Freitag, 4. Dezember 2015
Nochmal: Falscher Glanz oder ehrliches Mittelmaß – diesmal am Beispiel von Klaus Modick
Auf Klaus Modick wurde ich aufmerksam durch einen schönen Essay in der Neuen Zürcher Zeitung, in dem er beschrieb, wie er Unterhaltungsschriftsteller wurde: indem er nämlich eher durch Zufall hinter das Erfolgsrezept kam und - einmal erfolgreich – lieber damit sein Brot verdienen wollte als sich brotlos um große Kunst zu bemühen, von der noch ziemlich unklar war, ob sie ihm je gelingen würde. Mir war das sehr einleuchtend, zumal mich dabei einige persönliche Parallelen anrührten: Wie Modick, nur 15 Jahre später, habe ich eine literaturwissenschaftliche Dissertation verfasst und dabei wesentlich mehr Spaß am Schreiben als an wissenschaftlicher Theorie gehabt, und Modicks Doktorvater Mandelkow bin ich in meinen beiden ersten Semestern auch noch begegnet: Er war es, der überhaupt erst mein Interesse an der wissenschaftlichen Seite der Literaturbetrachtung weckte, die dann einige Jahre mein berufliches Leben dominierte.
Ich las dann noch mehr von diesem Autor, viel Freude hatte ich auch an „Bestseller“, einer kolportagemäßig geschriebenen, aber hochkomischen Abrechnung mit dem Literaturbetrieb, in der er seinen Frust darüber ablässt, dass er, der beim „U“-Literatur-Schreiben immerhin noch Maß hält und es nicht übertreibt, ins Hintertreffen gerät gegenüber denen, die die Gruseligkeiten der jüngeren Vergangenheit recht skrupellos zu Lesefutter verarbeiten und das den Lesern dann auch noch als „e“ wie ernsthaft verkaufen, wie Hans Magnus Enzensberger z. B. mit seiner Anonyma oder dieser Frauen-Flüchtlings-Roman (den ich jetzt nicht namentlich erwähnen möchte, weil ich ihn nicht gelesen habe und nicht ganz ausschließen kann, dass er vielleicht doch nicht so schlecht ist). Auch viele von Modicks Büchern arbeiten nach dieser Methode: der Stoff die jüngere Vergangenheit, die Story eingängig, ein bisschen Bildung, ein bisschen Kolportage, ein bisschen Politik. Aber bei ihm ist es elegant („Sunset“), manchmal sogar richtig bewegend („Die Schatten der Ideen“) - und immer richtig klug.
Er weiß eben, wie’s funktioniert. Und dann wird man wahrscheinlich eben doch irgendwann schwach und sagt sich: Mit ein bisschen weniger Aufwand geht’s doch auch: Da nahm er die schöne Grundidee von „Sunset“: das gegensätzliche Künstlerpaar. Aus Feuchtwanger/Brecht wurden Vogeler/Rilke. Er machte es auch etwas eindeutiger, also platter (Rilke-Bashing kommt immer gut); am Ende noch genügend Worpswede-Folklore drangemischt: fertig. Und siehe da: Das Publikum liebt es. Mehr als seine besseren Bücher. Und da man bei Erfolg nie aufhören darf, sondern noch einen draufsetzen muss, kommt jetzt „Bestseller“ als Taschenbuch neu raus und tut so, als wäre es das nagelneue Werk „Vom Autor des Bestsellers „Konzert ohne Dichter“, wie das Cover verkündet (nirgends ein Hinweis auf die Erstveröffentlichung). Das funktioniert garantiert.
Sogar bei mir, der „Bestseller“ damals als Bibliotheksexemplar, also auf Staatskosten, las, und als ich es jetzt in der Buchhandlung liegen sah, kamen schöne Erinnerungen hoch – und ich habs mir jetzt doch gekauft und les es nochmal, mit Genuss.
Dabei ist es ein schwacher Trost, dass ich vor einigen Monaten auf dem Grabbeltisch mit den aussortierten Titeln der Bücherhallen nicht den dicken Roman von der „Mittagsfrau“ kaufte für einen Euro, sondern Modicks schmales Bändchen „Moos“, das sich dann zwar nicht als das große Kunstwerk darstellte, als das er es selbst in seinem Essay angepriesen hatte, aber doch als ein qualitätvolles, kluges, sympathisches Buch, kein Geniestreich, sondern solides, ehrliches Mittelmaß. Warum liest man nicht mehr davon?

