Mittwoch, 14. Mai 2008
Jörgs Geschichte, letzter Teil
Einmal will er mich gar nicht mehr sehen, sondern liegt nur da mit seinem Teddy im Arm und schüttelt den Kopf. Ich bin wütend. Geh raus und streife durch das dunkle, kalte Elmshorner Innenstadt, die schon wie tot daliegt, obwohl die Geschäfte noch offen haben. Irgendwo schütt ich zwei Bier, die den Frust dämpfen und mich redselig machen: Ich steh dann noch eine Viertelstunde an seinem Bett und schwatze irgendwelchen Blödsinn, ohne Punkt und Komma. Da sieht Jörg mir doch zu und lächelt und bettet sich, als ich gehe, gemütlich zum Einschlafen.

Eines Morgens ein Anruf aus Elmshorn: Das Fieber würde jetzt gar nicht mehr runtergehen und ob ich noch mal kommen könne und ich sollte mir schon mal Gedanken machen über die Beerdigung. Es ist kurz vor Weihnachten. Jörg ist nur noch ein Schatten, der den Kopf wegdreht, als ich mich nähere. Ich bin völlig gelähmt und weiß nicht, was ich tun soll. Wenn es zuende geht, sollen sie mich anrufen. Aber da bin grad zu Hause bei den Eltern, meine Mutter geht ans Telefon, ich bin unterwegs. Und bei dem zweiten Anruf am andern Morgen schlaf ich noch. Nachher stehen meine Mutter und meine Schwester heulend in der Küche: „Jörg ist tot.“

Ich hätte es gern gehabt, daß er in Hamburg beerdigt wird. Aber das bezahlt das Sozialamt nicht. Also Elmshorn, das er nicht kennt, nie wahrgenommen hat. Am Tag der Beerdigung - eine Feier gibt es mangels Angehöriger nicht - verpaß ich den Zug, wahrscheinlich ist mir alles zu viel. Jedenfalls treffe ich ein, als der Sarg schon in der Erde ist, drei Friedhofsgärtner sind mit Schaufeln und einem Minibagger am Zubuddeln. Im Hintergrund dröhnt die Autobahn. Eine „stille Beerdigung“, ein namenloses Gräberfeld am Arsch der Welt.
Also, falls ihr mal in der Gegend seid - Jörg liegt auf dem städtischen Friedhof von Elmshorn in Kölln-Reisik, Grabfeld F, Abteilung IV, GrabNr. 83. Und grüßt ihn von mir, er erinnert sich bestimmt.

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Dienstag, 13. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 5
Es kommt, wie es kommen muß: Auch der Psychologe verliert die Geduld, und da in Elmshorn grad ein Platz frei ist, fällt die Entscheidung schnell. Die Überfahrt findet statt an einem Montagnachmittag, damit ich dabei sein kann. Die Krankenwagenfahrer sind nett und gut gelaunt, helfen beim Sachenschleppen und hätten auch Jörg, der sich gar nicht bewegt, auf ihre Schultern genommen, wenn die die Aktion überwachende Schwester nicht sofort eingegriffen hätte: „Herr Heuer kann selber laufen.“ Er will es bloß nicht. Daß er einfach seine Beine nicht mehr bewegt, ist sein letzter Widerstand.
Die Fahrt geht kreuz und quer durch Hamburg, aus dem Fahrerhaus ertönen laute Oldies. Jörg wird munter: lauscht nach der Musik, linst neugierig aus dem Fenster. Sein Hamburg. Als ich sage: „Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wo wir sind.“ lacht er ganz wie früher: „Aber ich.“ Dann kommt bald die Autobahn und irgendwann Elmshorn.

Für mich sind es Abenteuertouren. Der Herbst wird kühler, nasser und schöner, ich fahr über die Dörfer und bei Wischhafen mit der Elbfähre, egal wie das Wetter ist. Wenn ich dann ins „Haus Flora“ eintrete in Elmshorn, läuft mir die Nase. Jörg sitzt immer im Speisesaal vor einer leeren Tasse Kaffee. Da sitzt er den ganzen Tag, versichern die Schwestern, und zu allem, was darüber hinausgeht, und sei es nur Waschen und Klogang, müsse er jeden Tag wieder mühsam überredet werden. Als ich ihm den CD-Player mit seiner Lieblings-CD bringe, die wir im Krankenhaus vergessen hatten, nimmt er die Scheibe in die Hand und betrachtet sie versonnen. Die schillernden Regenbogenfarben auf der Rückseite interessieren ihn. Musikhören will er nicht. Ein andermal bring ich ihm ein „Kleines-Arschloch“-Buch, weil ihm doch Lesen zu anstrengend ist. Er freut sich, weil er Comics immer gemocht hat. Aber dann muß er lange mit der Lesebrille hantieren, und die Spruchblasen muß ich ihm trotzdem noch vorlesen, es ist einfach zu mühsam. Nach langem Fragen erfahre ich, daß er doch noch einen Wunsch hat: noch mal in seiner Wohnung nach dem Rechten sehen, vielleicht eine Pflanze mitnehmen für Elmshorn. Aber zum Bahnfahren ist er schon zu schwach, und ein Auto hab ich nicht. Die Pfleger sagen, daß ihn in zwei Wochen ein Krankenwagen mitnehmen könne, der sowieso fährt. Daraus werden dann drei Wochen, und da ist er schon bettlägerig und kann nicht mit.

