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Donnerstag, 24. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 4
damals, 20:19h
Dann wurde es Herbst in meiner neuen Heimat. Eines Tages fiel mir ein Graffitispruch an einer Häuserwand im Ostertorviertel auf: "Mösenboykotz!" Der Aufruf fand meine spontane Zustimmung, allerdings verstand ich ihn anders herum: Ich fand mich bestätigt in meinem Vorsatz, Frauen künftig zu meiden, weibliche Annäherungsversuche von vornherein zu boykottieren. An die Stelle der Frauen traten Alkohol und laute Musik. Entsprechende Lokalitäten gab es genug. Meistens zog ich mit meinem Kommilitonen Sören durch die Kneipen und Discos im besagten, angesagten Ostertorviertel. Eintrittsgelder und Bier waren billig, die Fußwege zwischen den Lokalen kurz. Wenn das Geld knapp war, reichten 30 DM für eine halbe Nacht, und wenn der Kick nicht ausreichte, fuhr ich mit dem Rad in den Arbeitervorort Hemelingen, wo die Prolls in einem alten Tanzlokal mit Galerie zu Gitarrenrock abhotteten. Verbliebene Reste von Sexualität machte ich nebenher alleine in meinem Souterrainzimmer ab. "Sperma ist ekelhaft" hieß das zugehörige Lied von Lisa Politt, das ich sehr liebte und oft hörte.
Eines Tages klingelte es und Hardi stand vor der Tür. Mein alter Kumpel aus Armeezeiten, ein bärenhafter, linkischer Typ mit Vollbart, Landarbeiter ohne Familie, ein humorvoller, halb asozialer Typ. Die LPG in seinem Heimatort im Harz hatte gleich nach der Wende dichtgemacht. "Eines Tages stand ein Viehtransporter auf dem Hof und holte die Kühe ab ..." Hardi verdingte sich nun in einem Futtermittelbetrieb vor den Toren Bremens, fungierte als einziger regulärer Bewohner des zugehörigen Arbeiterwohnheims (die anderen Zimmer wurden an Sozialhilfeempfänger, vornämlich Ausländer, vermietet). Mein jährlicher Brief an ihn war ihn vom Harz aus nachgeschickt worden. Wir trafen uns dann öfter, meistens zum Saufen, manchmal auch zum sonntäglichen Besuch auf dem Flohmarkt. Hardi war skurril. Es roch nicht besonders angenehm in seinem total verdreckten Zimmerchen, zumal dort auch sein Schäferhund Harras wohnte, aber es war nett und witzig - und vor allem weit, weit weg vom normalen Leben, dem Leben der Johannas und Jans.
Eines Tages klingelte es und Hardi stand vor der Tür. Mein alter Kumpel aus Armeezeiten, ein bärenhafter, linkischer Typ mit Vollbart, Landarbeiter ohne Familie, ein humorvoller, halb asozialer Typ. Die LPG in seinem Heimatort im Harz hatte gleich nach der Wende dichtgemacht. "Eines Tages stand ein Viehtransporter auf dem Hof und holte die Kühe ab ..." Hardi verdingte sich nun in einem Futtermittelbetrieb vor den Toren Bremens, fungierte als einziger regulärer Bewohner des zugehörigen Arbeiterwohnheims (die anderen Zimmer wurden an Sozialhilfeempfänger, vornämlich Ausländer, vermietet). Mein jährlicher Brief an ihn war ihn vom Harz aus nachgeschickt worden. Wir trafen uns dann öfter, meistens zum Saufen, manchmal auch zum sonntäglichen Besuch auf dem Flohmarkt. Hardi war skurril. Es roch nicht besonders angenehm in seinem total verdreckten Zimmerchen, zumal dort auch sein Schäferhund Harras wohnte, aber es war nett und witzig - und vor allem weit, weit weg vom normalen Leben, dem Leben der Johannas und Jans.
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Donnerstag, 24. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 3
damals, 00:18h
In G., der Universitätsstadt, war der Umbruch dagegen schon deutlich spürbar. Knut P., Initiator des Friedenskreises und zentrale Gestalt der lokalen Opposition, hatte die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen, jetzt wurden Gerüchte über seine Stasi-Zuarbeit laut. Siegfried Merz, einstiger Bausoldat, der sein Theologiestudium nur über den Umweg einer Dachdeckerausbildung erlangt hatte, predigte zum ersten Mal in der Marienkirche. Thomas und Karin hatten geheiratet und erwarteten ein Kind. Thomas' kleine Schwester war inzwischen auch Studentin. Ich traf sie in der Wohnung ihres Bruders, einer engen, hellen Neubauwohnung, nicht weit vom Markt. Sie sah schön aus und sagte nichts. Karin schämte sich ein bisschen für die Wohnung. „Ja, ich weiß …“, sagte sie. Natürlich hatten wir die Platenbauten gehasst, die in der Spät-DDR nach und nach die verwahrlosten Altstadthäuser verdrängten. „Aber heißes Wasser aus der Wand und die Heizung musst du nur aufdrehen, das ist schon was, wenn das Baby kommt.“
Partys fanden natürlich eher in einer der Schwarz-Wohnungen statt, die inzwischen legalisiert worden waren, da gab es große Zimmer, Höfe, Gärten. An eine davon erinnere ich mich. Mit Johanna, das war Thomas' Schwester, hatte ich am Mittag bei einem Cafébesuch spontan verabredet, demnächst ein paar Tage nach Paris zu fahren. Das hatte mich aufgekratzt, regelrecht verliebt gemacht, und jetzt sollte ich hier allen, also auch ihrem Freund, begegnen. Ich meisterte die Situation gut, obwohl die Nachricht die Runde machte und für vielerlei Witze sorgte. Zur Erheiterung sorgte auch das reichlich vorhandene Bockbier. Die ums Überleben kämpfende G.er Brauerei hatte es auf 50 (Ost-)Pfennig pro halben Liter gesetzt und mehre Gäste je einen Kasten davon mitgebracht. Thomas betrank sich fürchterlich. Seine hochschwangere Frau musste ihn am Ende beim Nachhauseweg stützen und war sauer. Kathrin verkündete ihren Entschluss, das Studium abzubrechen und für ein Jahr in die Toscana zu gehen.