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Montag, 26. Oktober 2015
Traum von glänzender Nebensächlickeit
Heute Nacht im Traum stand ich als Abiturient im Vestibül der Schule, das die Form einer dunklen Felsenhöhle hatte. Ich sollte die Gäste begrüßen, die da aus dem Hellen hereinkamen. Der Erste, der kam, war Frank-Walter Steinmeier. Er erkannte mich, begrüßte mich freundlich und sagte einen netten Satz über mein hoffnungsvolles Talent und ging dann weiter in die Höhle. Im Hintergrund hörte ich ihn der Direktorin wiederum meine Fähigkeiten loben.
Aber dann kam von der Seite, aus dem Dunkel, meine Klassenkameradin und ich sah ihre Zukunft vor mir: Sie würde mit Freunden ein Nachrichtenportal im Internet gründen, damit landesweit berühmt werden, jedoch später in Zeiten der Zeitungskrise, pleitegehen und eine neue, unspektakuläre Berufskarriere starten müssen. Da wusste ich, dass auch ich nicht berühmt würde.
In der Wirklichkeit habe ich gerade nach dem Filmbesuch eine spannende, sehr aufschlussreiche Biografie über Fritz Bauer gelesen, die aber dennoch einige tendenziöse Aspekte enthielt. Ich wunderte mich erst, dass so ein kluges, korrektes Buch an unerwarteteten Stellen doch so eine Schlagseite bekommt und nicht mehr ganz aufrecht durch die Meere schifft. Aber natürlich: Als ich im Internet nachlas, wurde bald klar, dass das Buch sich natürlich in einer aufgeheizten kulturpolitischen Debatte positioniert und entsprechend bewusst Schwerpunkte setzen muss. An sich ein recht überflüssiger Streit: Es geht darum, ob das Andenken an Fritz Bauer, ohne Zweifel einen Held (man googele nach), nun eher traditionell antifaschistisch geehrt werden soll oder ob man nach neuer Mode eher das Judentum und das Homosexuelle an ihm betont. Ich beneide einfach die Menschen, die sich mit solch herrlichen Nebensächlichkeiten ihren Lebensunterhalt verdienen dürfen.
Mich selber hat der Weg nicht in diese Gefilde der Kulturdebatten geführt, und ich bin ihn auch nicht gegangen. Ich bringe jungen Menschen bei, wie man Kommas setzt, wie man einen vernünftigen Text schreibt oder einen Zeitungsartikel versteht – in meinen Augen eine grundsolide Arbeit, leider schlecht bezahlt (im Vergleich zu meinen Kollegen an der staatlichen Schule) und vor allem völlig unspektakulär. Ins Licht der fröhlichen Belanglosigkeiten werde ich wohl nie gelangen.