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Montag, 12. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 4
In den folgenden Wochen wird es dringlich, es geht ihm so weit gut, das Krankenhaus will ihn loswerden. Der Psychologe beharkt Jörg, ich auch. Alles, was ich zu hören bekomme, ist, daß er nicht in ein Heim will. Aber auch keinen Pflegedienst. „Fremde Leute laß ich nicht in meine Wohnung - Martin, wenn du vielleicht ...?“ Aber wie denn, aus fünfzig Kilometer Entfernung, ohne Auto. Ja, wenn ich noch in Hamburg wohnen würde. Er schickt mich in die Wohnung, Blumen gießen - es sind ja nur zehn Minuten zu Fuß. Dort finden sich schon Spuren des Pflegedienstes: ein halbvoller Müllsack, Reinigungssachen, gebrauchte Aids-Handschuhe. Wohl etwas übertrieben, denke ich. Es ist gespenstisch.

Jörg lebt jetzt praktisch unter der Drohung: Wenn er nicht bald seinen Willen demonstriert, noch einmal ein eigenständiges Leben zu führen, morgens aufzustehen wie ein normaler Mensch und dann seinen Interessen nachzugehen, dann kommt die Einweisung ins Heim. Also verläßt er jetzt tagsüber sein Bett im Krankenhaus. Wenn ich komme, sitzt er meistens bei den anderen mobilen Patienten in der Fernsehecke, hält sich die Ohren zu und liest Zeitung. Einmal gelingt es mir nicht mehr, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Er sieht mich nur groß an und kehrt dann zu seiner „Morgenpost“ zurück. Nach der letzten Seite fängt er von vorne an. Die Mitpatienten, dankbar über die Abwechslung, verfolgen meine Bemühungen mit fröhlichen Kommentaren, etwa in dem Sinne, daß an den sowieso keiner mehr rankommt. Ich fliehe, nämlich zu Claudia, die neuerdings in St. Pauli wohnt und bei der ich mich ausheulen kann. Drei Stunden später geh ich noch mal ins Tropeninstitut, da liest er immer noch dieselbe Zeitung. Ich gebe auf.

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Freitag, 9. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 3
Einmal paßt mich der Krankenhauspsychologe ab, bittet mich in mein Zimmer und läßt mich erstmal erzählen. Ihm scheint die Geschichte zu gefallen, wie wir uns kennengelernt haben trotz aller Unterschiedlichkeit. „Das ist ja schön, wie Sie sich da einfach gefunden haben.“ Dann erzählt er mir, was wirklich ansteht: Anderthalb Jahre Lebenserwartung hat der Mensch durchschnittlich nach dem Ausbruch von Aids, und für Jörg zählt die Zeit (was ich nicht wußte, obwohl ich es mir hätte zusammenreimen können) seit der schlimmen Lungenentzündung vor einem Jahr. Nun gut, es können auch schon mal drei Jahre werden, aber mehr ist sehr unwahrscheinlich. Auf seinen nahen Tod müßt ich mich gefaßt machen. Natürlich ist die nächste Frage, wie diese Monate aussehen könnten. Also wenn es weiter so rasant bergauf geht wie im Moment, meint der Psychologe, könnte er noch mal für eine Zeit nach Hause, ein Pflegedienst könnte täglich nach ihm sehen. Danach wäre ein Pflegeheim angebracht, es gibt da ein Haus in Elmshorn, das recht gut sein soll, da es überwiegend für jüngere Leute da ist.
Jörg selbst ist das Thema Zukunft nicht sehr lieb, von selbst spricht er nicht drüber. Und ich bin befangen. Der Psychologe meint ja, ich solle ihm einfach was erzählen, eine kleine Aufmunterung, ein Gespräch jede Woche, mehr müßte ich gar nicht tun, das wäre schon sehr viel. Aber wie, wenn er mich bloß noch mit großen Augen anstarrt, der von uns beiden immer derjenige mit den großen Sprüchen gewesen ist, und ich derjenige, der seine neuen Theorien beurteilen und seine neu erfundenen Gerichte probieren mußte? Da Jörg nichts sagt, fällt auch mir wenig ein. Was interessieren meine Schulgeschichten? Außerdem ist er ewig müde, antwortet einsilbig, nach einer Stunde spätestens mag er gar nicht mehr sprechen, manchmal dreht er plötzlich einfach den Kopf weg und macht die Augen zu. Und ich bin immer leicht beleidigt, schließlich bin ich eine gute Stunde mit dem Moped unterwegs gewesen durch den kalten Herbst, und der Rückweg im Dunkeln steht mir noch bevor. Die Sache bedrückt mich, ich schaff es einfach nicht, den Fröhlichen zu spielen.
„Sie müssen wissen“, sagt der Psychologe, „daß er stirbt. Sterben ist kein plötzliches Ereignis, sondern ein Prozeß, der sehr lange dauern kann. Er ist einfach nicht mehr der Mensch, den Sie kannten - das können Sie auch nicht verlangen - sondern er zieht sich langsam zurück auf immer einfachere Lebensfunktionen.“

Einmal, als ich gerade gehe, treff ich den Psychologen auf dem Flur, auch er in Eile. „Aber Ihnen geht´s soweit gut?“ fragt er im Vorübergehen. Ich bestätige. „Ja, man sieht’s.“ Dann steh ich in der dunklen Bernhard-Nocht-Straße und heule. Und weiß gar nicht, ob um mich oder um Jörg.

