürlich auch Johanna und Kerstin. Sie stellten eine Liste leer stehender Wohnungen zusammen, die Studenten zur Verfügung gestellt werden könnten – im Wesentlichen handelte es sich um die Wohnungen, in denen sie selbst illegal schon wohnten. Aber sie suchten noch weitere. So jedenfalls erzählte mir es Johanna, denn ich nahm an den Treffen nicht teil. Wenn die Leute kamen, verließ ich die Wohnung. Johanna war stolz, dass alle es wagten, ihre Schwarzwohnungsadressen preiszugeben: „Es sind wirkliche Verhandlungen, Mario,“ sagte sie, „und es geht um wirkliche Dinge. Nicht so ein Blödsinn wie der Friedenskreis. Und du musst nicht weggehen, wenn wir uns treffen in deiner Wohnung. Du gehörst zu uns.“

Und dann fuhr Kerstin überraschend nach Berlin. Auch das verriet Johanna mir. Und sie hatte Recht damit: Es war mir nicht egal. Ich spürte das in der Magengrube. Aber ich sagte nichts.

Als Kerstin aus Berlin zurückkam, kam sie zuerst zu mir. Jedenfalls klingelte sie an unserer Tür zur Abendbrotszeit. „Erik ist nicht da.“ sagte ich zur Begrüßung. „Ich weiß“, antwortete sie. „Lässt du mich trotzdem rein?“ Wir aßen Butterbemmen, ich hatte eine Flasche Wein dazugestellt. „Nur einen Tee, bitte.“, sagte Kerstin. – „Meinetwegen.“, erwiderte ich, „Wie wars in Berlin?“ – „Ganz okay. Knut geht’s gut. Aber was er eigentlich macht, weiß ich gar nicht.“ – „Und du?“ – „Ja, was soll ich sagen? Du weißt, dass Knut alle Frauen rumkriegt. Und das macht er gut. War ganz in Ordnung. Es ist erledigt.“ Ich sagte gar nichts. So direkt hatte ich das gar nicht gemeint, aber so direkt hat sie geantwortet. Wir saßen dann noch eine Weile zusammen und redeten über andere Sachen, und es war angenehm, so wie es mit Kerstin immer angenehm war, wenn sie mal nicht schwieg. Auch an die Inhalte von diesem Gespräch kann ich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich nur, wie es aussah: Kerstins Hose, ein rötlich-graues Pfeffer-und-Salz-Muster, die Teetassen mit dem längst kalt gewordenem, süßen Tee, die schwarze Haarsträhne über ihren graugrünen Augen. Und ich erinnere mich an unsere Abschiedsumarmung, die gut war, vertraut, leidenschaftslos. Ja, es war erledigt.

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