Freitag, 15. Februar 2008
Auch die Nazizeit eignet sich gut für Gruselgeschichten
Zu meinem Geburtstag kurz vor Weihnachten bekam ich ein Buch geschenkt: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne, einem jungen irischen Schriftsteller, der – wie der Klappentext vermerkt – Kreatives Schreiben studiert hat. Diese Creative-Writing-Bücher sind ja wie Kartoffelchips: Man kann einfach nicht aufhören. Also war ich nach wenigen Tagen durch – und platt vor Staunen, wie unbekümmert um historische Fakten man sich eines historischen Stoffs bedienen kann, offenbar weil NS und Auschwitz einfach den wirkungsvollsten Schockeffekt versprechen.

Als ich zu lesen begann, wusste ich noch nichts über das Buch. Aber schon nach wenigen Seiten schwante mir, dass es um die Nazizeit gehen könnte, da der Schauplatz Berlin war und die Figuren altertümliche deutsche Namen hatten. Zwar hieß die Hauptfigur untypisch deutsch Bruno. Damit wurde ihr gutes Herz angedeutet, während die böse Schwester mit dem Namen „Gretel“ gleich als Nazisse gekennzeichnet war (wie es in der Folge der „Todesfuge“ Klischee geworden ist). Aber mit der Nazizeit nicht genug – es ging gleich auch noch um Auschwitz: Der neunjährige Bruno und die zwölfjährige Gretel müssen überraschend packen, weil ihr Vater Kommandant von Auschwitz wird. Zuvor hatten sie in Berlin in einer Villa und abseits der sozialen und ideologischen Realität eine Reiche-Leute-Kindheit verbracht, die eher an die Familie eines hohen Staatsbeamten als an die eines SS-Offiziers denken ließ.
Merkwürdig auch die Ankunft in Auschwitz: Bruno und Gretel wussten nicht, wer gegenüber der Kommandantenvilla eingezäunt wohnt. Sie mutmaßten sogar, es könnte sich um Bauern handeln. Offenbar hatten sie bisher weder je einen Bauern gesehen noch waren sie mit der Blut-und-Boden-Ideologie und ihrer Bauernromantik irgendwie in Berührung gekommen. Auch dass es Juden gibt und was sie sind, war ihnen offensichtlich nicht klar.
War das Buch bis zu dieser Stelle nur äußerst unglaubwürdig, kippt es in der zweiten Hälfte völlig ins Surreale. Bruno schlendert am Zaun entlang und lernt ein einem Häftlingsjungen kennen. Unbemerkt vom Wachpersonal entwickelt sich eine intensive Freundschaft am Zaun. Gedrängt von der Sehnsucht, aus seinem behüteten, aber lieblosen Zuhause auszubrechen, lässt sich Bruno von seinem neuen Freund eine Häftlingsuniform besorgen, schlüpft durch den Zaun. Glücklich spaziert Bruno mit seinem Freund durchs Lager und endlich direkt in die Gaskammer.
In der Kommandantenvilla versteht niemand, wo Bruno abgeblieben ist. Aber über der Trauer zerbricht die Ehe. Die Mutter kehrt mit Gretel zurück in ihr Reiche-Leute-Berlin. Der Vater bleibt in Auschwitz, sinniert über Brunos am Zaun aufgefundene Kleidung, versteht und bereut. Bald darauf wird er verhaftet, folgt also seinem Sohn auf die Seite der Guten, der Unterdrückten.
So weit, so absurd. Natürlich war ich, der Rationalist in mir, zuerst wütend, wie man sich einen solchen Schwachsinn ausdenken kann. Immerhin hab ich auch mal Geschichte studiert, und dieses komplette Ignorieren der historischen Wirklichkeit, das tut mir einfach weh. Dann fragte ich mich, was der Autor eigentlich sagen wollte. Vieles in dem Buch deutet darauf hin, dass er eine Allgemeingültigkeit anstrebt, die über Auschwitz hinausweist. Und wenn man es ganz allgemein nimmt, ergibt das Ganze ja durchaus Sinn. Ja, es gibt vielerorts reiche Kinder, die so vollständig von der sozialen Realität in ihrem Land ferngehalten werden, wie Bruno und Gretel, Kinder, die allein mit der Mama und dem Dienstmädchen in einer Fantasiewelt leben, während der Papa draußen sein Ich für die Karriere verkauft. Und noch allgemeiner gesprochen, gilt das nicht nur für die reichen Kinder, sondern für alle, die in der traditionellen bürgerlichen Familienidyll-Ideologie aufwachsen. Wenn ein Jugendbuch diese Kinder ermuntert, an den Zaun zu gehen und zu fragen, wer dahinter wohnt, ist das an sich eine gute Sache.
Nur hat das nichts mit den Kindern der Nazizeit zu tun – die wurden ja im Gegenteil mit Politik und Ideologie geradezu überschüttet. Und vielleicht eignet sich die Nazizeit ja gerade auch deshalb so gut als das absolute Böse – weil sie so wenig mit unserer (westlich aufgeklärten) Lebenskultur, unseren Überzeugungen, unseren Leichen im Keller zu tun hat.
Aber diese kleinen Unterschiede scheinen dem Autor vernachlässigenswert. Die da oben sind die Bösen, die da unten sind die armen Unterdrückten, und wenn man soziale Ungerechtigkeit anprangern will, dann tut man das am besten, indem man mit den Begriffen Nationalsozialismus und Auschwitz operiert. Denn das verspricht den stärksten Effekt. Und der Effekt ist allemal wichtiger als die gedankliche Stimmigkeit, der Erfolg beweist das - das Internet ist voll von begeisterten Teenagern, die glauben, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ handle tatsächlich von der Nazizeit.
....
und demnächst: als Ausgleich eine positive Buchkritik zum Thema Vergangenheitsbewältigung (aber ich verrate noch nicht, was es ist)

