Freitag, 22. Dezember 2017
Wer fegt die Treppen?
Ich habe jetzt bewusst nicht nachgegoogelt, um rauszubekommen, woher der Brauch stammt, dass junge, unverheiratete Männer die Rathaus- oder Kirchtreppen fegen müssen, sobald sie dreißig Jahre alt werden (man macht das in Norddeutschland halt so) – sondern ich verfahre nach der wissenschaftlichen Methode, die der Volksmund den Soziologen nachsagt: Ich kombiniere zwei Fallbeispiele und konstruiere daraus einen gesellschaftlich relevanten Zusammenhang:
Also:
Auch ich kam an meinem 30. Geburtstag nicht drumrum und das beiliegende Foto mit sein Unschärfen , Kratzern und Fusseln und mit dem Schnapsglas, das zeigt deutlich, dass ich mich da grad am tiefsten Punkt meiner persönlichen Laufbahn befand. (Danach kam glücklicherweise die Katastrophe namens Referendariat, die mich so durchschüttelte, dass ich wieder ins Leben fand.)
An dieses Ereignis musste ich denken, als ich dieser Tage am Rathaus Altona vorbeikam und es mal wieder aussah wie Sau.
Denn es gibt da noch einen anderen Brauch auf den Rathaustreppen: Frisch verheiratete Paare werden mit Reis oder noch besser mit eigens dazu vorgefertigten Konfettis (denn der bewusste Bürger nutzt natürlich möglichst industriell hergestellte Produkte, um das Bruttosozialprodukt zu stärken) überschüttet, danach feiert man irgndwo teuer und fegen tut natürlich keiner.
Also, ich finde, nicht die Singles sollten fegen, sondern, die den Müll da hinschütten.

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Montag, 27. November 2017
Psychosomatisches Erlebnis
Heute Morgen musste ich einen Schüler im Praktikum besuchen, Abschlussgespräch, und radelte die Luruper Hauptstraße runter. Auf einmal fiel mir etwas ein, etwas Scheußliches, Widerliches, das irgendwie mit meinem Traum von dieser Nacht (an den ich mich nicht erinnern kann) zu tun hatte und mit dieser Straße – oder einer ähnlichen Straße, mehr in Richtung Eppendorf. Und zwar kein wirkliches Erlebnis, sondern etwas Geistiges: ein Traum, eine Gedanke, eine Entscheidung oder so. Ich versuchte mich zu erinnern, da überkam es mich: Mir wurde schlecht, ich musste anhalten und würgte und hustete, Tränen traten mir in die Augen – und nach einer halben Minute war es vorbei, und ich stand da, desorientiert und mit einem Gefühl der Enttäuschung, da ich mich doch nicht übergeben hatte und das namenlose Schlechte somit nicht los war. Zehn Minuten später vor dem Schüler wusste ich das Datum nicht, auch nicht, wann nun der letzte Praktikumstag ist (Zahlen verschwinden aus meinem Gehirn immer zuerst, wenn es mit dem Vergessen losgeht). Ich habe einigermaßen rumgestottert, entschuldigte mich wahrheitsgemäß damit, eben Stress gehabt zu haben.
Dies nur als Notiz, da mir so etwas noch nie passiert ist – und man ja im Alltag meist geneigt ist, psychischen Prozessen die konkrete körperliche Relevanz abzusprechen. Ich jedenfalls will mich bemühen, dieses Erlebnis in mir zu behalten und das Schlechte, wenn ich es mit dem Bewusstsein nicht zu fassen kriege, irgendwie anders zu bannen.

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Montag, 13. November 2017
Nachwirkungen patriarchaler Leidenschaft im Feminismus der Gegenwart
Als meine Eltern sehr jung waren in den 50er Jahren, hörten sie gern die scharfe Stimme von Ernst Busch, und das waren wahrscheinlich die allerletzten Jahre, in denen man sich noch ehrlich für den Machismo der Arbeiterbewegung begeistern konnte. Als etwa der Altkommunist Theo Balden in den 1980er Jahren allen Ernstes noch ein Denkmal namens „Herz und Flamme der Revolution“ gestalten sollte, versuchte er sich mit etwas weich Wallendem aus der Affäre zu ziehen. Die alte Macho-Leidenschaft, die ging einfach nicht mehr.
Dass es aber in der Geschichte nicht immer nur vorwärts, sondern manchmal auch rückwärts geht, zeigte sich mir, als ich heute in der Schanzenstraße (neben einem sich zärtlich liebkosenden Pennerpärchen) dieses Plakat entdeckte:

