Mittwoch, 18. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 7
Was blieb, war ein finanzielles Loch. Frau Meyer hatte ein Einsehen und lud mir auf mein Betteln hin Vertretungsstunden auf bis zum Abwinken. Abzüglich der Steuer blieb dennoch nichts übrig. Außerdem hatte ich mir mit meiner Familie in diesem Sommer einen echten Urlaub geleistet, richtig mit Autozug und Ferienwohnung in Bayern. Wir kamen aus den Schulden nicht mehr raus.
Ende November wurden die Vertretungsstunden rarer und weitere Kürzungen standen ins Haus. Die Firma hatte eine Anschlussausschreibung nicht gewonnen – die Konkurrenzfirma mit noch schäbigeren Räumen und noch niedrigeren Honoraren hatte uns unterboten. Frau Meyer hatte Schwierigkeiten, die Stunden halbwegs gerecht unter den Honorardozenten aufzuteilen. Eines Abends rief sie mich überraschend an und bestellte mich für den folgenden, einen Freitagabend, ins Büro: ein Jobangebot. Wir trafen uns zu dritt in ihrem Büro, es war um sechs, schon dunkel, ich hatte das Büro bei Lampenlicht noch nicht erlebt. Der Dritte war aus der Führungsebene, von der Mutterfirma, und beaufsichtigte eine kleine Schwester-GmbH vor den Toren der Stadt. Dort gab es nur zwei Deutschkurse und zwei Lehrer, einer davon war überraschend ausgefallen. Arbeitsbeginn am Montag. Frau Meyer war das Angebot ein bisschen peinlich: „Ja, aber wissen Sie, Sie kennen die Situation, und da haben Sie immerhin erst mal einen Monat gesichert ...“ Das fand ich auch und akzeptierte einen auf vier Wochen befristeten Arbeitsvertrag auf dem Gehaltsniveau einer Supermarktverkäuferin.
Am Wochenende war ich mit Frau und Kind ein paar Stunden bei Freunden auf dem Land, genauer gesagt, bei Freunden, die mit dem zweiten Kind rausgezogen waren, in das berühmte Häuschen im Grünen. Ich nutzte die Gelegenheit und bat meine Frau, nach dem Kaffeetrinken nicht gleich nach Hause zu fahren, sondern eine Autobahnabfahrt weiter in Richtung Provinz. Ich wollte meine neue Arbeitsstelle wenigstens einmal gesehen haben. Aber da war nichts zu sehen. Da war nur ein gesichtsloses Gewerbegebiet an der Autobahn, mit einer Shell-Tankstelle und dem Bürohaus von einer dieser windigen Mobiltelefongesellschaften, daneben Großhandelslager und Kleingewerbe, sogar Einfamilienhäuser, und mittendrin ein Schild, das auf einen Hinterhof zeigte und den Namen der Schule trug.

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Montag, 16. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 6
Zwei Monate später war Abitur. Ich hatte mit einer Gymnasiallehrerin aus den Elbvororten zu kooperieren, um die Anerkennung der deutschen Schulbehörde abzusichern. Eine echte Gymnasiallehrerin: links, burschikos, bürgerlich. Als Zweitgutachterin bestand ihre Aufgabe darin, den elitären Privatschülern ein bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihre Leistungen mit den Normen des Hamburger Abiturstandards abzugleichen. Ich nahm das leider sehr persönlich. Halbwegs schon rausgeworfen und nur für den Abiturkurs noch geduldet, hatte ich an meiner Privatschule die Stellung eines Exoten inne. „Ja, du und deine Abiturklasse, ihr passt schon zusammen.“ sagte meine Deutschkollegin immer, ein bisschen mitleidig. Und so war es. Weil es den Schülern gefiel, ließ man mich machen. Ein Curriculum gab es nicht. Wir lasen monatelang die „Buddenbrooks“ (den Roman hatten die Schüler freiwillig ausgewählt) und analysierten dann die schöne Verfilmung aus den fünfziger Jahren. Mein Zugeständnis an den vermeintlichen Oberstufen-Kanon, das Thema „Kommunikationstheorie“, versuchte ich der Banalität zu entreißen, indem ich Gesten von Emmanuelle Beart in einem Claude-Sautet-Film und sophistische Sprüche von Sven Regener aus „Neue Vahr Süd“ analysieren ließ.