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Samstag, 3. Oktober 2015
Je eine Buchempfehlung zum Jahrestag der deutschen Einheit
Vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk gab es eine Reportage über ein Schulprojekt irgendwo in Hessen, bei denen die Schüler den DDR-Alltag mit Fahnenappell usw. nachspielen konnten, denn – so die ossigeborene Lehrerin – man müsse schon in die Vergangenheit eintauchen, um den Ost-West-Gegensatz zu erleben, heutzutage gebe es da ja keine nennenswerten Unterschiede mehr. Vermutlich hatte sie dabei Supermarktregale und Werbeflächen im Auge, die sich tatsächlich in ganz Deutschland (und darüber hinaus) so ziemlich gleichen – und nicht etwa Vermögensverhältnisse. Schließlich hat man als DDR-Bürger ja gelernt, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse jenseits des öffentlich gepflegten Diskurses unter keinen Umständen thematisiert werden dürfen.
Na ja, aber mal Lästerei beiseite (es ist doch eigentlich normal, dass politische Aufklärung in der Schule zu allerletzt ankommt): Das Schöne an der vergangenen Zeit seit 1989 ist doch, dass sich die Wogen der Aufregung glätten und man beginnen kann, normal über die Dinge zu reden. Jens Wonneberger hat mit seinem aktuellen Roman „Sture Hunde“ etwas geschafft, das er noch 1999 mit seinem als Wenderoman gedachten „Wiesinger“ verfehlte: die Lebensverhältnisse in der ostdeutschen Provinz darzustellen und dabei die historisch-politische Situation weder zu verschweigen noch zu romantisieren – sie ist einfach dabei, wie ja die Vergangenheit bei uns allen Teil der Gegenwart ist. In „Sture Hunde“ geht es um einen Mann, der aus dem Dorf in Stadt gegangen ist, ohne sich dort je zu verwurzeln, und der nun zurück in sein Dorf, seine Heimat kommt, wo jeder Grashalm mit Bedeutung aufgeladen ist und warme Gefühle auslöst, ganz zu schweigen von den alten Kumpels oder gar der Nachbarin und Jugendfreundin. Und der am Ende wieder von dort weggeht, obwohl er nirgendwo anders heimisch sein kann. Sehr treffend. Besonders gut: die subtile Schilderung der Art, wie politische Vergangenheit Teil der Persönlichkeiten wird – der Enkel des LPG-Gründers hat eine andere Ausstrahlung als der Sohn des Gastwirts, der alte Landbesitzer bewegt sich anders als der Bürgermeister oder der Treckerfahrer – und das, obwohl sie in erster Linie individuelle Charaktere haben, ihr gesellschaftlicher Habitus nur ein kleiner Teil der jeweiligen Persönlichkeit ist.
„Sture Hunde“ ist übrigens im Jahr 2012 erschienen, im selben Jahr wie das westdeutsche Dorf-Buch, das ich ebenfalls in den letzten Wochen gelesen habe: „Brandhagen“ von Hinrich von Haaren. Auch dieses Buch ist sprachlich so qualitätvoll, dass es wohl nie auf irgendeine Bestsellerliste kommen wird. Auch hier wird der Mikrokosmos eines Dorfes treffend und genau beschrieben bis in die Einzelheiten kleinster Gewohnheiten, verschwiegenster Geheimnisse. Aber der Fokus ist ganz anders, westdeutsch eben: Es geht um Familienstrukturen und Geschlechterverhältnisse. Politisches, gar Historisches spielt gar keine Rolle, was natürlich die Verwerfungen der Sexualität inklusive der Konsequenzen im dörflichen Zusammenleben noch einmal größer und bedrohlicher werden lässt. Entsprechend ist es in diesem Buch gar keine Frage (wie in „Sture Hunde“), sondern eine Selbstverständlichkeit, dass man das Dorf verlässt: Der Autor von „Brandhagen“ lebt jetzt in London, das man als Metropole des europäischen Finanzkapitals kennt – der Autor von „Sture Hunde“ wohnt dagegen in Dresden, das im Moment eher mit Pegida assoziiert wird.