Interessant fand ich, dass die Autoren die Redewendung „Feuer und Flamme sein“ benutzen, ohne zu merken, dass diese sprachlich schon so verschlissen ist, dass sie nur noch für gänzlich unglaubwürdige Werbekampagnen (Olympia in Hamburg) oder einfach nur ironisch gebraucht wird:

Auch kennen die Autoren die Redewendung selbst gar nicht mehr, sonst wüssten sie, dass man nur Feuer und Flamme für etwas sein kann, nicht dagegen.
Ein paar Straßen in der Gaußstraße weiter fand ich folgendes Bild gegen den Müllcontainer gelehnt:

Das hat ja wenigstens noch Witz, indem es ein berühmtes altes Arbeiterheldenbild mit weiblichem Personal nachstellt
- illustriert damit aber ein Kernproblem des Feminismus: Ein Feminismus, der weibliche Gleichberechtigung mit der Nachahmung männlichen Machogehabes, männlichen Gerangels um Macht und Posten verwechselt, der ist den Namen nicht wert. Die jungen Kreativen, die da in der Gaußstraße ansässig sind, haben das Bild zu Recht auf den Müll geworfen.
Täusch ich mich oder war der Feminismus damals in den 90er Jahren schonmal weiter: basisdemokratischer, freier, menschlicher?

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Mittwoch, 25. Oktober 2017
Noch ein Nachtrag zu G20
"Zeugen gesucht" las ich in St. Pauli an einem Baum. Normalerweise geht es bei solchen Zetteln um geklaute Mopeds oder eingedellte Kotflügel. Hier aber Folgendes:

"... am 7.7. im Rahmen des G20-Gipfels ... Unbekannte errichteten 2 Barrikaden und zündeten sie an ... Polizei und Feuerwehr trafen ein, unternahmen aber nichts. Daraufhin versuchten Anwohner die Brände zu löschen ... nach einigen Minuten tauchten die Polizisten wieder auf und griffen die Anwohner an. Ich erlitt einen Kniescheibenbruch ... Wer hat das gesehen oder mit dem Handy gefilmt?"
So, und nun denke sich jeder seinen Teil.