Und ich fuhr mit Johanna nach Paris. „Mal sehen, was passiert.“, erklärte sie die Situation unserer Mitfahrgelegenheit, einem schmalen Endzwanziger mit klapprigen Auto, der uns bis Paris mitnahm und dann weiter nach Südfrankreich wollte. Leider passierte gar nichts, zwischen uns jedenfalls nicht. Zwischen der zurückhaltend runden Theologentochter und meiner verklemmten Persönlichkeit war einfach kein Weg. Wir trotteten gemeinsam die Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt ab, und ein bisschen Schwung in die Sache kam erst, als ich „Jumièges“ auf ein Trampschild schrieb, um einer meiner Lieblingskirchen aus den Mittelaltervorlesungen einen Besuch abzustatten. Denn das Schild mit dem provinziellen Ziel stachelte die Heimatliebe eines jungen Nordfranzosen an, der an uns vorbeifuhr. Er stoppte und lud uns ein. Obwohl die Verständigung zwischen uns schwierig war – er konnte so viel Englisch wie ich Französisch – nur ein paar Brocken – wurde aus der kleinen Trampertour ein ganzer Tag. Er zeigte uns nicht nur Jumièges, sondern auch das Nachbarkloster, das noch in Betrieb war dann den Hafen von Le Havre, schleppte uns sogar zu seinen Schwiegereltern nach Etretat und zum Abschied machten wir ein Picknick am Strand.
Als wir von Remis fort waren, war sofort die Verlegenheit wieder da, es war nur noch furchtbar: die Ankunft in Deutschland, in Köln, ein paar Stunden Wartezeit auf dem nächtlichen Bahnhof, ehe unser Regionalzug fuhr, der mich Gott sei Dank schon in Nordwestdeutschland zu meinem Ziel brachte, während Johanna bis G. weiterfuhr. Ich meine, so richtig kapiert habe ich das da noch nicht, ich bin ihr sogar nachgefahren, einen Monat später, nach Warnemünde, wo sie ein Praktikum bei der Gemeinde machte. Natürlich wusste ich, dass das keinen Sinn hat – ich verkaufte die Fahrt vor mir selber als Fahrt zum Schulamt in Rostock, um auch meinerseits ein Schulpraktikum im Osten vorzubereiten. Den Schulrat traf ich an, Johanna zum Glück nicht. Ich erinnere mich, wie ich durch die idyllischen Straßen von Warnemünde geirrt bin und einsam am Strand gestanden habe – und wie ich zurücktrampte mit einem Medizinstudenten mit Liebeskummer: „Du kannst es nicht ändern.“, erklärte er mir, „wenn du das mit den Beziehungen nicht hinkriegst. Ich war ein paar Jahre in Kanada. Es war das Gleiche. Du schleppst es einfach mit.“
Partys fanden natürlich eher in einer der Schwarz-Wohnungen statt, die inzwischen legalisiert worden waren, da gab es große Zimmer, Höfe, Gärten. An eine davon erinnere ich mich. Mit Johanna, das war Thomas' Schwester, hatte ich am Mittag bei einem Cafébesuch spontan verabredet, demnächst ein paar Tage nach Paris zu fahren. Das hatte mich aufgekratzt, regelrecht verliebt gemacht, und jetzt sollte ich hier allen, also auch ihrem Freund, begegnen. Ich meisterte die Situation gut, obwohl die Nachricht die Runde machte und für vielerlei Witze sorgte. Zur Erheiterung sorgte auch das reichlich vorhandene Bockbier. Die ums Überleben kämpfende G.er Brauerei hatte es auf 50 (Ost-)Pfennig pro halben Liter gesetzt und mehre Gäste je einen Kasten davon mitgebracht. Thomas betrank sich fürchterlich. Seine hochschwangere Frau musste ihn am Ende beim Nachhauseweg stützen und war sauer. Kathrin verkündete ihren Entschluss, das Studium abzubrechen und für ein Jahr in die Toscana zu gehen.
Und ich fuhr mit Johanna nach Paris. „Mal sehen, was passiert.“, erklärte sie die Situation unserer Mitfahrgelegenheit, einem schmalen Endzwanziger mit klapprigen Auto, der uns bis Paris mitnahm und dann weiter nach Südfrankreich wollte. Leider passierte gar nichts, zwischen uns jedenfalls nicht. Zwischen der zurückhaltend runden Theologentochter und meiner verklemmten Persönlichkeit war einfach kein Weg. Wir trotteten gemeinsam die Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt ab, und ein bisschen Schwung in die Sache kam erst, als ich „Jumièges“ auf ein Trampschild schrieb, um einer meiner Lieblingskirchen aus den Mittelaltervorlesungen einen Besuch abzustatten. Denn das Schild mit dem provinziellen Ziel stachelte die Heimatliebe eines jungen Nordfranzosen an, der an uns vorbeifuhr. Er stoppte und lud uns ein. Obwohl die Verständigung zwischen uns schwierig war – er konnte so viel Englisch wie ich Französisch – nur ein paar Brocken – wurde aus der kleinen Trampertour ein ganzer Tag. Er zeigte uns nicht nur Jumièges, sondern auch das Nachbarkloster, das noch in Betrieb war dann den Hafen von Le Havre, schleppte uns sogar zu seinen Schwiegereltern nach Etretat und zum Abschied machten wir ein Picknick am Strand.