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Montag, 14. September 2015
Heimatverbundene Vampire
Sicher spielen da auch noch viele, viele andere Sachen mit rein, aber so hab ichs erlebt, in einer Deutlichkeit wie noch nie zuvor:
Gestern Party, ich kenn die Leute nicht gut, meine Frau war noch gar nicht dort. Aber wir werden sofort herzlich aufgenommen. Ein Einfamilienhaus am Deich, mit einem Anbau, der noch einmal so groß ist. Dahinter eine Wiese, saftig wucherndes Grün, am Rande Schafe, Kinder spielen Fußball, andere hopsen auf dem Trampolin. Am Ende das andere Haus (dort wohnt die Schwester), ein Fachwerkbauernhaus mit Reetdach aus dem 18. Jahrhundert, der Urgroßvater hat es gebaut. Dahinter Boote, Wasser. Ein Partyzelt ist aufgebaut auf der Wiese, viele Leute sind gekommen, Verwandtschaft, Freunde, Geschäftspartner, alle Generationen durcheinander. Ein Bild von Heimat. Natürlich in weltoffenem Sinne: Es singt nicht nur Hans Albers vom Band und live nicht nur der Shanty-Chor aus der Nachbarschaft - unter den Gratulanten am Mikrofon ist auch ein arabisch-orientalisch aussehender Mensch, unter den Gästen auch eine vollbusige Schwarze. Mir fällt auf, dass meine Frau, die ja hier ganz unbekannt ist, fast noch herzlicher angesprochen wird als ich. Die Gastgeberin aus dem vorderen Haus verwickelt sie gleich in ein Gespräch, später erläutert uns die Schwester die gesamten Familienvorgänge, will uns gar nicht wieder aus dem Gespräch lassen. Ich glaube, ich kenne den Grund: weil meine Frau noch stärker als ich eine verlorene Seele ist, das wittern sie, die erdverbundenen Sesshaften, unsereins saugen sie auf.
Sie saugen es und es wuchert. Die Gastgeberin im vorderen Haus hat eine kleine Ein-Frau-Firma (nicht ihre erste Firma), zu der allerdings einiger Kundenverkehr gehört, im Haus ist immer viel Betrieb. Ihre eigene Tochter, irgendwann aus der Welt zurückgekehrt mit ihrem Kind, bewohnt jetzt mit dem Kleinen ein Zimmer irgendwo mittendrin in dem Trubel. Der Sohn, kommunikativ, Single, hat den Anbau: Unten wohnt er selbst, oben hat er er seine Firma, die in den letzten Jahren stark gewachsen ist - fünf Mitarbeiter in dem einen Raum, man hat sich mithilfe einer modernen Website deutschlandweit etablieren können.
Wir waren drei Stunden da und es war spannend und hat Spaß gemacht. Aber als wir nach Hause fuhren, bekam ich Hunger. "Warum hast du denn eben nicht zugegriffen? - das herrliche Buffet!" meinte meine Frau zu Recht. Aber "eben" war ich eben im Stress gewesen, unter Strom, auf der Rückfahrt begann ich wieder zu mir zu kommen. Und dann gerieten wir noch in das Verkehrschaos rings um die Cruise-Days und irrten gemeinsam mit Dutzenden anderer Autos durch die Gässchen im Portugiesenviertel ... Zuhause wollte ich nicht mehr reden und griff mir (am Samstagabend!) meine Zeitung, um das NZZ-Feuilleton zu studieren.
Meine Frau hat es dann heute erwischt. Sie blieb im Bett, bis ihr die Quasseleien von mir und unserm Sohn zu sehr auf die Nerven gingen. Erst lange später merkte ich, dass sie sich im Wohnzimmer unbequem auf das Sofa gelegt hatte und sich über die Unordnung dort ärgerte. Ich hab sie ins Bett zurück geschickt und die Schlafzimmertür zugemacht. Sie war total ausgelaugt. "Nein, das war doch intensiv gestern." meinte sie auf meine besorgte Nachfrage. Tja, eben: intensiv. Für unsereins Heimatlosen ist anonyme Großstadt vielleicht eben doch gesünder.