Aber schöne Unterrichtstunden sind das eine, Abitur ist etwas anderes. Schon einige von den Klausuren hatte die Zweitgutachterin auseinandergepflückt. In den Kommentaren sang sie das Hohe Lied vom Transfer. Gepflegtes Schreiben – und was beispielsweise S., die Tochter eines Spiegelredakteurs, schrieb, das war nicht mehr nur gepflegt, das war göttlich – tat da nichts zur Sache. Die mündliche Prüfung begann mit K., einem Mädchen aus der polnischen Nomenklatura. Sie kam gut durch. Ihr osteuropäisch-schnoddriger Stil, der sie an meiner feinen Privatschule zu manchem Strafgespräch ins Büro der Direktorin gebracht hatte, wurde von der deutschen Lehrerin als kämpferisch belobigt, während die stille, kluge C., Tochter einer deutschen Entwicklungshelferin und ihres schwarzen Mannes, vor ihr gar keine Chance hatte. Zu brav. Dasselbe Verdikt fiel über ihre Mitschüler herein. Verwundert sah mich der Prüfungsvorsitzende an, als die Noten dann festgelegt wurden. Aber ich rettete meine Schüler nicht. Ich sagte gar nichts. Es war wie vor der sechsten Klasse – totale Lähmung.
Am Ende waren alle sauer: die Schüler, die Direktorin, und ich auch. Ich sehe noch die weiße Stretchlimousine vor mir, die I.s Vater zur Abiturfeier vor der Schule hatte auffahren lassen, und sehe mich selber, wie ich versuche, mich hinter dem Auto zum Ausgang zu schleichen. Natürlich auch das erfolglos.

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Sonntag, 15. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 5
Wie entspannend, aber auch langweilig war dagegen der Kurs mit den Fortgeschrittenen. Wir übten wochenlang Relativsätze, lösten grammatische Kreuzworträtsel, und sahen – nachmittags in den Unterrichtsstunden acht und neun, wenn ich den Sozialpädagogen vertrat - deutsche Komödien: „Keiner liebt mich“, „Echte Kerle“, ..., die ich aus meiner privaten Videosammlung von Zuhause mitbrachte. Am besten kam das bei den Polinnen an (ein Pole ist mir bisher nicht untergekommen), die ja unserer Kultur recht nahe stehen.
Ein Höhepunkt für alle war der Ausflug in die Holstenbrauerei, den der Sozialpädagoge organisiert hatte. Für mich, weil es lehrreich war. Wir bekamen eine Führung, der Führer war ein alter Mann, wohl ein ungelittener Mitarbeiter, den man halt noch die Besucher führen ließ, weil er ansonsten nicht mehr in den Betrieb passte. Ein Bierliebhaber von altem Schrot und Korn. Besonders im Ohr ist mir noch sein Lästern über die Unart, Bier zu kühlen: „Ein Bier, das bei Zimmertemperatur nicht schmeckt, sollte man überhaupt nicht trinken.“ ... es ist klar, dass dieser Mann bei Holsten nicht am rechten Ort war. Ich freute mich, einen Tag mal nicht der Vorturner zu sein, sondern auch mal mittrotten und konsumieren zu können. Auch die Teilnehmer waren gut gelaunt, weil sie einen Tag nichts tun mussten. Es gab für jeden zwei Gläser Bier und ein paar Salzbrezeln – man witzelte und machte Gruppenfotos. Eine grobe Gemütlichkeit, ich fühlte mich am rechten Ort.
Am selben Abend war ich mit meiner Abiturklasse im Kino. Wir untersuchten ja gerade Zeitungsrezensionen und sahen uns einen aktuellen Hollywoodfilm an, um später die zugehörigen Rezensionen der deutschen Feuilletons zu vergleichen. Einen Moment lang war ich irritiert. Die zarten, feinen Mädchen hatten sich alle geschminkt, hantierten mit ihren ipods und wirkten mit ihren klugen, distanzierten Sätzen wie aus einer anderen Welt. Und der einzige Junge war das Tüpfelchen auf dem I – er kam im feinen langen Mantel und beschwieg das Geschwätz der Mädchen auf vornehmste Weise. Dann saß man zusammen im prolligen UFA-Palast am Gänsemarkt und kritisierte mit aller Arroganz der Jugend die Techniken des Kino-Mainstreams.