Als wir von Remis fort waren, war sofort die Verlegenheit wieder da, es war nur noch furchtbar: die Ankunft in Deutschland, in Köln, ein paar Stunden Wartezeit auf dem nächtlichen Bahnhof, ehe unser Regionalzug fuhr, der mich Gott sei Dank schon in Nordwestdeutschland zu meinem Ziel brachte, während Johanna bis G. weiterfuhr. Ich meine, so richtig kapiert habe ich das da noch nicht, ich bin ihr sogar nachgefahren, einen Monat später, nach Warnemünde, wo sie ein Praktikum bei der Gemeinde machte. Natürlich wusste ich, dass das keinen Sinn hat – ich verkaufte die Fahrt vor mir selber als Fahrt zum Schulamt in Rostock, um auch meinerseits ein Schulpraktikum im Osten vorzubereiten. Den Schulrat traf ich an, Johanna zum Glück nicht. Ich erinnere mich, wie ich durch die idyllischen Straßen von Warnemünde geirrt bin und einsam am Strand gestanden habe – und wie ich zurücktrampte mit einem Medizinstudenten mit Liebeskummer: „Du kannst es nicht ändern.“, erklärte er mir, „wenn du das mit den Beziehungen nicht hinkriegst. Ich war ein paar Jahre in Kanada. Es war das Gleiche. Du schleppst es einfach mit.“
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Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 2
damals, 22:36h
Bremen lag träge am Fluss, auf dem Lastkähne fuhren, keine Containerschiffe. Die Uni war errichtet aus meterdicken Betonquadern und hatte ihre besten Tage hinter sich. Die Menschen fuhren Fahrrad oder Straßenbahn wie in meiner Heimat. Ich fand ein günstiges, geräumiges Zimmer im Keller einer Jugendstilvilla nahe am Stadtpark, die Besitzer waren schweigsame, linke Normalbürger mit hippieesken Kindern und einem Neufundländer, der eigentlich Anja gehörte, der ältesten Tochter, die das andere Kellerzimmer bewohnte. In diese dürfe ich mich nicht verlieben, meinte die Vermieterin, denn deswegen sei schon mein Vormieter ausgezogen. Weiter gab es keine Bedingungen. Der Ehemann, der als Vater des Hauses das letzte Wort zu sprechen hatte, meinte nur: „Schlüssel hast du? ... Na, dann!“ und gab mir die Hand.
Das sollte es also sein. Merkwürdig. Die Uniflure waren so hässlich wie in Hamburg, hässlich durch den Teppichboden, das Kunstlicht, den Beton. Die überall angehefteten Zettel offizieller und inoffizieller Natur machten die Gänge auch nicht wohnlicher, genau wie in Hamburg. Und doch wirkte hier alles familiärer. Jedermann versicherte mir, in Bremen dauere es zwar mit den Freundschaften, dann aber würden sie ewig halten.
Ich kam bald ins Gespräch mit Jan, weil wir die beiden einzigen Lehramtsstudenten waren, die sich für das skurrile Projekt „Spätantike“ angemeldet hatten und darin also ein Schulpraktikum absolvieren mussten. Jan trug verbeulte Kordhosen und eine metallgefasste Brille. Er fand das Thema „Spätantike“ gar nicht so skurril, im Gegenteil. Als Lehrersohn wusste er, was die Kerndaten sind – und wie man sie einer siebten Klasse vermittelt. Was wir im Seminar lernten über byzantinische Fürstenspiegel und frühchristliche Heiligenlegenden, das fand er so spannend wie ich, aber er ließ sich davon nicht überraschen. Als ich zum ersten Mal bei ihm zu Hause anrief in dem Reihenhaus vor den Toren Bremens, wo er noch bei seinen Eltern wohnte, hatte ich seinen Vater an der Strippe, den Schuldirektor. Mich befremdete, wie geläufig er meinen Vornamen in den Mund nahm, als gehöre ich schon zur Familie. Und doch schien das eine beschlossene Sache. Ich hatte nichts dagegen, dass ich schon wenige Tage später das Reihenhaus und den Schuldirektor kennen lernte, auch Jans Freundin, eine blonde, spröde Dorfschönheit.
Einmal, als ich mich lange nach der Sprechstundenzeit noch vor den Professorenzimmern herumtrieb und Aushänge las, kam ich ins Gespräch mit einem Professor, der gerade Feierabend machte und in Quassellaune war, das Thema die Zunahme sozialer Probleme bei den Studenten. Ich hatte wenig Erfahrung damit, konnte aber aus dem Bauch heraus zustimmen, und vor allem war ich beeindruckt, wie selbstverständlich so ein Professor mit einem wildfremden Studenten tratscht, das wäre in Hamburg nicht vorgekommen, von G. ganz zu schweigen.
So verging mein erstes Semester in Bremen. Ich fand also Leute, war auch fleißig, ließ mir Scheine anerkennen und holte das Latinum nach. An den Wochenenden fuhr ich manchmal nach G. Ich liebte die Tramptouren durch mecklenburgische Kleinstädte, die alle noch keine Ortsumgehung hatten – man fuhr direkt vorbei an den Backsteinkirchen und kleinen Marktplätzen, den leer stehenden Fachwerkhäusern. Am Ortsrand von Neubukow musste ich einmal länger warten, da kamen ein paar Kinder auf ihren Fahrrädern extra heran, um mich anzustaunen.
Das sollte es also sein. Merkwürdig. Die Uniflure waren so hässlich wie in Hamburg, hässlich durch den Teppichboden, das Kunstlicht, den Beton. Die überall angehefteten Zettel offizieller und inoffizieller Natur machten die Gänge auch nicht wohnlicher, genau wie in Hamburg. Und doch wirkte hier alles familiärer. Jedermann versicherte mir, in Bremen dauere es zwar mit den Freundschaften, dann aber würden sie ewig halten.
Ich kam bald ins Gespräch mit Jan, weil wir die beiden einzigen Lehramtsstudenten waren, die sich für das skurrile Projekt „Spätantike“ angemeldet hatten und darin also ein Schulpraktikum absolvieren mussten. Jan trug verbeulte Kordhosen und eine metallgefasste Brille. Er fand das Thema „Spätantike“ gar nicht so skurril, im Gegenteil. Als Lehrersohn wusste er, was die Kerndaten sind – und wie man sie einer siebten Klasse vermittelt. Was wir im Seminar lernten über byzantinische Fürstenspiegel und frühchristliche Heiligenlegenden, das fand er so spannend wie ich, aber er ließ sich davon nicht überraschen. Als ich zum ersten Mal bei ihm zu Hause anrief in dem Reihenhaus vor den Toren Bremens, wo er noch bei seinen Eltern wohnte, hatte ich seinen Vater an der Strippe, den Schuldirektor. Mich befremdete, wie geläufig er meinen Vornamen in den Mund nahm, als gehöre ich schon zur Familie. Und doch schien das eine beschlossene Sache. Ich hatte nichts dagegen, dass ich schon wenige Tage später das Reihenhaus und den Schuldirektor kennen lernte, auch Jans Freundin, eine blonde, spröde Dorfschönheit.