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Samstag, 12. September 2015
Selbstportrait von letzter Woche
Die Einschläge kommen dichter. Am Donnerstag Telefonat mit meinem Bruder, der nun doch schon an die Dialyse muss (noch vor kurzem hieß es, das sei irgendwann in den nächsten paar Jahren zu erwarten). Freitag T. zum Abendbrot hier, der nicht gut aussieht und auch jede Menge Krankengeschichten zu erzählen hat. Samstag: Mitten in eine schöne Situation - Freunde holen das letzte unserer jungen Kätzchen, es soll künftig ein Einfamilienhaus mit Riesen-Garten als Revier bekommen - klingelt das Telefon: R. aus dem Nachbarhaus: ob ich morgen früh Zeit hätte, ihn ins Krankenhaus zu fahren, die Schmerzmittel würden jetzt gar nicht mehr helfen.
Vielleicht braucht es diesen Hintergrund für die Idylle: Am Samstagabend schlafen wir zu viert - Mann, Frau, Kind und Katze - auf dem Doppelbett ein, ich bin noch ein Weilchen wach, als die anderen schon schlafen, und lausche dem Regen vor dem Fenster und bin glücklich.

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Donnerstag, 20. August 2015
Zugegeben: Es wird schlimmer
Stresemannstraße, Feierabendverkehr: Vor mir auf dem Radweg kugelt ein beleibter Mann über den Boden, offenbar sturzbetrunken. Erste Überlegung: Muss man helfen? Aber da sehe ich: Er hat zwei Begleiter, die sich bemühen, ihn an den Straßenrand zu ziehen, beide mit langen grauen Haaren und zerschlissener Kleidung, klassische Penner. Eine junge Frau in Sportkleidung und mit so einem digitalen Sportarmband tritt hinzu und versucht, dem Betrunkenen auf die Beine zu helfen. Darauf der Penner: „Das musst du nicht probieren. Das hab ich heut schon 80mal probiert. Doch, das muss ich sagen. Der packts nicht – so’ne Memme, ’n Jude!“

Vor zehn Jahren hätte so ein Penner das Wort „Jude“ nicht in seinem Sprachschatz gehabt, geschweige denn in dieser Wortbedeutung

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graphic novels
In diesem Urlaub habe ich nun zum dritten Mal so etwas gelesen, was man als "graphic novel" bezeichnet. Und wenn man aufgrund dieser hauchdünnen Datenlage schon ein Urteil abgeben könnte, dann wäre es dieses:
Es ist wie Hiphop. Der kühle Kopf muss anerkennen, dass hier Qualitätvolles entsteht. Aber ich mags nicht. Ist mir zu machohaft.

P.S. Die Bücher waren:
- "Nietzsche" von Michel Onfray und Maximilien Le Roy
- "Alois Nebel" von Jaroslav Rudiš / Jaromír 99
- "Die Sache mit Sorge" von Isabel Kreitz

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Empörungsroutine
Mich nervt die Ampel auch, an der der schöne Radweg am Isebekkanal unterbrochen wird und wo man dann auf den Knopf drücken und das Grün-Signal erwarten soll.
Der Radfahrer gegenüber heute Morgen drückt natürlich nicht und seinem Outfit (hochwertiges Rad, professionelle Regensachen) ist zu entnehmen, dass er nicht aus Dusseligkeit darauf verzichtet, sondern weil er vorhat, bei nächster Gelegenheit einfach bei Rot rüberzuzischen. Als diese dann da ist, nähert sich leider ein Streifenwagen, und als der endlich weg ist, ist keine Gelegenheit mehr. Endlich schaltet die Ampel für die Autofahrer auf Rot und der Mann fährt noch bei Fußgänger-Rot los - und stößt fast mit einem Auto zusammen, das schon bei Rot auch noch schnell durchwitschen wollte. Der Radfahrer reißt in gewohnter Empörungsroutine den Arm hoch und setzt zum Schreien an, dann stockt er und lässt den Arm sinken - ihm war klargeworden, dass er einem Gleichgesinnten begegnet ist.
So wie diesem Man geht es mir oft, wenn ich online zu politischen Themen nachlese.