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Donnerstag, 12. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 4
Vielleicht war es auch nur, dass es hier keine Disziplinprobleme gab, jedenfalls keine nennenswerten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine kleine Gruppe russischer Männer, die in der ersten Doppelstunde enttäuscht feststellte, dass auch beim Vertretungslehrer Unterricht stattfindet, und in der Frühstückspause verschwand. Einer davon machte den Fehler, nach der Mittagspause wieder zu erscheinen – mit Alkoholfahne. Er versuchte sich in die Behauptung zu flüchten, er würde kein Wort Deutsch verstehen. Da ich aber sein Russisch verstand und deutsch darauf antworten konnte, ergab er sich in sein Schicksal und mimte für den Rest den Tages den immerhin passiv anwesenden Schüler – was genug war. Anwesenheit reichte aus, um das Arbeitsamt zufrieden zu stellen. Die anderen waren dann eben halt „nicht anwesend“ und flogen ein paar Tage später raus, was noch nicht mal ich verkünden musste, sondern der zuständige Lehrer. Alles sehr einfach.
Etwas komplizierter war’s in dem Alphabetisierungskurs, den mir Frau Meyer als „schwierig“ angekündigt hatte und den ich für eine ganze Urlaubsvertretung übernahm. Hier wurde jeden Morgen darüber erbittert darüber diskutiert, ob und wie weit die Heizung einzuschalten sei (es war inzwischen März, aber immer noch kalt). Der Auslöser für das Problem war offenbar – und trug den Namen Grace. Grace war Afrikanerin, Ende Dreißig, verhärmt und kommunikationsunfähig. Jeden Morgen betrat sie den Klassenraum, setzte sich wortlos in eine Ecke und schraubte die nächstgelegene Heizung so hoch wie möglich. Auf jegliche Ansprache reagierte sie unwirsch, auf das Thema „Heizung“ aber grundsätzlich mit Wutanfällen. Klar, dass das die stolzen Türken und Araber nicht auf sich sitzen lassen konnten. Und so wurde eben jeden Morgen erst mal rumgeschrien. Meine Aufgabe war es, als Deutscher, als Lehrer, niemandem Recht zu geben und niemandem Unrecht. Damit allein ließen sich die Gemüter meist schnell besänftigen, und es gab Tage, an denen sich sogar Grace am Unterricht beteiligte.
Überhaupt war Stolz für die meisten ein größeres Problem als mangelnde Sprachfähigkeiten. Es gab da im selben Kurs ein Ehepaar aus Griechenland, das sein Arbeitsleben in deutschen Fabriken verbracht hatte, zuletzt in der Schokoladenproduktion. Die Kinder waren inzwischen groß, die beiden alt und in Deutschland gibt es kaum noch Stellen für Ungelernte. So kam das Arbeitsamt auf die irrige Annahme, die Arbeitslosigkeit der beiden könne mit ihren Sprachproblemen zusammenhängen. Aber wie dem auch sei, die beiden waren da und bemühten sich redlich, das deutsche Alphabet zu erlernen. Dass aber sie binnen kurzem die Buchstaben schreiben konnte, ertrug er nicht – und erfand unendlich viele Ausreden. Oder stellte sich selbst scherzhaft als Lehrer vor die Klasse in der Pause. All das führte natürlich dazu, dass er noch weiter hinter seiner emsig weiterlernenden Frau zurückblieb ... ein Teufelskreis. Nur als Clown schaffte es Kostas, noch ein Mann zu bleiben.

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Mittwoch, 11. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 3
Und so passierte es öfter, dass sie morgens um 8 Uhr anrief, weil irgendein Dozent nicht erschienen war, und ich ab neun Uhr acht Stunden Deutschunterricht aus dem Stegreif gab.
Der Unterricht fand statt auf zwei Etagen in einem ansonsten leeren Bürohochhaus. Jeden Morgen kurz vor neun belebte sich plötzlich der Hof, standen Raucher vor der Tür, waren die Fahrstühle überfüllt Ich unterschied sie zuerst nach Gruppen: die liebevollen, aber neurotischen Afrikaner; die groben, herzlichen Türken; die phlegmatischen, depressiven russischen Männer mit ihren kalten, fleißigen Frauen – und die kultivierten, manchmal arroganten, meist still verzweifelten Menschen aus dem östlichen Arabien.