Einmal, als ich mich lange nach der Sprechstundenzeit noch vor den Professorenzimmern herumtrieb und Aushänge las, kam ich ins Gespräch mit einem Professor, der gerade Feierabend machte und in Quassellaune war, das Thema die Zunahme sozialer Probleme bei den Studenten. Ich hatte wenig Erfahrung damit, konnte aber aus dem Bauch heraus zustimmen, und vor allem war ich beeindruckt, wie selbstverständlich so ein Professor mit einem wildfremden Studenten tratscht, das wäre in Hamburg nicht vorgekommen, von G. ganz zu schweigen.
So verging mein erstes Semester in Bremen. Ich fand also Leute, war auch fleißig, ließ mir Scheine anerkennen und holte das Latinum nach. An den Wochenenden fuhr ich manchmal nach G. Ich liebte die Tramptouren durch mecklenburgische Kleinstädte, die alle noch keine Ortsumgehung hatten – man fuhr direkt vorbei an den Backsteinkirchen und kleinen Marktplätzen, den leer stehenden Fachwerkhäusern. Am Ortsrand von Neubukow musste ich einmal länger warten, da kamen ein paar Kinder auf ihren Fahrrädern extra heran, um mich anzustaunen.
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Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 1
damals, 01:40h
Die Mauer war gefallen, es hatte keinen Sinn mehr, in G. zu bleiben. Im Januar verkündete unser Lieblings-Professor, dass er vorzeitig in den Ruhestand gehen und zum Monatsende zu seiner Tochter nach Westdeutschland umziehen werde. Viele meiner Kommilitonen bereiteten den Studienortwechsel nach Berlin vor. Hans, der Physik studierte, bewarb sich in die USA. Ich beschloss, meiner Freundin zu folgen, die vor wenigen Wochen nach Hamburg gezogen war.
Ich gab ein kleines Abschiedsfest in unserer WG. In dem großen Zimmer mit dem Jugendstilofen rückten wir zusammen, was an Tischen vorhanden war, und legten weiße Laken darüber aus. Stühle mussten wir uns aus dem Seminar borgen. Es war Freitagabend und es lief eine Gastvorlesung zur Kunst der Antike, deren Zuhörer überwiegend auch bei uns eingeladen waren. Wir baten sie, sich jeder ihren Stuhl zu greifen und gleich mitzukommen. Und so wanderte eine kleine Stuhlkarawane durch den verwilderten Garten des Instituts zu der im Gebüsch versteckten Pforte im hinteren Zaun, die seit je her unbenutzt und unverschlossen war und sich genau gegenüber von unserem Haus befand.
Die Party selbst wollte nicht so richtig gelingen. Es waren alle da, aber es kam keine rechte Stimmung auf. Hanna, die mich damals im 1. Semester nicht erhört hatte, so jedenfalls hatte ich das in Erinnerung, war traurig. Ich legte meinen Schwung in das Verschenken meiner wenigen Möbel. Nur das Radio wurde ich nicht los, mein geliebtes Röhrenradio, das ich seit der sechsten Klasse besaß und das schon diversen Kassetten- und Tonbandgeräten als Verstärker gedient hatte. Die Vorlesungsmitschriften warf ich weg.
Zwei Tage später fuhr mich Harald, der einen Trabant-Kombi besaß, nach Hamburg. Dort ging alles schief. Meine Freundin hatte kein Interesse daran, die Beziehung mit mir fortzuführen, nur hatte sie sich das bisher nicht eingestanden. Jetzt zog sie den Schlussstrich. Und auch mein Baföggesuch wurde abgelehnt, da ich schon in der DDR studiert hatte. Ich fand eine kleine, dunkle und feuchte Wohnung nahe bei der St.-Pauli-Kirche – „Im Osten hätte man sie nicht besetzt.“, meinten G.er Freunde, die mich besuchten – und lebte von Wohngeld und ein paar Studentenjobs.
Eines Morgens auf dem Weg zur Uni fuhr eine Kolonne von Mannschaftswagen der Polizei an mir vorbei. Das weckte mein Interesse. Ich verzichtete auf meine Vorlesung und fuhr ihnen nach. Bei dem Spektakel, das ich erlebte, handelte es sich um die Räumung eines besetzten Hauses, eines Hauses, das nicht den Eindruck machte, als sei es dauerhaft bewohnt. Aber Menschen schienen doch drin zu sein in der verbarrikadierten und mit Spruchbändern behängten Ruine. Jedenfalls erscholl eine Lautsprecherwarnung, bevor die Wasserwerfer in die Fenster zu spritzen begannen. Dann machten sich Polizisten an das Wegräumen der barrikadenähnlichen Hindernisse. Ich glaube, am Ende wurden die Bewohner aus dem Haus getragen.
Was mich beeindruckte, war die Routine der Polizisten. Ich hatte wenige Wochen zuvor eine andere Staatsmacht erlebt, eine verzweifelte, wütende, eine Staatsmacht im Todeskampf. Hier ging alles seinen Gang. Ich fuhr weiter zur Uni. Die Bibliothek war in dieser Zeit mein eigentliches Zuhause.
Im Herbst – ich hatte gerade fünf Wochen bei der Post gejobbt, um die Winterkohlen für meinen Dauerbrandofen zu finanzieren – wurde mein Bafögantrag doch noch genehmigt. Der Tipp eines konservativen Geschichtsprofessors mit dem schönen Namen von der Nahmer hatte mir dazu verholfen. Plötzlich war ich reich.