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Sonntag, 7. Juni 2015
Sind Verschwörungstheorien allergische Reaktionen?
Ich hege ja geheime Sympathie für Verschwörungstheorien und bin im Grund eher geneigt, sie zu verteidigen, ich sage zum Beispiel: Verschwörungstheorien entstehen einfach aus Mangel an Transparenz. Wo der durchschnittlich Interessierte keine Chance mehr hat, die Dinge zu verstehen, da wird er anfangen, sich aus den ihm vorliegenden lückenhaften Informationen eine Erklärung zusammenzubasteln. Und daher sind Politiker und Journalisten die letzten, die sich aufregen dürften über die wilden Thesen der politischen Laien. Denn sie selber sind es ja, die unzureichend informiert, die zu wenig recherchiert haben und die nun Mitschuld daran tragen, dass die Unkundigen unkundig bleiben und sich stümperhaftes Zeug zusammenreimen müssen.
Das ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Denn es gibt natürlich Theorien, die nicht in erster Linie entstehen, weil der Betreffende es nicht wissen kann, sondern weil er es nicht wissen will. Da meint zum Beispiel einer auf blogger.de, in Deutschland ständen die Grünen kurz vor der Machtübernahme und der Installation eines totalitären Reiches, ein anderer verlinkt zu einem Korea-Experten, der uns erklärt, dass Nordkorea eigentlich ein ganz normales Land sei, wenn man es nur nicht zu sehr mit europäischen Augen betrachte. Auch von den „Reichsbürgern“ bleibt Bloggersdorf nicht verschont, den Leuten, die glauben, dass die Bundesrepublik gar nicht existiert und dass sich Deutschland immer noch in einem Kriegszustand befinde, der ungefähr dem Zustand in ihrer eigenen Seele entspricht. Und neulich erklärte sogar jemand allen Ernstes, sein ganz persönlicher Fremdenhass erkläre sich aus einer „a priori“ im Menschen angelegten Abneigung gegen alles Fremde.
Nun könnte man es sich einfach machen und behaupten, solche Äußerungen wären einfach ideologisch motivierte Täuschungsversuche, ein bewusstes Zurechtbiegen der Wirklichkeit zum Zwecke politischer Missionierung. In dem einen oder anderen Fall mag das auch stimmen. Meistens spüre ich in den abstrusen Aussagen aber ehrliches Entsetzen darüber, dass viele Menschen die Regeln des Grundgesetzes einhalten, die Grünen wählen oder sich gar mit dunkelhäutigen Menschen anfreunden. Das kommt mir dann vor wie eine Autoimmunerkrankung, eine allergische Reaktion des Geistes: Da hat jemand als kleines Kind schon nicht gelernt, sich mit fremden Meinungen, mit nicht genehmen Tatsachen, mit Täuschung und Betrug auseinanderzusetzen, und jetzt als Erwachsener setzt ihn die nicht mehr verdrängbare Erkenntnis in Panik, dass sehr viele Menschen anders denken als man selbst und dass auch diese Menschen ihre Interessen vertreten. Dann können harmlose Anlässe Wut und Angstattacken auslösen und man hält das 15%-Wahlergebnis des politischen Gegners für so etwas wie einen Staatsstreich. Oder man hat davon gehört, dass auch Wikipedia-Artikel nicht immer ganz wertfrei sind und nun traut man sch gar nicht mehr dort nachzuschlagen und zieht lieber „Die Achse des Guten“ zu Rate.
Ich verstehe das alles ziemlich gut, denn auch ich bin jenseits jeder Streitkultur großgeworden und die kommunikativen Fähigkeiten meiner westdeutschen Sozialkontakte ängstigen mich oft und machen mich bockig. Sonst würd ich ja auch nicht immer wieder auf den lächerlichen Seiten derer nachlesen, denen es auch so geht.

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Dienstag, 26. Mai 2015
Fundstück: Mein erster Mietvertrag
Ist mir beim Aufräumen in die Hände gefallen.