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Dienstag, 6. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 2
Am nächsten Tag. Jörg sieht schon besser aus, spricht aber immer noch nicht. Ich werde zur behandelnden Ärztin gebeten. Wir sitzen in einem engen Zimmerchen voll medizinischer Geräte. Sie ist ungefähr so alt wie ich, blond mit einem runden Gesicht, sehr gutaussehend und spricht einen südlichen Dialekt. „Und Sie sind der Freund?“ - „?“ - „... ich meine, der Partner.“ Die Verwechslung ist mir peinlich Ihr nicht. Sie erklärt sachlich, was los ist, daß er wirklich nicht sprechen kann. Toxoplasmose, heißt das und ruft irgendwelche Lähmungen hervor. Er hatte mal wieder die vorbeugenden Medikamente nicht genommen, und dann muß es wohl ganz plötzlich gekommen sein. Wie es weitergeht, könne keiner voraussagen: ob und wie weit er sich erholt. Zum Schluß frage ich sie, wo sie herstammt. Sie lacht. „Aus München.“

Einmal die Woche fahr ich jetzt immer hin, meistens dienstags, da paßt es mir ganz gut. „Ach, ich gucke meistens aus dem Fenster“, erzählt er mir (dann nach ein paar Tagen medikamenten-Einnahme war die Sprache natürlich wieder da), „z. B. die Lampen da auf dem Astra-Schild am Brauereihochhaus, weißt du, daß die sich gestern von der Mitte nach oben bewegt haben irgendwie? Ich würd auch gern wissen, was eigentlich auf dem Bild da drüben an der Wand drauf ist. Ich finde, es sieht aus wie Donald Duck.“ In Wirklichkeit ist ein Stilleben mit Blumen.

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Jörgs Geschichte, Teil 1
Wochentags am Nachmittag mit dem Moped in Hamburg. Ich hab nicht viel Zeit, muß in die StUB wegen Fachliteratur für meine 11. Klasse in Geschichte. Aber zwei Stunden für Jörg sind schon drin - ich hab über einen Monat nichts von ihm gehört. Ich kauf zwei Astra an meinem alten Kiosk in der Silbersackstraße - sie kosten immer noch nur 1,65. Jörg reagiert nicht auf das vereinbarte Zeichen: dreimal Klingeln, auch beim zweiten Mal nicht. Von seinen Ausflügen ist er doch sonst abends immer wieder da. Zumal jetzt, wo er nicht mehr radfahren kann. Als ich grad das Moped wieder abschließe, öffnet sich die Tür. Im ersten Moment erkenn ich ihn gar nicht: das Gesicht eingefallen, die Augen tief in die Höhlen zurückgetreten. Unter dem Bademantel und den Jogginghosen skeletthaft abgemagerte Füße. Solche Menschen hab ich bisher nur in Dokumentarfilmen über KZs gesehen. Er muß sich die halbe Treppe zur Wohnung mühsam am Geländer hochhangeln. Plumpst wortlos in einen Sessel im Wohnzimmer. Ich bin verwirrt, sage irgendwelche Floskeln. Dann: „Willst du nicht sprechen oder kannst du nicht?“ Bei Jörg weiß man nie. Er lächelt höhnisch. Ich mach vor Verlegenheit erstmal die Biere auf. Jörg hat enorme Mühe, die Flasche zu halten, ist aber offensichtlich glücklich über das Bier. Ich trinke und überleg dabei, was eigentlich los ist. Offenbar hat er lange nichts zu sich genommen. Ich erinnere mich an seine Resignation. Vielleicht wollte er einfach sterben, als er merkte, daß es schlimmer wird, und ich bin ihm dazwischengekommen.
„Ich brauch noch was zu essen.“ sag ich „Soll ich dir was mitbringen?“ Seine Augen leuchten. Ich nehm den Schlüssel und lauf los zur Reeperbahn. Was ist zu tun? Auf jeden Fall kann ich ihn heut abend nicht alleinlassen. Also Marina anrufen und sagen, daß ich morgens nicht zum Kollegiumsausflug komme. Erst in der dritten Kneipe kann ich telefonieren. Marina nicht zu Hause. Ich ruf Olaf an: „Ruf Marina an, sag, daß ich nicht kommen kann - ein Freund liegt im Sterben.“ Er ist so verwirrt wie ich. Jetzt Essen kaufen. Giros für mich, aber was kann Jörg überhaupt kauen? Ein Straßenverkäufer bietet Salzbrezeln an, maßlos teuer, aber was solls.
Jörg ist ziemlich enttäuscht über die Brezel, weitergetrunken hat er auch nicht, er konnte die Flasche nicht mehr halten. Gierig guckt er auf mein Giros. Also lauf ich in die Küche und schneid ihm die Hälfte von dem Zeug schön in kleine Stücke auf einen Teller und brings ihm. Jetzt kann er auch die Gabel nicht mehr halten. Als ich ihn füttern will, wehrt er ab, dann siegt der Hunger, und ich kann einiges reinstopfen. Dann treff ich Vorbereitungen für die Nacht. Hol die Gästematratze für mich. Sein Bett ist eingepißt, ich bezieh es neu und bring ich ihn ins Bett. Liege noch ewig wach und denke nach. Kein vernünftiger Gedanke außer: das Bier - was wenn er wieder einpinkelt? Gott sei Dank hör ich, wie er sich irgendwann zum Klo schleppt.
Morgens ist mir klar, daß ich doch einen Krankenwagen holen muß. Ich meine, ich kann ihn doch nicht einfach sterben lassen, auch wenn er es vielleicht will und nur weil er Krankenhäuser haßt. Natürlich frag ich ihn, ob das in Ordnung ist. Er nickt.
Die Leute vom Rettungswagen sind unmöglich: „Aber das ist doch ein Pflegefall, kein Notfall! Den dürfen wir nicht mitnehmen.“ - „Aber was soll ich mit ihm machen. Ich muß heut mittag nach Hause. Ich kann ihn doch nicht hier liegenlassen.“ Die Leute haben die Idee, im Zimmer nach der Adresse seines Arztes zu suchen, finden sie auch, aber der Arzt ist im Urlaub, und es läuft nur der Anrufbeantworter. Auf mein Betteln erklären sie sich bereit, ins Hafenkrankenhaus zu fahren, vielleicht daß die was mit ihm anfangen können. Und so ist es auch: Das Hafenkrankenhaus weiß, daß drei Häuser weiter im Tropeninstitut eine Aids-Ambulanz ist. Wir fahren hin, und es stellt sich heraus, daß Jörg dort in der Kartei steht und aufgenommen werden kann. Die Rettungsleute werfen ihn mit nacktem Unterkörper auf ein Bett dort, die Bettdecke nehmen sie wieder mit. Und ich verschwinde unter Zurücklassung meiner Telefonnummer sowie des Versprechens, morgen wiederzukommen. In Harburg komm ich grad noch rechtzeitig zur Geschichtsexkursion, wo mich Armin und Olaf löchern, was eigentlich los gewesen ist.