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Ein Verriss weniger ...
Einen Verriss habe ich ich mir schenken können, weil ich mal wieder zu langsam war: Als ich las, dass im Fernsehen "Das Wunder von Berlin" kommt, ein Film über den Mauerfall mit Heino Ferch und Veronika Ferres, da war es schon einen Tag zu spät. Ich tröstete mich damit, dass mir eigentlich schon nach diesen eben genannten Daten (Titel und Hauptdarsteller) klar war, dass es sich vermutlich um minderwertige Durchschnittsware handelt. Aber man weiß ja nie.
Jetzt lese ich im Arztwartezimmer die (positive) Rezension dazu um Spiegel - und bin froh, dass ich das verpasst habe, schon allein aufgrund des angedeuteten Plots. Da besteht die ganze DDR nur aus schlechten (opportunistischen) und guten (idealistischen) Stasis und ein junger Mann reift bei der NVA zum Mann. Na, ich danke.
Offenbar lebt er noch, der Stalinismus - während hier im Westen die alten Ideologien vergessen sind - und die historischen Fakten gleich mit. Aber dazu der nächste Verriss, der sogleich folgt.

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Donnerstag, 8. November 2007
"An die Grenze" - Teil 5: Zum Abschluss ein paar Fotos
So, ich beende die DDR-Erinnerungs-Gruselserie mit ein paar Fotos aus dem Jahr 1995, als die Russen abzogen und auch besagtes Stadtviertel wieder der Öffentlichkeit zugänglich wurde. Sie sind durch Scannerprobleme leider etwas verfremdet, was ich aber gar nicht schlecht finde, da durch die falsche Belichtung alles noch düstererer aussieht. Deutlich zu erkennen ist, dass man Villen zu Gefängnissen umgearbeitet hat.