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Mittwoch, 18. Oktober 2017
Aus meinem Sozialarbeiterleben: alle Erfahrungen und Gedanken durcheinander
Seit einiger Zeit unterrichte ich wieder Ausländer, und zwar jugendliche Flüchtlinge. Alle Flüchtlinge unter 18 Jahre unterliegen bei uns der Schulpflicht, das Ziel ist ein Schulabschluss – sowie der Übergang in eine Lehre. Von meinen Gedanken und Erfahrungen dabei berichte ich hier erstmal spontan durcheinander – vielleicht mach ich später etwas Sinnvolles daraus.
Am Anfang war es ganz schön chaotisch, und zwar anstrengend chaotisch. Nicht wie in den Integrationskursen, in denen ich auch schon gearbeitet hab, wo das Durcheinander, das die Teilnehmer in den Unterricht trugen, oft auch ein fröhliches war. Hier nicht: Direktheit ja, Herzlichkeit nein. Sie waren alle ganz schön egoistisch und es dauerte lange, bis so eine Truppe zueinander fand. Es gab Tumulte, Aggressionen, Schreierei (auch von mir, wenn es mir reichte), auch Prügeleien: Einmal hatte ein Kollege seiner Klasse einen Ball geschenkt, und ein Migrantischer unter den „normalen“ Berufsschülern hetzte meine Jungs auf, um diesen Ball zu kämpfen. Einmal war der Anlass, dass eine Klasse aus organisatorischen Gründen von einem Schulstandort zu einem andern verschoben wurde. Dann wieder kam ein neuer Schüler in die Klasse, der die Hackordnung in Frage stellte, und schon flogen wieder die Fäuste. Für mich unkörperlichen Deutschen war es eine gute Erfahrung, dass man als Lehrer dazwischengehen kann, dass man sie trennen kann (und übrigens, bei einer Kollegin mit ihrem Frauenkörper funktionierte das noch besser). Von wegen offenes Lernen und differenzierte Angebote – nur indem monatelang das Gleiche passierte, wuchs ganz allmählich das Vertrauen, in dessen Folge sich die ersten Lernerfolge einstellten.
Ich erinnere mich an einen Schüler, der offenkundig psychiatrisch auffällig war. Aber was sollte ich tun? Der psychologische Dienst der Schulbehörde erklärte sich für nicht zuständig für Flüchtlinge, der kommunale sozialpsychiatrische Dienst erklärte ihn für schulfähig, der Psychologe der Berufsschulbehörde (der in anderen Fällen schon schnell und unbürokratisch geholfen hatte) sah in ihm nur ein armes, nach komplizierter Fluchtgeschichte desorientiertes Würstchen – was sicher richtig war, aber nicht den Kern des Problems betraf. Dieser Schüler, nennen wir ihn X., war nicht in der Lage zu lernen oder konzentriert geistig zu arbeiten, den ausbleibenden Lernerfolg kompensierte er durch regelmäßige Ausraster, er schrie, drohte und prügelte, hatte auch Wahnvorstellungen und 15 Minuten später tat es ihm regelmäßig entsetzlich leid, alle Lehrerinnen hatten Angst vor ihm – außer einer toughen Polin, die ihm mannhaft entgegentrat, so dass er in seiner Wut eben das eigene Handy zu Boden schmetterte und zerstörte … Dieser Schüler hatte übrigens den Luxus einer engagierten Betreuerin, einer Rechtsanwältin, die zu berichten wusste, dass er auch daheim in Afghanistan aus Verhaltensgründen keine Schule hatte besuchen können. Wir wurden ihn los, indem der Schulleiter ihn durch Tricks der Schule verwies. Damit war der Schule geholfen, nicht aber diesem Menschen, der unter seiner psychischen Krankheit umso mehr litt, als er sie nicht unter Kontrolle hatte.
Geradezu das Gegenbeispiel ist Y., ein hübsches, immer adrett geschminktes Mädchen aus demselben Afghanistan, an dem eine Kollegin ganz richtig beobachtete: „Jede Woche rutscht das Kopftuch einen Zentimeter weiter nach unten, und mit jedem Zentimeter lernt sie schneller.“ Inzwischen trägt sie das Tuch nur noch zum Ramadan und ist unsere Vorzeigeschülerin, mit soliden Lernerfolgen und wachsender Selbstständigkeit, so dass jeder sicher ist, dass das in einem sicheren Ausbildungsplatz endet. Y. hat übrigens (ich weiß nicht, woher, vielleicht aufgrund ihrer geistig behinderten kleinen Schwester oder aufgrund ihres Halbwaisenstaus) schon ein Ausweispapier über 3 Jahre Aufenthalt, und ich bin sicher, ohne dieses Papier sähe das auch mit ihrer Lernentwicklung ganz anders aus.
Man sieht daran auch, dass das Kopftuch weniger ein Zeichen ist – es wird nur von uns Deutschen als Zeichen wahrgenommen (Y. trug es doch, weil das so üblich war, und sie lässt es jetzt weg, weil es hier so üblich ist). Die Vorstellung von der Ideologie der Kopftuchmädchen ist ja ebenso eine voruteilende wie die von der Übergriffigkeit der arabischen Jungen. Einer von denen begann ein Praktikum im Kindergarten, er küsste die Kinder und flog sofort raus. Als einen Tag später in einem anderen Kindergarten ein afghanisches Mädchen aus meiner Klasse ebenfalls die Kinder küsste, wurde sie zur Chefin bestellt, ermahnt, und es gab nie wieder Probleme.
Ach ja, den frei gewordenen Platz im Kindergarten konnte ich schnell füllen, da ein Mädchen aus meiner Klasse (muslimische Afrikanerin) ebenfalls aus dem Praktikum geflogen war, bei einer Boutique im Szene-Viertel Schanze. Da wurde übrigens auch das Kopftuch als Argument angegeben, außerdem sei sie frech geworden. Nach dem Abgleich der sich widersprechenden Aussagen von Chefin und Praktikantin glaube ich, es lag daran, dass im Szene-Laden Praktikanten zwar vorurteilsfrei angenommen werden, aber da wird hart malocht, und wer da das Tempo nicht bringt … Im evangelischen Kindergarten ist man dagegen trotz Kopftuch ganz begeistert von meiner Schülerin, denn das geht es nicht um Schnelligkeit und Gehorsam, sondern im Gegenteil um Selbstständigkeit und Verantwortungsgefühl.
Letztes Beispiel N., dem gegenüber ich etwas negativ eingestellt war, da er schwänzte und, wenn er da war, nur störte. Darauf angesprochen hieß es immer nur radebrechend, er habe „Probleme“ und Angst vor der Abschiebung. Ich gab nicht viel darauf, denn das haben all meine andern afghanischen Jungs auch – und kommen trotzdem irgendwie voran. Als es gar nicht mehr ging, bat den den besagten Psychologen um Hilfe, und der brachte heraus, dass N. tatsächlich schon den Abschiebebescheid vorliegen hat (während seine Klassenkameraden die Duldung haben, bis dann eines Tages in ferner Zukunft entschieden wird)– kein Wunder, dass da nicht mehr an Lernen zu denken ist. N. war jahrelang auf der Flucht, darunter mehrere Jahre in der Türkei, und auch wenn er sicher älter als die behaupteten 18 Jahre ist, so muss er doch als halbes Kind zu Hause los sein. Jedenfalls fallen seine Heimatsehnsucht, seine altersuntypische Kindlichkeit, seine Depressivität auch mir Laien auf. Den Praktikumsplatz beim Malermeister hat er jedenfalls verspielt durch Untätigkeit, jetzt macht er sein Praktikum beim Döner-Mann. Kollegen waren entsetzt, weil daraus ja keine Berufsperspektive erwachsen kann. Ich fand es besser als nichts. Und jetzt stellt sich heraus, dass der Chef ganz begeistert ist und ihn sogar fest einstellen würde – denn N. kann türkisch und und hat eine freundliche, kundenfreundliche Art. Ein Kollege meinte, das sei sicher ein ausbeuterischer Job. Ich halte das auch für wahrscheinlich. Aber angesichts der drohenden Abschiebung und der Unmöglichkeit, bei seinem Schulfrust je irgendeinen Abschluss zu erreichen – wäre es da nicht besser, er würde, bevor er höchstwahrscheinlich wieder zurückmuss, noch einige Zeit Geld verdienen und nach Hause schicken können?
Vielleicht ist das ein Denkfehler im System: Das Schulsystem für jugendliche Flüchtlinge orientiert sich an dem für gescheiterte deutsche Jugendliche, die nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle bekommen haben und noch ein Jahr Schulpflicht bei uns abreißen müssen. Bei diesen Leuten, die alle schon schlechte Erfahrungen mit Schule gemacht haben, da muss man natürlich ganz vorsichtig sein mit Strenge und Sanktionen – und sie stattdessen irgendwie verlocken, sich ins Ausbildungs- und Berufsleben zu begeben. Bei den Flüchtlingen, die neu nach Deutschland kommen, bringt Nachsichtigkeit nichts: Sie kommen ja und beobachten erstmal, wie Regeln hier gehandhabt werden. Und wenn das lax ist, dann nehmen sie es halt auch lax. Und was den schnellen Übergang in die Berufswelt betrifft, da ist, finde ich, niemanden mit einer Lehrstelle geholfen, wenn er nicht ausreichend Deutsch kann, um die Berufsschule zu bewältigen. Und erstmal müssen sie emotional wieder Boden unter den Füßen bekommen (so wie Y.), dann sind auch individuelle, schnelle Wege möglich. Vorher braucht es Gemeinschaft, Regeln, Regelmäßigkeit.
Mal zusammengefasst, was ich für wichtig halte:
- klare Regeln, Regelmäßigkeit, sicheres Aufgehobensein in einer Klassengruppe
- sichere Aufenthaltsverhältnisse: schnell abschieben oder sicher hier behalten
- zivile Wohnverhältnisse außerhalb von Lagern oder Camps, wie sie sie von ihrer Flucht kennen.
Ich wage nämlich zu behaupten, dass die meisten dieser Jugendlichen traumatisiert sind, und zwar nicht (oder nicht nur) durch die Verhältnisse in ihrem Herkunftsland, sondern vor allem durch die Erlebnisse während ihrer Flucht. Integration kann erst beginnen, wenn sie begreifen und fühlen, dass sie nicht mehr auf der Flucht sind, dass man sich nicht mehr brutal egoistisch durchbeißen muss, sondern dass es sich individuell lohnt, sich in eine neue Gemeinschaft einzufügen.