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Weiter mit Resteverwertung
Es ist doch zum Kotzen, ich arbeite ständig, um gerade mal das Nötigste zu verdienen! Und selbst ein harmloses Hobby wie dieses Blog kann nicht adäquat mit Texten bestückt werden, weil ich keine Zeit hab, auch nur irgendwas Sinnvolles zu schreiben. Daher erstmal weiter mit Resteverwertung. Auf meinem Computer liegt im Ordner "Alte Texte" noch ein Bericht über das Sterben von meinem Freund Jörg. Er war mein Nachbar in meinem ersten Hamberger Jahr 1990, und wir blieben befreundet, auch als ich dann wegzog.
Jörg hatte durch Drogensucht alles verloren, war aus einer Thearapieeinrichtung abgehauen und hatte als Obdachloser mit noch funktionierendem Hirn schnell eine kleine Sozialwohnung in St. Pauli bekommen. Dort lebte er zurückgezogen und HIV-positiv und wurde immer kauziger. Als er starb (das war Mitte der neunziger, es gab noch die D-Mark und das Hafenkrankenhaus), wohnte ich in Stade bei Hamburg. Er war 42 Jahre. Um seinen Namen der Vergessenehit zu entreißen, habe ich ihn nicht geändert. Er hieß wirklich Jörg Heuer.