Natürlich war das zunächst ein gutes Arbeiten. Jeder echte Lehrer wird mir das bestätigen: Vertretungsstunden sind einfach. Man ist für nichts verantwortlich, muss nur irgendwie die Zeit füllen – und wenn man den Leuten tatsächlich noch was Interessantes beibringen kann, wird man für einen tollen Pädagogen gehalten.
Nach der Niederlage an der Privatschule war mir diese Erfahrung sehr willkommen. Die Tatsache, dass mir Arbeitslosengeld zugestanden hätte, dass ich hätte zu Hause bleiben können, bis ich eine vernünftige Arbeit gefunden hätte, übersah ich geflissentlich. Ich stürzte mich in den Lohndumping-Bereich mit dem Gefühl, endlich etwas wert zu sein. So wie diese aus Profitgründen schnell zusammengezimmerte GmbH vorgab, eine Bildungseinrichtung zu sein, so wie diese überwiegend orientierungs- und chancenlosen Maßnahmeteilnehmer so taten, als gingen sie einer geregelten Tätigkeit nach, so gab ich eben den routinierten Lehrer.

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Dienstag, 10. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 2
Es dauerte nicht lange, dass auf meine zahl- und wahllosen Bewerbungen eine Antwort kam. Es ging um eine Stelle als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Am Telefon war ein Mann mit einer lockeren, fröhlichen Stimme, der sich als Mitarbeiter einer Personalvermittlungsfirma vorstellte und mir sagte, dass sie jemanden wie mich für Ihren Kunden brauchten. „Es gibt 22 € pro Stunde!“ wiederholte er mehrfach begeistert. Nur auf Nachfragen sagte er, worum es eigentlich inhaltlich geht: Deutschunterricht für arbeitslose Ausländer. Weiter gehende Informationen über seinen Kunden schien er nicht zu haben oder geben zu wollen.
Ich fand, dass das nun kein Stundenpreis war, um in Begeisterung auszubrechen, aber immerhin. DaF (Deutsch als Fremdsprache) hatte ich oft genug unterrichtet, und Berührungsängste mit Unterschichten oder anderen irgendwie abweichenden Kulturen hatte ich auch nicht.
Zum Vorstellungsgespräch waren wir vier Bewerber. Wir saßen zu beiden Seiten eines Tisches, ans Kopfende setzte sich Frau Meyer, unsere potentielle Chefin, und stellte, wie das so üblich ist, zunächst ihre Firma vor: Diese bestand in erster Linie aus ihr selber, einer quirligen, massigen Vierzigerin mit hennaroten Haaren und nie still stehendem Mundwerk. Für ein großes Mutterunternehmen, für das sie nur Verachtung hatte und zu dem, wie sich herausstellte, auch die ominöse Personalvermittlungsagentur gehörte, die uns angeworben hatte – für dieses Unternehmen führte sie also die Geschäfte dieser kleinen, scheinbar nicht auf längere Lebensdauer angelegten GmbH – zusammen mit einer befristet angestellten Sekretärin, zwei von der Mutterfirma ausgeborgten Lehrkräften und einer Unmenge von Honorardozenten. Die Mutterfirma hatte die Ausschreibung irgendeiner Arbeitsamtsmaßnahme für arbeitslose Ausländer gewonnen und dafür die Firma ins Leben gerufen. Also war die Firma eigentlich gar keine Firma: Aufträge und Weisungen kamen vom Mutterunternehmen, die Arbeitsverträge schrieb die Personalagentur aus, ... – nur die Arbeit selbst machte Frau Meyer mit ihren Dozenten.
Und die hatte gut schimpfen, und das tat sie auch: eine geschlagene Stunde lang, während der wir Bewerber irgendwann zwischendurch je zwei Minuten bekamen, uns ebenfalls vorzustellen. „Ja, ich würde Sie schon nehmen“, sagte sie auf unsere bemühten Ausführungen, „aber 22 Euro gibt’s natürlich nur für Freiberufler. Wenn Sie unbedingt wollen, kann ich Sie natürlich auch fest einstellen, für drei Monate und halb so viel Stundenlohn. Also, ich würd es Ihnen nicht raten ...“ Und dann zog sie weiter her über ihre Arbeit- und Auftraggeber.