Nachtrag im Januar 18 (schön, dass es so ein Blog gibt, wo niemand mitliest, der näher damit zu tun hat, so dass ich Ideen einfach so ins Unreine aussprechen kann): Grundsätzlich müsste es so laufen mit den jugendlichen Flüchtlingen: zuerst ein halbes oder ein dreiviertel Jahr nur Deutschunterricht intensiv, so dass auch die schwächeren Schüler genügend Deutsch können, um sich in deutschen Sprachzusammenhängen orientieren zu können (natürlich gehört dazu auch ein bisschen Alltagswissen über Deutschland, aber das versteht sich von selbst, das lässt jeder einigermaßen verantwortliche Deutschlehrer auch so einfließen). Dann Arbeit, ein Langzeitpraktikum oder so - wobei die Auszahlung symbolischer Geldzahlungen sicher auch gut wäre - mindestens ein halbes Jahr und in einem Milieu, in dem möglichst die meisten (und auf jeden Fall alle Chefs) Deutsch sprechen, sodass jeder begreift, warum Schulbildung (Mathe, Schrifltichkeit, EDV inkl. Mail und Excel, Englisch, Unterscheidung deutscher Umgangs-, Höflichkeits- und Fachsprache usw.) notwendig ist und selbst entscheiden kann, ob ob er das will bzw. kann oder ob ihm Hilfsarbeitertätigkeiten ausreichen (müssen). In der Zwischenzeit wäre dann ja auch so viel Zeit ins Land geflossen, dass über den Aufenthaltsstatus etwas mehr Klarheit besteht (um nochmal an den wichtigsten Lernhinderungsgrund zu erinnern). Und dann die Möglichkeit, einen Schulabschluss nachzuholen, auch mit über 18 Jahren - um dann über eine Ausbildung ins normale System zu gelangen.
Also der Grundsatz: Schul- und Berufsausbildung getrennt statt gleichzeitig. Beides ist nötig und braucht sein Gewicht, seine Zeit.