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Montag, 24. März 2008
Orhan Pamuks "Istanbul" - So müsste man schreiben können!
Meine Bekanntschaft mit Orhan Pamuk verdanke ich dem Feuilleton. Das war entzückt von seinem Roman „Schnee“, für den er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam. Pamuk passte hervorragend ins Bild: Wer sonst könnte einem die rückständige Türkei erklären als ein liberaler Intellektueller, der tatsächlich von da stammt, jedoch schon als Jugendlicher im heimischen Istanbul eine amerikanische Schule besuchte und später in New York lebte?
Auch mich lockte „Schnee“, versprach der Roman laut der Rezensionen doch orientalische Exotik ebenso wie literarische Bezüge auf Kafka und Tonio Kröger, die meine engste literarische Heimat darstellen. Ich wagte es, das Buch neu, teuer und gebunden zu kaufen – und sollte nicht enttäuscht werden. Das wurde schon auf den ersten zwanzig Seiten klar. Da begibt sich die Hauptfigur auf eine umständliche, langatmig beschriebene Busreise in die winterliche Osttürkei, und es passiert nichts, außer dass man verzaubert wird. Das passiert langsam, unspektakulär, ganz ohne fantasymäßigen Thrill – das Abenteuer heißt ja auch Gegenwart ...
Aber ich will nicht abschweifen. Ich habe „Schnee“ (wirklich der beste Roman, den ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe) nur erwähnt, um verständlich zu machen, wie ich auf „Istanbul“, sein nächstes Buch, wartete. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein essayistisches Buch über die eigene Heimatstadt, also ein Text aus einem eher niedrigen, allenfalls journalistischen Genre, ähnlich großartig sein sollte wie ein richtiger Roman.
Understatement ist allerdings gerade der Trick des Buches. Pamuk beginnt, indem er ganz banal über seine Kindheit erzählt, über vorpubertäre Allmachtsphantasien eines weichen Kindes aus gutem Hause – und das Ganze auch noch mit Schnappschüssen aus dem Familienalbum illustriert. Im Folgenden wechseln Familienanekdötchen mit essayistischen Berichten über Istanbulansichten des 19. Jahrhunderts oder Lokalgrößen des Istanbuler Kulturlebens von anno dazumal. Einmal versteigt er sich sogar zu einer Beschreibung der speziell Istanbuler Melancholie in Form einer seitenlangen Aufzählung trauriger Dinge.
Erst nach 200 Seiten, der Hälfte des Buches, wenn alle politikfixierten Leser unweigerlich vergrault sind, lässt er die Katze aus dem Sack: Natürlich war das nicht naiv, sondern sehr bewusst politisch, dass er die finanziellen Verhältnisse seiner Familie, ihre konkreten Lebensgewohnheiten und Ansichten offen darlegt. Und es war auch kein sentimentales Sich-Verlieren, wenn er die malerischen Brände von alten Holzpalästen breit ausmalte, die er als Kind erlebt hat, oder die Autofahrten der Familie an den Bosporus. Er erzählt exemplarisch von sich: „So funktioniert das Leben bei uns.“ – um aufzuklären, nicht um irgendjemanden zu denunzieren (wie Aufklärung heute ja oft missverstanden wird). Die spielerischen Ausflüge in die Kulturgeschichte nutzt er dabei elegant, um historisch wie sozial über das Fallbeispiel seiner Familie hinauszuweisen.
In der zweiten Hälfte des Buches wird diese aufklärerische Absicht wie gesagt offensichtlich, so sehr sogar, dass sie auch in die Kapitelüberschriften Eingang findet: „Eroberung oder Fall? Die Türkisierung Konstantinopels“ oder gleich darauf „Religion“. Immer aber verankert er allgemeinere Aussagen im eigenen Erleben. Zum Beispiel erwähnt er unter „Türkisierung“ zwar die Zwänge des NATO-Mitglieds Türkei und ihrer Regierung in den fünfziger Jahren angesichts der Zypernkrise, ihr Schwanken zwischen Kuschen vor dem Westen und heimlicher Aufhetzung der eigenen Bevölkerung. Aber das ist nicht das Thema, das ist nur notwendige Hintergrundinformation. Das Thema ist, was dann tatsächlich in Istanbul los war und was er erlebt hat: die antigriechischen Pogrome. Oder er schildert seine pubertätstypischen Verrenkungen in Bezug auf die Religion (Wie streng soll man den Ramadan einhalten?), und plötzlich spürt man, das ist ja gar nicht allein sein Problem, das ist ja die Widersprüchlichkeit der ganzen Gesellschaft in religiösen Dingen.
Und überhaupt: „Fremd in einer ausländischen Schule“ heißt eine der schönsten Kapitelüberschriften. Aber wer ist hier gemeint? Orhan Pamuk oder Istanbul? Oder die ganze Türkei? Für diese mehrdeutigen Überschriften liebe ich dieses Buch. Denn sie zeigen den Sinn, den es überhaupt hat, über Politik nachzudenken: Ich lebe in der Welt, und deshalb möchte ich wissen, wie sie ist. Und was ich herausgefunden habe, das will ich auch sagen.
In Vorbereitung dieses Textes las ich in der Wikipedia, und da stand, dass manche Leser Pamuks kritische Ausführungen über die Türkei zum Anlass nahmen zu sagen: Na also, und so ein Land will nun in die EU. Was für ein Denkfehler! Dass wir keine solchen Bücher wie „Schnee“ oder „Istanbul“ haben, das liegt doch nicht daran, dass es in unserm Land nichts zu kritisieren gäbe – es liegt daran, dass wir keinen Orhan Pamuk haben!
Mir jedenfalls ist der Mann ein Vorbild: Er lässt sich nicht davon beirren, dass seine Aussagen (von seinen Befürwortern wie von seinen Gegnern) natürlich politisch missbraucht werden. Und lässt sich davon auch nicht hinreißen, sich in irgendwelche politischen Kämpfe einzuordnen. Sondern bleibt bei sich. Die letzte Kapitelüberschrift in „Istanbul“ lautet: „Ein Gespräch mit meiner Mutter: Geduld, Vorsicht, Kunst“.

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Freitag, 15. Februar 2008
Auch die Nazizeit eignet sich gut für Gruselgeschichten
Zu meinem Geburtstag kurz vor Weihnachten bekam ich ein Buch geschenkt: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne, einem jungen irischen Schriftsteller, der – wie der Klappentext vermerkt – Kreatives Schreiben studiert hat. Diese Creative-Writing-Bücher sind ja wie Kartoffelchips: Man kann einfach nicht aufhören. Also war ich nach wenigen Tagen durch – und platt vor Staunen, wie unbekümmert um historische Fakten man sich eines historischen Stoffs bedienen kann, offenbar weil NS und Auschwitz einfach den wirkungsvollsten Schockeffekt versprechen.