Hinter mir lag ein Sommer voller Nietzsche-, E.T.A.-Hoffmann- und Foucault-Lektüre, einer Unmenge neuer Bekanntschaften, der Unterschrift unter den ersten Mietvertag meines Lebens – und jetzt konnte ich mir auch noch einen Videorekorder leisten. Ich hatte es geschafft, ich hatte die Wende gekonnt überstanden. Jetzt konnte wieder ein normales Leben beginnen. Meine Wahl fiel – eher zufällig – auf Bremen. Dorthin zog ich im Frühjahr 1991.
Ich gab ein kleines Abschiedsfest in unserer WG. In dem großen Zimmer mit dem Jugendstilofen rückten wir zusammen, was an Tischen vorhanden war, und legten weiße Laken darüber aus. Stühle mussten wir uns aus dem Seminar borgen. Es war Freitagabend und es lief eine Gastvorlesung zur Kunst der Antike, deren Zuhörer überwiegend auch bei uns eingeladen waren. Wir baten sie, sich jeder ihren Stuhl zu greifen und gleich mitzukommen. Und so wanderte eine kleine Stuhlkarawane durch den verwilderten Garten des Instituts zu der im Gebüsch versteckten Pforte im hinteren Zaun, die seit je her unbenutzt und unverschlossen war und sich genau gegenüber von unserem Haus befand.
Die Party selbst wollte nicht so richtig gelingen. Es waren alle da, aber es kam keine rechte Stimmung auf. Hanna, die mich damals im 1. Semester nicht erhört hatte, so jedenfalls hatte ich das in Erinnerung, war traurig. Ich legte meinen Schwung in das Verschenken meiner wenigen Möbel. Nur das Radio wurde ich nicht los, mein geliebtes Röhrenradio, das ich seit der sechsten Klasse besaß und das schon diversen Kassetten- und Tonbandgeräten als Verstärker gedient hatte. Die Vorlesungsmitschriften warf ich weg.
Zwei Tage später fuhr mich Harald, der einen Trabant-Kombi besaß, nach Hamburg. Dort ging alles schief. Meine Freundin hatte kein Interesse daran, die Beziehung mit mir fortzuführen, nur hatte sie sich das bisher nicht eingestanden. Jetzt zog sie den Schlussstrich. Und auch mein Baföggesuch wurde abgelehnt, da ich schon in der DDR studiert hatte. Ich fand eine kleine, dunkle und feuchte Wohnung nahe bei der St.-Pauli-Kirche – „Im Osten hätte man sie nicht besetzt.“, meinten G.er Freunde, die mich besuchten – und lebte von Wohngeld und ein paar Studentenjobs.
Eines Morgens auf dem Weg zur Uni fuhr eine Kolonne von Mannschaftswagen der Polizei an mir vorbei. Das weckte mein Interesse. Ich verzichtete auf meine Vorlesung und fuhr ihnen nach. Bei dem Spektakel, das ich erlebte, handelte es sich um die Räumung eines besetzten Hauses, eines Hauses, das nicht den Eindruck machte, als sei es dauerhaft bewohnt. Aber Menschen schienen doch drin zu sein in der verbarrikadierten und mit Spruchbändern behängten Ruine. Jedenfalls erscholl eine Lautsprecherwarnung, bevor die Wasserwerfer in die Fenster zu spritzen begannen. Dann machten sich Polizisten an das Wegräumen der barrikadenähnlichen Hindernisse. Ich glaube, am Ende wurden die Bewohner aus dem Haus getragen.
Was mich beeindruckte, war die Routine der Polizisten. Ich hatte wenige Wochen zuvor eine andere Staatsmacht erlebt, eine verzweifelte, wütende, eine Staatsmacht im Todeskampf. Hier ging alles seinen Gang. Ich fuhr weiter zur Uni. Die Bibliothek war in dieser Zeit mein eigentliches Zuhause.
Im Herbst – ich hatte gerade fünf Wochen bei der Post gejobbt, um die Winterkohlen für meinen Dauerbrandofen zu finanzieren – wurde mein Bafögantrag doch noch genehmigt. Der Tipp eines konservativen Geschichtsprofessors mit dem schönen Namen von der Nahmer hatte mir dazu verholfen. Plötzlich war ich reich.
Hinter mir lag ein Sommer voller Nietzsche-, E.T.A.-Hoffmann- und Foucault-Lektüre, einer Unmenge neuer Bekanntschaften, der Unterschrift unter den ersten Mietvertag meines Lebens – und jetzt konnte ich mir auch noch einen Videorekorder leisten. Ich hatte es geschafft, ich hatte die Wende gekonnt überstanden. Jetzt konnte wieder ein normales Leben beginnen. Meine Wahl fiel – eher zufällig – auf Bremen. Dorthin zog ich im Frühjahr 1991.
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Neue Serie
damals, 01:38h
Endlich gibt es mal wieder ein bisschen mehr Text, schön sentimental über früher. Die Anregung dazu gab Sabine Rennefanz. Wie offenbar viele Ostdeutsche bin auch ich abgedriftet in den 90er Jahren. Das nahm ich mir vor zu beschreiben und wollte schön das Politische dieses Abdriftens beschreiben. Dann ist es doch persönlicher geworden. Und das in Zeiten des NSA-Skandals! Aber was solls?! Wenn 10 Prozent Fiktion und 90 Prozent Erinnerung eine runde Geschichte ergeben, warum soll man sie nicht erzählen? Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!
(P.S. Die Namen - außer dem schönen von Herrn von der Nahmer - hab ich natürlich anonymisiert, so viel Fainess muss muss sein, und was ich sonst noch so alles geschönt habe, das müssen Sie selbst rauskriegen.)
(P.S. Die Namen - außer dem schönen von Herrn von der Nahmer - hab ich natürlich anonymisiert, so viel Fainess muss muss sein, und was ich sonst noch so alles geschönt habe, das müssen Sie selbst rauskriegen.)