Tatsächlich gelang es ihr, zwei der Bewerber abzuschrecken. Ich selber war zwar enttäuscht, ließ mich aber als Springer für Notfälle vormerken - die Firma lag keine 15 Fahrradminuten von meinem Zuhause entfernt, und irgendwie hatte mich Frau Meyers quietschlebendiger Sarkasmus auch mitgerissen.

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Montag, 9. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 1
Lehrer an einer Privatschule, das wärs. Das hatte ich mir so ausgemalt als Student. Ich hatte mich aus der zusammenbrechenden DDR in das Paradies einer westdeutschen Uni gerettet, von da aus mit Schadenfreude dem Untergang meiner kleinlichen Spießerheimat zugesehen und mich währenddessen ausgiebig mit den herrlich nutzlosen Dingen beschäftigt, die man „Geisteswissenschaften“ nennt. Als es dann ans Geldverdienen ging, war ich voller Verachtung für Beamte und andere Träger einer staatsloyalen Gesinnung und beschloss, an eine Privatschule zu gehen, Da verdienst du dein Geld, sagte ich mir, indem du den feinen Kindern besondere Sachen beibringst – und die Begriffe „Max Frisch“ und „Inhaltsangabe“ kannst du getrost vergessen.
Weit gefehlt. Auch Privatschüler lernen das Übliche – und Schüchternheit als Waffe, das funktioniert nicht für einen Lehrer vor einer sechsten Klasse. Natürlich kann man punkten im Vorstellungsgespräch, vor der Direktorin einer Privatschule, die den zahlenden Eltern einen kultivierten und gebildeten Deutschlehrer präsentieren muss. Aber es genügt nicht, einen Job zu bekommen, man muss ihn auch ausfüllen. Und das konnte ich nicht.
Die ersten zehn Minuten in der sechsten Klasse gingen immer noch, es gab ja ein festgelegtes Ritual: „Guten Tag!“, setzen und die Hefte raus zur Hausaufgabenkontrolle. Dann begannen die Scharmützel. Ich nutzte mein Sanktionen-Arsenal, um die Klasse ruhig zu halten. Öfter gelang das auch, nur Unterricht fand nicht statt. Wer interessiert sich auch schon für Fabeln?
Da war es doch viel schöner bei den Kleinen, den Grundschülern, wo Detektive durch Geheimgänge schlichen und Rechtschreibfehler ausgiebig bekichert wurden. Die Kleinen liebten mich. Leider galt das nicht für ihre Eltern. Die wollten abprüfbare Lernfortschritte sehen, ein Diktat in der Woche war nicht genug. Dabei gab es Lernfortschritte: bei mir, dem Lehrer. Schon nach zwei Monaten brachte ich alle Schüler immer ordnungsgemäß nach unten zum Schulschluss, zu ihren wartenden Eltern, mit einer Hausaufgabe im Hausaufgabenheft, ohne vergessene Mützen und Schultaschen und alle Stühle auf dem Tisch.
Nach vier Monaten zog die Direktorin die Notbremse, wie sie es selbst formulierte im Entlassungsgespräch. Neben ihr nickte bedächtig der Vorsitzende des Schulvereins, ein kühler Mensch im feinen Anzug und Vater von einem der wilden Sechstklässler. Man beließ mir die Abiturklasse, deren Schülerrat sich für mich ausgesprochen hatte, und versah mich mit einer angemessenen Abfindung. Damit beginnt die Geschichte.

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Eine neue Geschichte
Ich wollte doch aufschreiben, wie ich zu meinem Job gekommen bin, welchen komischen oder Irr-Weg ich beruflich genommen habe - sollte ein leichter, witziger Text mit politischem Weitblick werden. Aber wie es so ist, wenn man versucht, "gut" zu schreiben, es wird nur krampfig. Diesmal ist es der pure Hass-Text geworden.
Aber sei`s drum, ich stelle das jetzt einfach wieder stückchenweise auf meine Seite, soweit ich gekommen bin, und werde den lustigen Rest später spontan hinzufügen - oder auch nicht.
Viel Spaß mit der neuen Serie! ... und beachtet bitte, dass wie immer Ählichkeiten mit lebenden Firmen oder Figuren (einschließlich mir selber) reiner Zufall sind.