Als ich zu lesen begann, wusste ich noch nichts über das Buch. Aber schon nach wenigen Seiten schwante mir, dass es um die Nazizeit gehen könnte, da der Schauplatz Berlin war und die Figuren altertümliche deutsche Namen hatten. Zwar hieß die Hauptfigur untypisch deutsch Bruno. Damit wurde ihr gutes Herz angedeutet, während die böse Schwester mit dem Namen „Gretel“ gleich als Nazisse gekennzeichnet war (wie es in der Folge der „Todesfuge“ Klischee geworden ist). Aber mit der Nazizeit nicht genug – es ging gleich auch noch um Auschwitz: Der neunjährige Bruno und die zwölfjährige Gretel müssen überraschend packen, weil ihr Vater Kommandant von Auschwitz wird. Zuvor hatten sie in Berlin in einer Villa und abseits der sozialen und ideologischen Realität eine Reiche-Leute-Kindheit verbracht, die eher an die Familie eines hohen Staatsbeamten als an die eines SS-Offiziers denken ließ.
Merkwürdig auch die Ankunft in Auschwitz: Bruno und Gretel wussten nicht, wer gegenüber der Kommandantenvilla eingezäunt wohnt. Sie mutmaßten sogar, es könnte sich um Bauern handeln. Offenbar hatten sie bisher weder je einen Bauern gesehen noch waren sie mit der Blut-und-Boden-Ideologie und ihrer Bauernromantik irgendwie in Berührung gekommen. Auch dass es Juden gibt und was sie sind, war ihnen offensichtlich nicht klar.
War das Buch bis zu dieser Stelle nur äußerst unglaubwürdig, kippt es in der zweiten Hälfte völlig ins Surreale. Bruno schlendert am Zaun entlang und lernt ein einem Häftlingsjungen kennen. Unbemerkt vom Wachpersonal entwickelt sich eine intensive Freundschaft am Zaun. Gedrängt von der Sehnsucht, aus seinem behüteten, aber lieblosen Zuhause auszubrechen, lässt sich Bruno von seinem neuen Freund eine Häftlingsuniform besorgen, schlüpft durch den Zaun. Glücklich spaziert Bruno mit seinem Freund durchs Lager und endlich direkt in die Gaskammer.
In der Kommandantenvilla versteht niemand, wo Bruno abgeblieben ist. Aber über der Trauer zerbricht die Ehe. Die Mutter kehrt mit Gretel zurück in ihr Reiche-Leute-Berlin. Der Vater bleibt in Auschwitz, sinniert über Brunos am Zaun aufgefundene Kleidung, versteht und bereut. Bald darauf wird er verhaftet, folgt also seinem Sohn auf die Seite der Guten, der Unterdrückten.
So weit, so absurd. Natürlich war ich, der Rationalist in mir, zuerst wütend, wie man sich einen solchen Schwachsinn ausdenken kann. Immerhin hab ich auch mal Geschichte studiert, und dieses komplette Ignorieren der historischen Wirklichkeit, das tut mir einfach weh. Dann fragte ich mich, was der Autor eigentlich sagen wollte. Vieles in dem Buch deutet darauf hin, dass er eine Allgemeingültigkeit anstrebt, die über Auschwitz hinausweist. Und wenn man es ganz allgemein nimmt, ergibt das Ganze ja durchaus Sinn. Ja, es gibt vielerorts reiche Kinder, die so vollständig von der sozialen Realität in ihrem Land ferngehalten werden, wie Bruno und Gretel, Kinder, die allein mit der Mama und dem Dienstmädchen in einer Fantasiewelt leben, während der Papa draußen sein Ich für die Karriere verkauft. Und noch allgemeiner gesprochen, gilt das nicht nur für die reichen Kinder, sondern für alle, die in der traditionellen bürgerlichen Familienidyll-Ideologie aufwachsen. Wenn ein Jugendbuch diese Kinder ermuntert, an den Zaun zu gehen und zu fragen, wer dahinter wohnt, ist das an sich eine gute Sache.
Nur hat das nichts mit den Kindern der Nazizeit zu tun – die wurden ja im Gegenteil mit Politik und Ideologie geradezu überschüttet. Und vielleicht eignet sich die Nazizeit ja gerade auch deshalb so gut als das absolute Böse – weil sie so wenig mit unserer (westlich aufgeklärten) Lebenskultur, unseren Überzeugungen, unseren Leichen im Keller zu tun hat.
Aber diese kleinen Unterschiede scheinen dem Autor vernachlässigenswert. Die da oben sind die Bösen, die da unten sind die armen Unterdrückten, und wenn man soziale Ungerechtigkeit anprangern will, dann tut man das am besten, indem man mit den Begriffen Nationalsozialismus und Auschwitz operiert. Denn das verspricht den stärksten Effekt. Und der Effekt ist allemal wichtiger als die gedankliche Stimmigkeit, der Erfolg beweist das - das Internet ist voll von begeisterten Teenagern, die glauben, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ handle tatsächlich von der Nazizeit.
....
und demnächst: als Ausgleich eine positive Buchkritik zum Thema Vergangenheitsbewältigung (aber ich verrate noch nicht, was es ist)

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Ein Verriss weniger ...
Einen Verriss habe ich ich mir schenken können, weil ich mal wieder zu langsam war: Als ich las, dass im Fernsehen "Das Wunder von Berlin" kommt, ein Film über den Mauerfall mit Heino Ferch und Veronika Ferres, da war es schon einen Tag zu spät. Ich tröstete mich damit, dass mir eigentlich schon nach diesen eben genannten Daten (Titel und Hauptdarsteller) klar war, dass es sich vermutlich um minderwertige Durchschnittsware handelt. Aber man weiß ja nie.
Jetzt lese ich im Arztwartezimmer die (positive) Rezension dazu um Spiegel - und bin froh, dass ich das verpasst habe, schon allein aufgrund des angedeuteten Plots. Da besteht die ganze DDR nur aus schlechten (opportunistischen) und guten (idealistischen) Stasis und ein junger Mann reift bei der NVA zum Mann. Na, ich danke.
Offenbar lebt er noch, der Stalinismus - während hier im Westen die alten Ideologien vergessen sind - und die historischen Fakten gleich mit. Aber dazu der nächste Verriss, der sogleich folgt.