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Sonntag, 8. Oktober 2017
Gedanken über ein Foto (das ich aus Datenschutzgründen hier nicht zeigen kann)
Es ist ein Foto von einer Lesung. J. schreibt nämlich Gedichte, drei Bände hat sie schon veröffentlicht, ohne nennenswerten kommerziellen Erfolg. Neulich trat sie mal wieder in einer kleinen Berliner Buchhandlung auf. Ein Musiker spielte Rockklassiker, und J. las.
Auf dem Foto sieht sie auf den ersten Blick unsympathisch aus, so eine richtige Berliner Szene-Zicke. Macht das der strubbelige, blondierte Kurzhaarschnitt, der gouvernantenhafte Blick von oben herab oder die harte, steife Haltung?
Als ich mich mit meinen Fragen so weit vorgetastet habe, ändert sich mein Blick. Die Haltung ist nämlich schon besonders: so kerzengerade, diszipliniert, die strenge schwarze Kleidung betont das noch. Wie anstrengend muss das sein! Sie hält ihr Buch vor sich, sie hält es fest, aber der Wald von Post-its, der aus den Seiten lugt wie die vorwitzigen Haarspitzen, die auf ihrem Kopf den strengen Schnitt ad absurdum führen, sie zeigen, dass hier gar nichts fest ist. Sie hält es nur mühsam aufrecht.
In ihrem Gesicht erkenne ich zuerst die lange, schmale Nase wieder, die damals, in ihrer Jugend, als ihr Markenzeichen galt – Verehrer begeisterten sich für ihr griechisches Profil. Jetzt wirkt die Nase immer noch edel, aber schmaler und sehr fein. J. wurde beim Rezitieren fotografiert, der Mund ist halb geöffnet, die Lippen, beim Artikulieren ertappt, wirken unsicher, fast zitterig, und die Augen, unter hohen, rund gezogenen Augenbrauen und schweren blauen Augenlidern blicken verachtungsvoll auf den Fotografen: Was wisst ihr schon von meinem Elend?
Natürlich wissen wir es nicht, wir ahnen nur, was du verschweigst, und reagieren mit instinktiver Ablehnung. Würdest du doch nur mal den falschen Stolz, dieses blöde Haltungbewahren ablegen! Es wäre sicher alles halb so schlimm, und du könnest wieder geistreich und lebendig sein wie früher. Denn das geht auch mit Elend.