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Donnerstag, 15. Januar 2009
Meine scharfsinnige Analyse von Uwe Tellkamps "Der Turm", Teil 2
Im zweiten Teil des Buches nimmt das Tempo zu, die Länge der Sätze ab. Menos Lieblingsautorin Judith Schevola wird vom Schriftstellerverband geschasst, Christian kommt zur Armee. Die anderen Figuren machen weiter wie bisher, was angesichts der Umstände immer alberner wird.
Denn die Armeegeschichte um Christian bringt auf den Punkt, wie schlimm alles ist. Kein Platz mehr für Lyrik. Die brutalen Quälereien im Zuge der berüchtigten EK-Bewegung veranlassen Christian stillzuhalten und sich später einer der brutalsten, aber auch souveränsten Figuren anzuschließen: dem Schwarzhändler Pfannkuchen. Endlich gelingt es Christian, in einer überbordenden Situation seine Wut herauszubrüllen. Die Folge ist Schwedt, der Militärknast. Sein Beschützer Pfannkuchen, der ihm beigesprungen ist, muss mit ihm gehen. Es ist ein grausiger Weg, der da beschrieben wird, und besonders grausig ist, dass es für Christian ein Weg in die Emanzipation ist.
Am Ende zerfällt die DDR und man kann nicht mal richtig froh sein. Höchstens erleichtert.
Und was fand ich an dem Buch nun so gut? Das, was der Literaturkritiker Denis Scheck so furchtbar daran fand: dass es „nach Schweiß“ stinkt. Tellkamps Buch ist das Gegenteil von Breloers diszipliniert kalkulierten Werken. Da hat sich einer sehr viel vorgenommen und ist in vielem davon gescheitert, in manchem nicht. Da spürt man in jeder Zeile, dass da ein Mensch um seine Sprache kämpft. Er probiert es mal mythisch-metaphorisch, mal sachlich berichtend, mal satirisch. Sowohl was den Handlungsfaden als auch was den Stil betrifft, setzt er immer wieder neu an, als hätte er den Eindruck, es wieder nicht auf den Punkt getroffen zu haben. Dadurch entsteht ein Buch, das schwer zu lesen, aber ungeheuer reich ist. Nichts ist so, wie es scheint. Die Bewertungen der Figuren werden wieder und wieder umgedreht. Immer, wenn man hundert Seiten gelesen hat, sieht dieselbe Welt wieder völlig anders aus.
Und wenn Ihr mich fragt: Auf den Punkt getroffen hat Tellkamp meistens da, wo er sich am wenigsten anstrengt - in der Beschreibung kleiner Alltagssituationen, die „in nuce“ das ganze Stimmungs- und Konfliktpotential der späten DDR offenbaren.
Vielfach hört man die Meinung, „Der Turm“ sei ein genüsslich zu lesendes Buch, das die Welt der Bildungsbürger nostalgisch heraufbeschwört. Oder gar ein Buch, das sich zur Aufgabe gemacht hätte, die nachträgliche Verklärung der politischen Verhältnisse in der DDR zu entlarven. Nichts ist falscher, nichts ist oberflächlicher als solche Meinungen. „Der Turm“ hat keine platten Botschaften, er ist auch nicht gut zu lesen, die Schätze in ihm, die muss man suchen. Er ist depressiv und schüchtern aufbegehrend, selbstgerecht und angepasst, ärgerlich platt und beeindruckend feinsinnig. Alles, was man will. Nehmt Euch die Zeit und sucht Euren Schatz aus diesem herrlichen Wildwuchs.

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Mittwoch, 14. Januar 2009
Meine scharfsinnige Analyse von Uwe Tellkamps "Der Turm", Teil 1
Empfehlen muss ich diesmal einen Bestseller. Denn er ist wirklich gut. Ich hätte das vorher auch nicht gedacht, schließlich hat Tellkamp mit einer Vorarbeit zu diesem Buch den Bachmannpreis gewonnen – und diese Vorarbeit war eher – naja, wie sagt man: aufgesetzt? künstlich? musterschülerhaft? – jedenfalls kein Lesespaß und unerträglich bildungshuberisch. Prompt hat es dieser kleine Text ("Der Schlaf in den Uhren") auch ins niedersächsische Zentralabitur geschafft. Ich fand das lustig, ich konnte mir richtig vorstellen, wie jetzt die Studienräte dasitzen und sich sagen: Ja, das ist noch richtig anspruchsvolle Literatur und die Kinder sollen ruhig mal ins Schwitzen kommen in der Klausur.