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Samstag, 21. September 2013
Was macht Miss Juni im Dezember?
damals, 16:10h
Auf diese Frage von Bernd Begemann erhielt ich kürzlich eine Antwort, und zwar von einem deutschen Soldaten: „Wir haben einfach verschiedene Zeitschriftenvertriebe angeschrieben und behauptet, dass wir hier in Afghanistan den „Playboy“ nicht bekommen würden. Binnen Kurzem kamen mehrere Pakete mit großen Stapeln übrig gebliebener Magazine. Wir haben sie an die Amerikaner verkauft und den Erlös der Familie eines gefallenen Kameraden übergeben.“
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Samstag, 31. August 2013
Unbedingt angucken: "Du bist dran"!
damals, 15:10h
Wer Eins-Festival empfangen kann, sollte heute Abend unbedingt einschalten: "Du bist dran" ist absolut sehenswert. Ein Fehsehfilm mit Fernsehfilmästhetik und -thematik (familiäre Verwicklungen in der Mittelschicht), aber fern jeder Banalität.
Ich hab den Film am Mittwoch im Ersten aufgenommen und gestern mit meinem Freund T. geguckt. Er, der keine Vorinformationen hatte, meinte gleich hinterher: Darf ich raten? Den Film hat eine eine Frau gedreht, und zwar keine mit normalem deutschen Hintergund." - "Richtig", sag ich, "eine Frau und Ostdeutsche."
Der Filmstil erinnert sehr an Maren Ade, waren wir uns einig, nur irgendwie nicht ganz so genial. Vielleicht liegts daran: Während es bei Maren Ade, der Westdeutschen, trotz sehr wachem Blick für gesellschaftliche Strukturen letztendlich um die Indivdualität der Figuren geht, interessiert sich Sylke Enders offenbar, trotz sehr wachen Blicks für die Individualität der Figuren, doch für die gesellschaftliche Struktur.
In ihrem Film sieht das Happy End so aus, dass am Ende das für alle Beteiligten Vernünftigste passiert: nicht das Glück des Einzelnen, sondern das gute Zusammenleben. Eine schöne Haltung. Wenn auch nicht meine.
Ich hab den Film am Mittwoch im Ersten aufgenommen und gestern mit meinem Freund T. geguckt. Er, der keine Vorinformationen hatte, meinte gleich hinterher: Darf ich raten? Den Film hat eine eine Frau gedreht, und zwar keine mit normalem deutschen Hintergund." - "Richtig", sag ich, "eine Frau und Ostdeutsche."
Der Filmstil erinnert sehr an Maren Ade, waren wir uns einig, nur irgendwie nicht ganz so genial. Vielleicht liegts daran: Während es bei Maren Ade, der Westdeutschen, trotz sehr wachem Blick für gesellschaftliche Strukturen letztendlich um die Indivdualität der Figuren geht, interessiert sich Sylke Enders offenbar, trotz sehr wachen Blicks für die Individualität der Figuren, doch für die gesellschaftliche Struktur.
In ihrem Film sieht das Happy End so aus, dass am Ende das für alle Beteiligten Vernünftigste passiert: nicht das Glück des Einzelnen, sondern das gute Zusammenleben. Eine schöne Haltung. Wenn auch nicht meine.
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Mittwoch, 14. August 2013
Wahlverdruss
damals, 22:07h
Treibt mich nun froschfilms Mahnung zu handeln noch um oder bin ich schon vom Wahlkampffieber der Medien erfasst? Jedenfalls träumte ich heute Nacht, dass ich die Bundestagswahl verpasse, weil es in dem Wahllokal so rummelig und voll war (überall Cafeteria und Verkaufsstände, aber nirgends ein Wahlhelfer, der mir erläutern könnte ...) und ich mich lieber noch ein bisschen abseits setzte und gelangweilt ein paar Schülern bei der Gruppenarbeit zusah. Plötzlich war es um sieben und ich hatte den Wahlzettel noch in der Hand.
In der Wirklichkeit soll mir das nicht passieren - und Ihnen auch nicht! Machen Sie es doch wie ich und markieren Sie Ihre Parteienstimme deutlich als teilgenommen, aber ungültig. Einen vertrauenswürdigen Direktkandidaten kann man dagegen, glaube ich, ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit ruhig wählen. Auf dass keine der denkbaren dämlichen Machtkonstellationen zu überhöhten Prozentzahlen kommt, aber möglichst viele vernünftige Leute in den Bundestag.
In der Wirklichkeit soll mir das nicht passieren - und Ihnen auch nicht! Machen Sie es doch wie ich und markieren Sie Ihre Parteienstimme deutlich als teilgenommen, aber ungültig. Einen vertrauenswürdigen Direktkandidaten kann man dagegen, glaube ich, ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit ruhig wählen. Auf dass keine der denkbaren dämlichen Machtkonstellationen zu überhöhten Prozentzahlen kommt, aber möglichst viele vernünftige Leute in den Bundestag.
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Mittwoch, 24. Juli 2013
Die Reue der Unmündigen: „In jenen Tagen“ von Helmut Käutner
damals, 02:18h
Vor über 20 Jahren sah ich „In jenen Tagen“ von Helmut Käutner und war begeistert. Später las ich, der Film sei sentimental und verharmlose die Nazi-Vergangenheit, mit der er sich beschäftigt. Ich war irritiert. Erst jetzt sah ich den Film wieder und stellte fest, dass die Wahrheit (meine Wahrheit von heute) irgendwo dazwischen liegt.
Der Film zeigt uns als Rahmenhandlung zwei Männer in der typischen Trümmerfilmlandschaft, die ein Auto ausschlachten. Einer von beiden, der als intellektuell Gekennzeichnete, kann kaum arbeiten, da er depressiv über die Bosheit der Menschen nachsinnt, angesichts der ihn umgebenden Landschaft kein ganz unsinniger Gedanke. Jetzt widerspricht ihm das Auto und erzählt in Episoden von guten Menschen, die ihm in den zwölf dunklen Jahren seit seiner Herstellung im Januar 1933 doch begegnet sind: eine schöne, in ihrer Naivität berührende und durch die neorealistische Einfachheit und Klarheit der filmischen Umsetzung äußerst wirksame Idee. Ich mag sie einfach, diese karge, herbe Kunst der späten vierziger Jahre: Wolfgang Borchert, den frühen Böll, die Trümmerfilme, diese kurze Zeitspanne des Minimalismus, bevor die Kunst wieder anspruchsvoll und arrogant wurde. Mir gefiel auch der Blickwinkel der Episoden: immer aus der Sicht argloser Untertanen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, die sich wundern und gar nicht wahrhaben wollen, in was für einen Schlamassel sie da geraten sind. Halte ich für ziemlich realistisch.