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Donnerstag, 21. September 2017
Konservatives Bekenntnis
Das Schulgebäude, in dem ich arbeite, will die Stadt seit Längerem loswerden – aus ökonomischer Warte verständlich: Sicherlich übersteigt der finanzielle Wert des Innenstadtgrundstücks den Gebrauchswert als stinknormale Berufsschule bei weitem.
Als Erstes hat man die Schule zur Filiale einer größeren Berufsschule degradiert, die etwas weiter draußen liegt, an einer lauten Ausfallstraße. Das ist ein riesengroßer Neubaukomplex der Marke „hell - modern – unübersichtlich – anonym“. Dort soll ein weiteres Gebäude entstehen, das unsere Schule aufnehmen soll. Aber irgendwie stocken die Baumaßnahmen seit Jahren.
Ich argwöhne, dass das auch damit zusammenhängt, dass die Stadt unsere Schule nicht verkauft kriegt, denn die steht dummerweise unter Denkmalschutz, da sie von einem regional berühmten Architekten errichtet wurde. Das Haus besticht zwar nicht durch besondere Schönheit, wohl aber durch menschenfreundliche Proportionen, und in den Pausen sitzen die Schüler auf wunderschönen, grün gekachelten Brunnenrändern (die allerdings seit Ewigkeiten versiegt sind). So ein Gebäude kauft natürlich niemand.
Immerhin konnte die Stadt das zum Haus gehörige Brachland verscherbeln, das bisher den Lehrerparkplatz beherbergte. (Da so ein Lehrerparkplatz natürlich nie wegfallen darf - Bestandsschutz! - wurde der bisherige Schulhof umgewidmet und von einer Fachfirma professionell befestigt, während bisher ein Flecken leerer Erdboden zwischen Gras und Gestrüpp ausgereicht hatte.) Nach den Sommerferien stand da ein Werbeschild, und jetzt ist schon die Baugrube ausgehoben, und es wird fleißig in die Tiefe gerammt, dass die Klassenräume erzittern.

Da staunt man, wie schnell Bauvorhaben so vonstattengehen können, wenn das Geld stimmt. Ganz offensichtlich hat sich der Senat ernsthaft vorgenommen, die Wohnungsnot der oberen Zehntausend zu beseitigen – „Wachsende Stadt“ nannte das der vorige (CDU-)Bürgermeister und meinte damit „Wachsender Reichtum der sowieso schon Reichen“. Und der jetzige SPD-Bürgermeister führt diese Politik fort, wobei er – nach klassischer SPD-Tradition – den gleichzeitigen Bau günstigen Wohnraums antäuscht, ohne ihn nennenswert durchzuführen.
Angesichts solcher Entwicklungen wird man skeptisch gegenüber jeglichen Neuerungen. Daher wähle ich diesmal wertkonservativ, also links.

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Sonntag, 10. September 2017
Abends in der Stadt
Vor ein paar Tagen telefonierte ich mit einem Freund. Ich, Bewohner einer westdeutschen Großstadt, kam gerade vom Sport und meinte: "Es ist ja ein Ding, wie gerammelt voll die Straßencafés abends um neun noch sind, wie viele Leute mitten in der Woche um diese Zeit noch die Zeit und das Geld haben, überteuerte Geränke zu sich zu nehmen." - Er, Bewohner einer ostdeutschen Kleinstadt, erwiderte: "Ich komm oft um diese Zeit erst von der Arbeit. Nur Ausländer auf der Straße. Bedrückend." Und dann wechselte er das Thema, wohl wissend, dass ich nicht Ausländer bedrückend finde, nur die Verhältnisse, die sie durch ihr Erscheinen umso sichtbarer machen.
Irgendein berühmter Mensch hat mal gesagt, die Kultur eines Landes bemesse sich an der Kultur ihrer Kleinstädte.

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Mittwoch, 30. August 2017
Klare Worte
Die Bundeskanzlerin bringt es auf den Punkt: "Die Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Afrika kommen, müssen in ihre Heimatländer zurück."
Ob sie das wohl durchsetzen kann?