Ich erinnere mich noch, dass ich die leeren Flaschen des Vormieters weggebracht habe und damit eine halbe Monatsmiete bestreiten konnte. Und da die Firma es nicht schaffte, einen Zähler einzubauen, blieb auch der Strom kostenlos. Ich konnte eine "Ersatzheizung für Partygrill" den Tag über auf dem Blech vorm Ofen laufen lassen, damit es nicht so arg kalt war, wenn ich ich von der Arbeit kam. Eine Bruchbude wars dennoch.

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Montag, 13. April 2015
Aktuelle Nörgelei: Georg Elser allerorten
Am Donnerstag hatte ich frei, d.h. ich musste schon am Mittwochabend nichts mehr vorbereitend arbeiten und konnte mich gemütlich vor den Fernseher hocken und einen der vielen auf der Festplatte wartenden Filme wegglotzen. Als ich fertig war, geriet ich ins Fernsehprogramm (irgendein Drittes) und in eine Kultursendung und natürlich – Georg Elser. Was jeweils im Schwange ist, wird ja dann in allen Sendungen hoch und runter durchgenudelt.
Jedenfalls erklärte uns der Off-Kommentar, Elser sei ein „unpolitischer Pazifist“ gewesen. Passend dazu sah man den Elser-Darsteller heimatfilmmäßig durch ein Dorf wandern. Dann kam der Regisseur, Oliver Hirschbiegel (der, der den unsäglichen „Untergang“ verzapft hat und noch vorher „Das Experiment“), und erklärte, Elser sei als Widerstandskämpfer so wichtig gewesen wie Stauffenberg, eigentlich noch wichtiger, eigentlich „der einzige Widerstandskämpfer“.
Was sagt man dazu? Zuerst fiel mir dazu ein alter russisch-realsozialistischer Spruch ein: Da heben sie ihn auf einen Sockel, so hoch, dass man bloß noch seinen Arsch sehen kann. Dann dachte ich: Ja, vielleicht ist es wie beim „Untergang“, der Hitler aus Sicht seines Gefolges dämonisiert. Wenn Hitler der Böse an sich ist, dann hat er nichts mit uns zu tun. Dann können wir gar nichts dafür, das war halt Schicksal. Und wenn Georg Elser der über allen schwebende Held ist, wenn er der einzige Mensch in ganz Deutschland war, dem dieser Hitler ein Graus war, dann sind wir auch unschuldig. Es wäre ja übermenschlich (so übermenschlich wie Elser) gewesen, irgendwie seinen Verstand zu benutzen. Wir sind halt schwach und verführbar, wir Menschen.
Man könnte natürlich auch verschwörungstheoretisch denken: Dass die ganze Heiligenverehrung dazu dient zu vertuschen, dass Elser Kommunist war – ja, schlimmer noch, dass er als Kommunist nicht auf Moskauer Befehl, sondern aus eigenem Ethos handelte. Dass es vielleicht noch andere Menschen wie ihn gab in Deutschland.
Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich so viel Gedanken gar nicht gemacht hat. Es braucht halt neuen Stoff: Hitler ist abgefrühstückt, Stauffenberg auch, die „Weiße Rose“ sowieso, jetzt ist eben Elser dran. Hauptsache Heimatfilm, Hauptsache Dreißiger-Jahre-Look.