Merkwürdig nur, dass gleich in drei der sieben Episoden Nazigegner als konkurrierende Liebhaber auftreten, denen die Kamera halb eifersüchtig, halb bewundernd folgt. Gleich in der ersten Episode wird der neue Wagen einer reichen Frau geschenkt, und die lässt sich damit auch kaufen von dem banal-fröhlichen Biedermann, der sie umgarnt. Doch dann tritt der Konkurrent auf, ein schroffer, unnahbarer Grübler, der schon auf der Flucht vor den Nazis ist, und die Frau entscheidet sich spontan, diesem doch zu folgen. Der nächste ist ein moderner Komponist, der eine Affäre mit der Frau seines Freundes hat, und als gleichzeitig rauskommt, dass er als „entartet“ verfolgt wird, verzeiht frau (nämlich die Tochter des Hauses) ihm die Eskapade. Endlich der Widerstandskämpfer, der verhaftet und „auf der Flucht erschossen" wird, wobei sich herausstellt, dass er im Begriff war, mit der Schwester seiner Frau, die seine Geliebte war, in die Schweiz zu fliehen. Auch ihm wird verziehen.
Täter treten in dem Film nicht auf, alle sind irgendwie gut, und Nazigegner zudem auch sexy (und natürlich männlich). Die Nazis sind unsichtbar, aber allgegenwärtig, eine anonyme, diffuse Bedrohung, und wir, aus deren Blickwinkel erzählt wird und die alles eigentlich nicht kapieren, wir ertragen das Leid als gerechte Strafe für unsere Doof- und Biederkeit. Dieser filmische Ansatz ist jetzt sicher nicht besonders mutig und aufklärerisch schon gar nicht. Aber er ist wahr und ehrlich: die Reue der Unmündigen.
Der Film zeigt uns als Rahmenhandlung zwei Männer in der typischen Trümmerfilmlandschaft, die ein Auto ausschlachten. Einer von beiden, der als intellektuell Gekennzeichnete, kann kaum arbeiten, da er depressiv über die Bosheit der Menschen nachsinnt, angesichts der ihn umgebenden Landschaft kein ganz unsinniger Gedanke. Jetzt widerspricht ihm das Auto und erzählt in Episoden von guten Menschen, die ihm in den zwölf dunklen Jahren seit seiner Herstellung im Januar 1933 doch begegnet sind: eine schöne, in ihrer Naivität berührende und durch die neorealistische Einfachheit und Klarheit der filmischen Umsetzung äußerst wirksame Idee. Ich mag sie einfach, diese karge, herbe Kunst der späten vierziger Jahre: Wolfgang Borchert, den frühen Böll, die Trümmerfilme, diese kurze Zeitspanne des Minimalismus, bevor die Kunst wieder anspruchsvoll und arrogant wurde. Mir gefiel auch der Blickwinkel der Episoden: immer aus der Sicht argloser Untertanen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, die sich wundern und gar nicht wahrhaben wollen, in was für einen Schlamassel sie da geraten sind. Halte ich für ziemlich realistisch.
Merkwürdig nur, dass gleich in drei der sieben Episoden Nazigegner als konkurrierende Liebhaber auftreten, denen die Kamera halb eifersüchtig, halb bewundernd folgt. Gleich in der ersten Episode wird der neue Wagen einer reichen Frau geschenkt, und die lässt sich damit auch kaufen von dem banal-fröhlichen Biedermann, der sie umgarnt. Doch dann tritt der Konkurrent auf, ein schroffer, unnahbarer Grübler, der schon auf der Flucht vor den Nazis ist, und die Frau entscheidet sich spontan, diesem doch zu folgen. Der nächste ist ein moderner Komponist, der eine Affäre mit der Frau seines Freundes hat, und als gleichzeitig rauskommt, dass er als „entartet“ verfolgt wird, verzeiht frau (nämlich die Tochter des Hauses) ihm die Eskapade. Endlich der Widerstandskämpfer, der verhaftet und „auf der Flucht erschossen" wird, wobei sich herausstellt, dass er im Begriff war, mit der Schwester seiner Frau, die seine Geliebte war, in die Schweiz zu fliehen. Auch ihm wird verziehen.
Täter treten in dem Film nicht auf, alle sind irgendwie gut, und Nazigegner zudem auch sexy (und natürlich männlich). Die Nazis sind unsichtbar, aber allgegenwärtig, eine anonyme, diffuse Bedrohung, und wir, aus deren Blickwinkel erzählt wird und die alles eigentlich nicht kapieren, wir ertragen das Leid als gerechte Strafe für unsere Doof- und Biederkeit. Dieser filmische Ansatz ist jetzt sicher nicht besonders mutig und aufklärerisch schon gar nicht. Aber er ist wahr und ehrlich: die Reue der Unmündigen.
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Samstag, 8. Juni 2013
Männer-Jammern, die hundertste: „You can leave your hat on“
damals, 16:07h
Ich hatte heute eine Wartezeit zu absolvieren, unter Musikbeschallung, und musste Joe Cocker Randy Newmans Lied „You can leave your hat on“ singen hören. Meine Güte! Joe Cocker fand ich mal toll, Randy Newman auch. Aber das – war einfach nur ätzend.
Wenn ich mich rückblickend besinne, fällt mir auf, dass ich die beiden aus demselben Grund toll fand: wegen ihres gebrochenen Machotums. An Joe Cocker mochte ich die unbeholfene, beinah dysfunktional wirkende Vulgarität (seine berühmten krampfhaften Verrenkungen beim Singen), die am Beginn seiner poppigen Phase in den achtziger Jahren eigentlich noch besser (weil kühler begleitet) wirkte. Und an Randy Newman liebte ich das Gebrochene seiner fetten Südstaaten-Mentalität, den Witz, mit dem er seine Verwunderung über die eigene Haltung zum Ausdruck brachte. Auch ich fühlte mich so als Jugendlicher: als verhinderter Macho.