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Donnerstag, 8. November 2007
"An die Grenze" - Teil 5: Zum Abschluss ein paar Fotos
So, ich beende die DDR-Erinnerungs-Gruselserie mit ein paar Fotos aus dem Jahr 1995, als die Russen abzogen und auch besagtes Stadtviertel wieder der Öffentlichkeit zugänglich wurde. Sie sind durch Scannerprobleme leider etwas verfremdet, was ich aber gar nicht schlecht finde, da durch die falsche Belichtung alles noch düstererer aussieht. Deutlich zu erkennen ist, dass man Villen zu Gefängnissen umgearbeitet hat.







Man könnte jetzt sagen, das ist Schnee von gestern. Die Russen sind lange weg. Die Villen wurden restauriert und gehören jetzt wieder denen, die Geld haben. Das Thema DDR ist gut für Gruselgeschichten – hier in meinem Blog wie im ZDF oder bei der Oscar-Verleihung.
Aber einer von denen, die damals von Potsdam aus Bösewichter zu Tode hetzten, regiert jetzt in Moskau. Er jagt immer noch „Terroristen“ (so nennt man die Bösen heute) und versteht sich gut mit Terroristenjägern anderer Provenienz. Aber auch Tschetschenen, Afghanen und Iraker essen von Tellern. Dieses nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kann dieser Text vielleicht helfen.

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"An die Grenze" - Teil 4: Exkurs über Deserteure
Merkwürdig berührt hat mich in dem Film die Szene, wo der Deserteur zwei Grenzer erschießt. Das erschien mir ganz unglaubwürdig. Aber mein Gefühl trog: Das hat es wirklich gegeben. 1975 erschoss der NVA-Deserteur Werner Weinhold bei seiner Flucht zwei Grenzer. Als ich das im Internet nachrecherchierte, löste der Name „Weinhold“ löst in mir ein quälendes Gefühl aus. Es fühlte sich an wie irgendeine dieser Lügen, irgendwas von dem Blödsinn, mit dem damals alle, auch die Kinder (ich war 1975 neun), überschüttet wurden. Ungefähr sowas Ätzendes wie heute die Werbung. Nur kann eben Werbung mitunter richtige Informationen enthalten.
Weshalb ich bei der Szene unruhig und ärgerlich wurde, ist, weil ich beim Erscheinen des Deserteurs anderes assoziiert habe als den Werner Weinhold, der gemeint war. Ich dachte sofort an einen russischen Deserteur. (In Wirklichkeit ist nur einer der Grenzsoldaten-Erschießer ein Russe gewesen). Denn die Geschichten von diesen Verzweifelten waren die Gruselgeschichten meiner Kindheit.
Wir hatten sehr viele Russen in Potsdam, wo ich aufgewachsen bin. Zwischen meinem Zuhause und dem der meisten Spielkameraden war ein ganzes Stadtviertel, ein einst prächtiges Villenviertel, durch Zäune und Mauern abgetrennt und mit Wachtürmen versehen: Militärgericht und KGB-Zentrale der sowjetischen Truppen in Deutschland. Manchmal hörte man, dass wieder einer abgehauen sei. Ich stellte mir diese Menschen irgendwie wie wilde Tiere vor – wer sonst begibt sich, in der Regel unter der Anwendung von roher Gewalt, auf einen Weg, der mit 99%-iger Sicherheit innerhalb weniger Tage mit dem Tod endet? Einmal wurde ein leerstehendes Haus zwischen dem Russenviertel und der Grenze nach Westberlin (Entfernung ca. 2 km) in Brand geschossen, weil sich dort einer versteckt hatte. Und einmal stand auf der Seite 2 im „Neuen Deutschland“ unter „Innenpolitik“ folgende kryptische Nachricht: „Zwischenfall am Schkeuditzer Kreuz - Im Zuge der Verfolgung eines Rechtsbrecher wurden im Bereich des Schkeuditzer Autobahnkreuzes durch Angehörige der sowjetischen Truppen Warnschüsse abgefeuert. Um die Verkehrssicherheit nicht zu gefährden, wurde der gesamte Autobahnabschnitt für den Verkehr gesperrt.“
Als ich etwa fünfzehn, gab es große Aufregung. Ein Deserteur, von dem schon gemunkelt worden war, hatte sich offenbar ein paar Tage in der Datsche von der Familie meines Schulfreunds S. versteckt. Natürlich zog das umfangreiche Nachforschungen durch die „Organe“ nach sich. Ein paar Tage später hörte man, er sei tot. Wir bestürmten S. zu erzählen, wie denn nun alles gewesen sei. Ich glaube, es wurde auch ein durchschossener Metallzaunpfahl besichtigt (oder bauscht das meine erinnernde Phantasie auf?). Sicher weiß ich noch, dass S. vor allem eine Beobachtung bewegte: „Er hat das Geschirr abgewaschen.“ Offenbar war das also doch kein sibirisches Waldmonster ...