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Samstag, 14. Februar 2015
Back to Banalität
Als letzten Herbst das leidige Weihnachten nahte, glaubte ich eine gute Idee zu haben: Ich legte eine Bücherliste an und ließ mich daraus beschenken. Fühlte sich im ersten Augenblick gut an. Ich hatte zu Jahresbeginn einen Stapel Bücher da liegen und stöberte nach, mit welchem ich beginne.
Sprachlich am schönsten war „Wolkenfern“ von Joanna Bator. Das nahm ich mir zuerst vor und legte mich genüsslich rein in die ihre poetisch funkelnden Boshaftigkeiten. Erst nach hundert Seiten dämmerte mir, dass da so eine lesbisch wirkende Ideologie dahintersteckt, die den Männern als solchen die Alleinschuld für alles und insbesondere die Irrungen der deutschen Geschichte vor 1945 zuschiebt. Das schmälerte meine Begeisterung dann doch und bald blieb ich stecken.
Das nächste Buch auf dem Stapel war „Das Ende der Arbeiterklasse“ (herrlicher Titel) von Aurélie Filippetti. Ich hatte irgendwann beim Autofahren im Deutschlandfunk daraus vorlesen gehört und wusste, dass es wunderbar pathetisch ist. Beim Lesen ging mir das aber schnell auf die Nerven. Das leicht Überzogenene an dem Pathos mochte ich zwar. Aber leider war es gar nicht so überzogen und leicht schon gar nicht, eher von marxistisch-machohafter Schwerfälligkeit: überall geschichtliche Katastrophen und finstere kapitalistische Mächte, nirgends Lebendigkeit, stattdessen Terror, Kampf und vorzugsweise bittere Niederlagen.
Nee, dann doch lieber das nächste probieren: „Pfaueninsel“ von Thomas Hettche. Das klappte ich aber am schnellsten wieder zu, maßlos enttäuscht darüber, dass es sich bei diesem historischen Roman, der im 19. Jahrhundert auf der Pfaueninsel spielt, tatsächlich um einen gepflegten historischen Roman aus dem Milieu des preußischen Königshofes handelt. Wie hatte ich auch auf die Idee kommen können, nur weil die Pfaueninsel ein wunderschöner Ort ist, dass ich in einem Buch über die Pfaueninsel von dem üblichen Historienkram verschont bleibe?!
Zum Glück kam dann mein Freund T. mit dem neuen Sven Regener daher, den er grad ausgelesen hat, und der ist wirklich schön. Regener nörgelt ebenso umher wie Joanna Bator, wesentlich banaler sogar, aber eben unbekümmert alltäglich und sehr nah dran an dem Leben, das wir nunmal alle leben. Da fühlt man sich zu Hause bei sich selbst (wenn z. B. der Nutzen von Esoterik, den ich meinen Freunden auch hier so oft vergeblich zu erklären suche, in anderthalb Sätzen auf den Punkt gebracht wird).
Schön auch die Beobachtung, wie die Karl Schmidts und Frank Lehmanns vor 1989 in Schwarz-Weiß, wie die Helden in einem Schwarz-Weiß-Film, gelebt haben. Kann ich nur bestätigen. War auf der Ost-Seite auch so. Nicht umsonst schmunzeln T. und ich gern über die Gleichartigkeit von „Sonnenallee“ und „Herr Lehmann“, wobei ich die natürlich „Sonnenallee“ etwas erheiternder finde, er als Wessi „Herr Lehmann“. Also jedenfalls jetzt, was die Filme betrifft (dass der Roman „Herr Lehmann“ besser ist als „Am anderen Ende der Sonnenallee“, das dürfte klar sein).
Also: diese schwarz-weißen 80er. Was Ost und West dabei unterscheidet, ist, dass es bei uns (bei mir jedenfalls) deprimäßiger zuging. Dass man sich mit dem echten Konflikten ausweichenden Jugend-Schluri-Leben nicht als Held fühlte, sondern so albern, wie man war. Auch bei uns wurde diese furchtbare schlumheimerische Installationskunst à la Eimer auf Stuhl fabriziert, wurden diese affig poesielosen Gedichte im Sascha-Anderson-Stil verfasst. Nur fand ich das damals schon blöd, während hier Fluxus immer noch in Ehren ist.
Einfach arbeiten gehen ist doch da das mindeste, was man besser machen kann, für mich jedenfalls fühlt sich das so an. Und ich habe den Eindruck, Karl Schmidt sieht das ähnlich.

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