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Montag, 31. Juli 2017
Verwunschen
Mal wieder zu Gast bei den alten Eltern, ich durfte eine vorsichtige Bereinigung des Kellers in Angriff nehmen, und so brachte ich die dreißig nutzlosesten der leeren Einmachgläser zum Glascontainer, ich war auch ermächtigt, die längst alt gewordenen selbstgemachten Apfelsaftflaschen zu entleeren und – obwohl die Zusage meinem Vater sichtlich schwer fiel - den alten, kaputten Röhrenfernseher zum Recyclinghof zu bringen.
Der schönste Lohn für diese Arbeit, das waren die seltsamen Artefakte, die ich dabei nebenbei zutage förderte und auf ihrem letzten Gang begleitete:

Nun ja, optisch interessant verschimmelte Kompottgläser (Johannisbeeren 1981, angebrannt)
und die eine oder andere Saftflasche, in der verdächtige Nebelwolken ziehen, die gibt es in anderen alten Kellern sicher auch, aber eine halbleere Waschpaste EVP 1,60 M und ein Tomatensaft „Havelland“ mit dem Ablaufdatum Juni 1973, das ist doch schon was.



Und dann fand ich sogar die Lieblingssüßigkeiten meiner Kindertage „Zuckerrübensirup aus Zörbig“ und „Warenje“, die supersüße Beerenkonfitüre aus dem „Magazin“, dem russischen Laden hinterm Kasernentor, wo wir auch unsere Streichhölzer zu kaufen pflegten, die der Konsum uns Kindern verweigerte!

Und als I-Tüpfelchen fanden wir heute Morgen eine Fledermaus, die friedlich in der Gardine an der Haustür schlief. Verwunschenes Potsdam!

Verwunschen sind übrigens auch die Eltern, die ihre Wohnung fast nur noch zum Einkaufen verlassen und von der äußeren Welt nur wahrnehmen, was ihnen die FAZ ins Haus meldet (und was sie durch die Bank schrecklich finden). Sie sind darüber hinaus auch auf das „ND“ abonniert, aus alter Treue, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie es lesen – ganz im Gegensatz zur TV Spielfilm, die sie eifrig durchforsten. Sie haben auch einen Festplattenrecorder und nehmen fleißig auf, allerdings grundsätzlich nur Filme, die vor 1950 erschienen sind, also vor der Zeit, in der sie als erwachsene Wesen in die Welt gingen.
Und in der Tat: Befrag sie zu politischen Ereignissen oder ästhetischen Entwicklungen von 1910 oder 1930 – du wirst von ihnen noch immer glasklare, kluge und lebendig engagierte Äußerungen hören, als sei all das gestern geschehen. Man sagt von manchen alten Leuten, sie gingen im Alter in ihre Kindheit zurück – meine Eltern tun mehr als das.

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Literatur von gestern: Maguerite Duras, Christa Wolf
Geistig an einem Nullpunkt, an dem ich noch nicht weiß, ob, wann und welche Interessen sich vielleicht einmal ergeben werden, muss ich doch irgendwas lesen, so zur Unterhaltung, und da dachte ich: Ich greif mir einfach irgendeinen Klassiker aus dem Bücherregal meiner Eltern, den ich damals verpasst habe.
Meine Wahl fiel eher zufällig auf „Der Liebhaber“ von Maguerite Duras. Was für ein Fehlgriff! Aus dem Buch glotzten mich die ganzen schrecklichen 80er Jahre an: dieses kunstvolle, wortreiche Herumreden um den heißen Brei. Erinnerte mich an Christa Wolf. Diese tiefe Resignation, die ängstlich vermeidet, auch nur irgendetwas zu erzählen, was wirklich ist. Stattdessen seitenlanges Abschweifen in zeittypische essayistische Gefilde (bei Wolf „Feminismus“, bei Duras „Begehren“).
Aber vielleicht tu ich Maguerite Duras auch Unrecht: Während ich mich vor Jahrzehnten fleißig durchkämpfte durch „Kassandra“, hab ich „Der Liebhaber“ nach dreißig Seiten einfach weggelegt.
... und bin damit wahrscheinlich auch ganz ein Kind meiner Zeit, die sich ja ebenso ängstlich an „Fakten“ klammert, wie verlogen sie auch immer sein mögen.

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