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Sonntag, 4. November 2007
"An die Grenze" - Teil 3: Unter Grenzern
Das soll nicht heißen, dass mein Vater ein Oppositioneller gewesen wäre. Auch er spielte seine Rolle im System und versuchte, für seinen Sohn eine möglichst ehrenvolle (also auch ideologieferne) Karriere anzuschieben – wie es auch der Vater im Film tat und mit ihm vermutlich ziemlich viele Väter dieser Welt. Am Beginn einer solchen Karriere stand der richtige Studienplatz. Als der meinige „hintenrum“ organisiert wurde, erreichte meinen Vater die inoffizielle Information: „Also, freiwillig zum Reserveoffizier müsste er sich schon melden, wenn er schon nicht drei Jahre zur Armee geht.“ Ich tat wie geheißen. Als ich später aus Schule und Elternhaus entlassen wurde, nämlich direkt in die Armee, erübrigte sich diese Verpflichtung, da die Staatsmacht meine Sympathie für „Staatsfeinde“ (Originalton Oberstleutnant Knaf)) erkannte und dankend auf meine Bereitschaft mitzumachen verzichtete (vgl. Armeezeit, Teil 21).
Was das alles mit den Grenzern zu tun hat? Ganz einfach: Als ich später doch noch studieren durfte, musste ich wie jeder Student für einen Monat als Reservist zur Armee. Alle meine Kommilitonen waren Reserveoffiziere und kamen in eine andere Einheit. Ich fand mich wieder in einer Einheit, die fast nur aus ehemaligen Grenzern bestand – denn die wurden aus irgendwelchen Gründen nie Reserveoffiziere. Unter den Kameraden meiner Stube war übrigens kein einziger begeisterter Anhänger des DDR-Systems (von denen es doch in jeder Schulklasse immerhin 2 – 3 gab), alle waren brave, ordentliche, rechtschaffene Menschen.
Als abends Erinnerungen an den Postendienst ausgetauscht wurden, erzählte einer: „Eines Abends wurde urplötzlich der ganze Dienstplan umgeschmissen. Wir kriegten frei, und Stasi-Truppen zogen auf. In der Nacht gab es einen erfolgreichen Grenzdurchbruch ... da haben die sicher einen Spion rübergeschleust ...“ – „Weißt du was“, erwiderte ein anderer, „genau dasselbe ist bei uns auch mal passiert. Da hab ich nie mir was gedacht dabei ...“
Es ist schon richtig, dass Grenzsoldaten, wenn sie erstmal da standen im Postenbereich, so ziemlich in der Zwickmühle waren – in einer „No-win“-Situation, wie Kolditz sagte. Eine Wahlmöglichkeit hatten sie aber immer noch: Sie konnten die Augen offen halten und begreifen, was geschah – oder ohne nachzudenken das Ganze über sich ergehen lassen. Was im äußersten Fall auch hieß, wie befohlen einen Menschen zu erschießen.

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Mittwoch, 31. Oktober 2007
"An die Grenze" - Teil 2: Gerüchte – Angst machende und Mut machende
Leider hat Kolditz dieses Stichwort vom Militärknast in Schwedt nur im Interview mit Kerner gebracht, im Film kommt es nicht vor – schade, es wäre ein schöner Anlass gewesen zu zeigen, wie das System Grenze funktionierte, wie man Unschuldige dazu brachte, Unschuldige zu erschießen: indem man nämlich junge Menschen durch Angst in die Unmenschlichkeit trieb.
Auch ich (als normaler NVA-Soldat) kannte die Erzählung von „Schwedt“. Wir stellten uns das Militärgefängnis vor wie die Hölle. Ob es das war, weiß ich nicht – vermutlich ja. Ich weiß nur, dass die Androhung von „Schwedt“ immer das letzte Argument der Offiziere war. Das zog immer – und veranlasste uns zur Ausführung jeglichen Befehls.
Übrigens gibt es auch eine andere Erzählung als die von Schwedt. Als mir der Grenzdienst drohte, ist sie mir begegnet. Ich hatte als Oberschüler die übliche „freiwillige“ Verpflichtung zum dreijährigen Unteroffiziersdienst (stat1,5 Jahre als Soldat) verweigert und mich nicht getraut, nun auch noch den Grenzdienst zu verweigern (was mancher Mitschüler sich traute). Prompt wurde ich bei der Musterung nochmals ausdrücklich gefragt, ob ich bereit wäre, zur Grenze zu gehen. Ich sagte „ja“ und begann zu zittern. Später erzählten mir Freunde, man könne auch noch nach dem Einziehen zu den Grenzsoldaten den Schießbefehl verweigern – und würde dann eben nicht zum Postendienst eingeteilt. Es soll einen jungen Mann gegeben haben, der bei den Grenztruppen einfach Koch wurde, weil er sich während der Grundausbildung entsprechend geäußert hatte. Vielleicht stimmt auch diese Geschichte, ebenso wie die Gerüchte über Schwedt. Sie hat mir damals viel Mut gemacht.
Ach, und warum ich dann doch nicht zur Grenze gezogen wurde, stellte sich erst nach der Wende heraus: Das Wehrkreiskommando machte bei den für die Grenzer vorgesehenen jungen Männern eine Regelanfrage bei der Stasi. Da in dieser Zeit gerade ein „Operativer Vorgang“ (Bespitzelungsmaßnahme) gegen meinen Vater lief, blieb ich verschont.

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