Wie dem auch sei, auch im „Turm“ sind die Stellen die schlechtesten, wo Tellkamp beweist, was er alles weiß. Dass alte metallene Uhrenzifferblätter „gepunzt“ wurden. Welche Witze man sich 1983 in DDR erzählt hat. Wer zwischen 1930 und 1950 so alles den „Rosenkavalier“ dirigiert hat. Usw. Gähn.
Alles ist auf ein „Opus magnum“ hin angelegt. Der Autor malt ein breites Panorama des Dresden der achtziger Jahre. Im Mittelpunkt steht eine Medizinerfamilie, die halbwüchsigen Robert und Christian Hoffmann, ihre Eltern Anne und Richard (Krankenschwester und Handchirurg) sowie diverse Onkel, Tanten, Nichten und Neffen. Im Mittelpunkt steht die Figur Christian und deren noch pubertäre Sichtweise, was dazu führt, dass Christians Charakter (zumindest im ersten Teil des Buches) ziemlich blass bleibt, z. B. im Vergleich zu den breit ausgemalten Szenen aus dem Klinikleben des Vaters.
Die zweite Hauptfigur ist Christians Lieblingsonkel Meno, Lektor, ein introvertierter, fast schrulliger Beobachter und Schweiger, dessen lyrische Ergüsse oft kursiv in den Text gesetzt sind, versponnene Endlosmonologe zwischen Ironie und gewagter Metaphorik. Meno kennt auch Arbogast, der unschwer als Manfred von Ardenne zu erkennen ist und als solcher in keinem Dresden-Buch fehlen darf.
Ansonsten besteht Menos Arbeit vor allem darin, sich zu den Texten der von ihm betreuten kritischen Autoren möglichst nicht zu äußern, während Christian, abgeschoben ins Internat, die volle Wucht sozialistischer Erziehung zu erleiden hat und heimlich in Verena verliebt ist, weil die sich traut, dem Staatsbürgekundelehrer zu widersprechen. In Christian wiederum verliebt ist Reina, eine scheinbar naive, doch menschlich offene und faire Anhängerin des Sozialismus. Christian, angesteckt von der neurotischen Angst der Elterngeneration, fragt sich (und später seinen Onkel Meno), ob man eine solche Person möglicherweise zurücklieben dürfe. Der sagt erschrocken „nein“. Währenddessen hat sein Vater eine Geliebte und wird damit von der Stasi erpresst.

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Samstag, 3. Januar 2009
Das Jahrhundertbuch (Januar 04)
Folgender Text entstand in den letzten Tagen im Zug:
„Mein Jahrhundertbuch. 51 Liebeserklärungen.“ Wie kam dieses Buch auf den Hocker neben meinem Bett, in diesen Stapel von Schriften, die ich lesen wollte, aber nicht werde? Ich weiß nicht mehr, wer es mir mitgebracht hat – selbst würd ich mir so was ja nie kaufen – ein „ZEIT-Buch“ (!), „herausgegeben von Iris Radisch" (!), Studienratslektüre für Leute, die Literatur nicht selber lesen, sondern nur darüber informiert sein wollen. Bei mir im Zimmer kann man sich aus erster Hand informieren, was das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts sein soll – oder könnte es jedenfalls. Die Staubschichten auf den Bücherreihen zeigen, dass keiner diese Möglichkeit nutzt, ich nicht und ein anderer schon gar nicht. Hat mir deshalb einer dieses Buch geschenkt? Einer von denen, die sich damals über Iris Radisch und Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ die Köpfe heiß redeten und sich wunderbar literarisch interessiert dabei vorkamen, obwohl sie ihre Freizeit mit jeweils 2-3 verzogenen Gören sowie in Sportklubs und vor CD- und DVD-Regalen verbringen, anstatt zu lesen, und die in mir, in ihrer Freundschaft zu mir immerhin den Beweis sehen, dass sie noch nicht ganz verblödet sind?