Inzwischen sind wir alle in die Lebensphase eingetreten, die man „erwachsen“ nennt. Joe Cocker hat seine Verkorkstheit so weit kommerziell repariert, dass er als bürgerlich angesehener Voll-Macho durchgehen kann. Randy Newman schreibt, soweit ich höre, Filmmusik, und hat sich also auf die angestammte Branche seiner Familie besonnen. Und ich höre keine Musik mehr. So pflegt jeder seine Minimallösungen.
Wenn ich mich rückblickend besinne, fällt mir auf, dass ich die beiden aus demselben Grund toll fand: wegen ihres gebrochenen Machotums. An Joe Cocker mochte ich die unbeholfene, beinah dysfunktional wirkende Vulgarität (seine berühmten krampfhaften Verrenkungen beim Singen), die am Beginn seiner poppigen Phase in den achtziger Jahren eigentlich noch besser (weil kühler begleitet) wirkte. Und an Randy Newman liebte ich das Gebrochene seiner fetten Südstaaten-Mentalität, den Witz, mit dem er seine Verwunderung über die eigene Haltung zum Ausdruck brachte. Auch ich fühlte mich so als Jugendlicher: als verhinderter Macho.
Inzwischen sind wir alle in die Lebensphase eingetreten, die man „erwachsen“ nennt. Joe Cocker hat seine Verkorkstheit so weit kommerziell repariert, dass er als bürgerlich angesehener Voll-Macho durchgehen kann. Randy Newman schreibt, soweit ich höre, Filmmusik, und hat sich also auf die angestammte Branche seiner Familie besonnen. Und ich höre keine Musik mehr. So pflegt jeder seine Minimallösungen.
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Mittwoch, 29. Mai 2013
Kleiner Verriss zwischendurch: Ich fordere mehr Gerechtigkeit bei der Buchpreisvergabe!
damals, 01:10h
Zum dritten Mal erscheint nun dieses Buch ungefragt in unserem Haushalt, und deshalb will ich nun doch kurz erklären, weshalb ich „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge beim ersten Mal interessiert zur Hand genommen, nach 50 Seiten aber als unbrauchbar weggelegt habe.
Es ist sprachlich unspektakulär, zurückhaltend im Stil und doch locker geschrieben, leicht lesbar – und dennoch kein Lesegenuss, eher ein bisschen nörgelig, leicht pauschalisierend, ironisierend, von der Handlung her zwar im Wesentlichen glaubhaft, aber nirgends wahr, direkt, authentisch (jedenfalls so weit ich gelesen habe) – da ist immer ein Abstand, eine dünne Schicht Klischeehaftigkeit über den Figuren, so dass die Charaktere zwar noch erkennbar bleiben, aber nirgends geht es wirklich zur Sache, das tut keinem weh, stimmt irgendwie ungefähr und regt keinen auf, so mein Eindruck. Kurzum: unbedeutend.
Vor Jahren hab ich mal ein Buch geschenkt bekommen: „Solsbüll“ von Jochen Missfeldt, das ich ähnlich empfunden habe: sprachkünstlerisch bescheiden, aber solide erzählt, manchmal etwas holzschnittartig, aber doch sinnvoll im Ganzen. Dieses Buch schätze ich, ohne es sehr zu mögen, es braucht halt diese poetae minores, sie machen die Literaturlandschaft reicher. Hier hätte auch der betuliche Familienroman von Ruge einen guten Platz und ich würde Ruge vielleicht mehr schätzen, wäre er nicht schon so überschätzt.
Dass ich „Solsbüll“ im Gegensatz zu Ruges Buch zuende gelesen habe, mag daran liegen, dass ich Missfeldts etwas anstrengende Ernsthaftigkeit letztendlich höher achte als Ruges distanziert plaudernden Ton. Aber vielleicht ist es auch einfach nur das Thema: Missfeldt schrieb über norddeutsche Hebammen auf dem platten Lande – und das ist allemal spannender als zum hundertsten Mal die DDR-Oberschicht.
Alles eine Frage der Balance und gerechten Verteilung!
Es ist sprachlich unspektakulär, zurückhaltend im Stil und doch locker geschrieben, leicht lesbar – und dennoch kein Lesegenuss, eher ein bisschen nörgelig, leicht pauschalisierend, ironisierend, von der Handlung her zwar im Wesentlichen glaubhaft, aber nirgends wahr, direkt, authentisch (jedenfalls so weit ich gelesen habe) – da ist immer ein Abstand, eine dünne Schicht Klischeehaftigkeit über den Figuren, so dass die Charaktere zwar noch erkennbar bleiben, aber nirgends geht es wirklich zur Sache, das tut keinem weh, stimmt irgendwie ungefähr und regt keinen auf, so mein Eindruck. Kurzum: unbedeutend.
Vor Jahren hab ich mal ein Buch geschenkt bekommen: „Solsbüll“ von Jochen Missfeldt, das ich ähnlich empfunden habe: sprachkünstlerisch bescheiden, aber solide erzählt, manchmal etwas holzschnittartig, aber doch sinnvoll im Ganzen. Dieses Buch schätze ich, ohne es sehr zu mögen, es braucht halt diese poetae minores, sie machen die Literaturlandschaft reicher. Hier hätte auch der betuliche Familienroman von Ruge einen guten Platz und ich würde Ruge vielleicht mehr schätzen, wäre er nicht schon so überschätzt.
Dass ich „Solsbüll“ im Gegensatz zu Ruges Buch zuende gelesen habe, mag daran liegen, dass ich Missfeldts etwas anstrengende Ernsthaftigkeit letztendlich höher achte als Ruges distanziert plaudernden Ton. Aber vielleicht ist es auch einfach nur das Thema: Missfeldt schrieb über norddeutsche Hebammen auf dem platten Lande – und das ist allemal spannender als zum hundertsten Mal die DDR-Oberschicht.
Alles eine Frage der Balance und gerechten Verteilung!
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