Und jetzt kräht selbst ein Säugling im Zimmer neben meinem, einer, der nichts weiß von Iris Radisch und der ZEIT, einer, der mich anlachen möchte oder schreien oder einfach umhersabbern und an seinen Zehen spielen – alles, nur nicht schlafen, und noch schlimmer, jetzt geh ich jeden Tag arbeiten, um Geld heranzuschaffen für die Frau, die ihn stillt und die mich zu umarmen versucht, wenn ich schon nichts mehr spüre, weil es so warm ist, so überheizt in dieser überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnung und ich den Tag, den lieben langen Tag in Klassenzimmern verbracht habe und vergeblich den Lehrer gespielt, eine Figur also, die ich selber bedauert habe, als ich noch Schüler war und frei zu denken, was ich wollte.
Aber das wollte ich nicht sagen, ich wollte über „Das Jahrhundertbuch“ reden. Wollte mich lustig machen, wie erwartungsgemäß langweilig da alles daherkommt: wenn Jerofejew sich aus fadenscheinigen Gründen für Nabokows „Lolita“ begeistert – weil ihn der Verkaufserfolg offenbar mehr fasziniert als die guten Bücher, die Nabokow immerhin auch geschrieben hat. Wenn Salman Rushdie ganz den gelehrigen 3.-Weltler markiert, indem er den mainstreamigsten Klassiker aus der 1.-Welt-Literatur empfiehlt: „Ulysses“, den keiner von uns gelesen hat, es sei denn im Grundstudium oder an der Volkshochschule. Und wenn den mittleren Europäern nichts anderes einfällt als Kafka, Kafka und natürlich Hitler und Stalin.
Jetzt liegt dieses langweilige Buch auf meinem Nachttisch, auf dem Gerät, das mein Nachttisch sein soll oder hätte sein sollen. Denn wozu brauche ich einen Nachttisch, da ich abends nicht zum Lesen komme und morgens aus dem Bett spring, weil ichs eilig hab. Und die Brille leg ich lieber auf das Fensterbrett. Die Sachen auf den Fußboden, weil mich das an das Chaos von früher erinnert, als es noch ein fröhliches war. Meine Freundin liegt nebenan mit dem Kleinen und auch ich liege manchmal nebenan, meistens sogar um ehrlich zu sein, wenn mir nach Nähe ist, wenn ich lebendig bin. Und das Buch auf meinem Nachttisch verstaubt. Was sollte ich auch damit in einer Welt, in der es keine patriarchalischen Diktatoren gibt und auch keine Lolitas.
Mein Chef ist ein müder, alter Mann, weißhaarig, mit traurigen Augen und einer Vorliebe für kleine Witze und ironische Bemerkungen. Entscheidungen scheut er. Dass er mir gekündigt hat letzte Woche, das war überhaupt nicht er, das ist wie ein Blitzschlag durch ihn durchgegangen von irgendwoher – das hat nun mich getroffen, und er blickt sich verwundert um, wie er das Phänomen überlebt hat. Wie ich es überlebt habe, interessiert ihn so wenig wie die meisten Erscheinungen dieser Welt.
Und ich wittere eine Chance, wieder zu meinen Büchern zu kommen, in meine Bücherhöhle, in die Phantasiewelt des 20. Jahrhunderts: wo es um Macht geht und Katastrophen, um zerstörerische Triebe und Giganten, die ganze Völker morden, um die Größe des Untergangs. Ja, ich weiß, es gibt das alles. Aber es ist nur ein Bruchteil, es sind nur Buchtitel, es ist nicht das Ganze. Und ich, wenn ich das Buch des Jahrhunderts wählen sollte, ich nennte nicht den „Prozess“ und auch nicht „Das kleine Arschloch“ – sondern den „Roman eines Schicksallosen“. Oder Anna Seghers’ Roman über den Identitätslosen, der bleiben will, bleiben und leben.

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Mal wieder Resteverwertung
Auch wenn mein Publikum nicht sehr zahlreich ist, bemühe ich mich doch, es zu unterhalten. Natürlich auch, weil ich mich zu meinem Thema verbreiten will - das weniger und weniger die DDR ist und immer mehr ein Nachdenken über eine Haltung ist, die ich einzunehmen anstrebe und auch in den jeweils rezensierten Filmkunstwerken suche und nicht immer finde: Authentizität, Überwindung von Klischees oder so. Und da ich gerade anhand "Leben der Anderen" mit haruwa über das Klischee vom patriarchgalen Despoten uneins war, hier nun ein älterer Text aus meiner Schublade dazu, der halbwegs autobiografisch, teilweise aber auch nur daherphantasiert und -schwadroniert ist. Viel Spaß damit!

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