Man könnte jetzt sagen, das ist Schnee von gestern. Die Russen sind lange weg. Die Villen wurden restauriert und gehören jetzt wieder denen, die Geld haben. Das Thema DDR ist gut für Gruselgeschichten – hier in meinem Blog wie im ZDF oder bei der Oscar-Verleihung.
Aber einer von denen, die damals von Potsdam aus Bösewichter zu Tode hetzten, regiert jetzt in Moskau. Er jagt immer noch „Terroristen“ (so nennt man die Bösen heute) und versteht sich gut mit Terroristenjägern anderer Provenienz. Aber auch Tschetschenen, Afghanen und Iraker essen von Tellern. Dieses nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kann dieser Text vielleicht helfen.

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"An die Grenze" - Teil 4: Exkurs über Deserteure
Merkwürdig berührt hat mich in dem Film die Szene, wo der Deserteur zwei Grenzer erschießt. Das erschien mir ganz unglaubwürdig. Aber mein Gefühl trog: Das hat es wirklich gegeben. 1975 erschoss der NVA-Deserteur Werner Weinhold bei seiner Flucht zwei Grenzer. Als ich das im Internet nachrecherchierte, löste der Name „Weinhold“ löst in mir ein quälendes Gefühl aus. Es fühlte sich an wie irgendeine dieser Lügen, irgendwas von dem Blödsinn, mit dem damals alle, auch die Kinder (ich war 1975 neun), überschüttet wurden. Ungefähr sowas Ätzendes wie heute die Werbung. Nur kann eben Werbung mitunter richtige Informationen enthalten.
Weshalb ich bei der Szene unruhig und ärgerlich wurde, ist, weil ich beim Erscheinen des Deserteurs anderes assoziiert habe als den Werner Weinhold, der gemeint war. Ich dachte sofort an einen russischen Deserteur. (In Wirklichkeit ist nur einer der Grenzsoldaten-Erschießer ein Russe gewesen). Denn die Geschichten von diesen Verzweifelten waren die Gruselgeschichten meiner Kindheit.
Wir hatten sehr viele Russen in Potsdam, wo ich aufgewachsen bin. Zwischen meinem Zuhause und dem der meisten Spielkameraden war ein ganzes Stadtviertel, ein einst prächtiges Villenviertel, durch Zäune und Mauern abgetrennt und mit Wachtürmen versehen: Militärgericht und KGB-Zentrale der sowjetischen Truppen in Deutschland. Manchmal hörte man, dass wieder einer abgehauen sei. Ich stellte mir diese Menschen irgendwie wie wilde Tiere vor – wer sonst begibt sich, in der Regel unter der Anwendung von roher Gewalt, auf einen Weg, der mit 99%-iger Sicherheit innerhalb weniger Tage mit dem Tod endet? Einmal wurde ein leerstehendes Haus zwischen dem Russenviertel und der Grenze nach Westberlin (Entfernung ca. 2 km) in Brand geschossen, weil sich dort einer versteckt hatte. Und einmal stand auf der Seite 2 im „Neuen Deutschland“ unter „Innenpolitik“ folgende kryptische Nachricht: „Zwischenfall am Schkeuditzer Kreuz - Im Zuge der Verfolgung eines Rechtsbrecher wurden im Bereich des Schkeuditzer Autobahnkreuzes durch Angehörige der sowjetischen Truppen Warnschüsse abgefeuert. Um die Verkehrssicherheit nicht zu gefährden, wurde der gesamte Autobahnabschnitt für den Verkehr gesperrt.“
Als ich etwa fünfzehn, gab es große Aufregung. Ein Deserteur, von dem schon gemunkelt worden war, hatte sich offenbar ein paar Tage in der Datsche von der Familie meines Schulfreunds S. versteckt. Natürlich zog das umfangreiche Nachforschungen durch die „Organe“ nach sich. Ein paar Tage später hörte man, er sei tot. Wir bestürmten S. zu erzählen, wie denn nun alles gewesen sei. Ich glaube, es wurde auch ein durchschossener Metallzaunpfahl besichtigt (oder bauscht das meine erinnernde Phantasie auf?). Sicher weiß ich noch, dass S. vor allem eine Beobachtung bewegte: „Er hat das Geschirr abgewaschen.“ Offenbar war das also doch kein sibirisches Waldmonster ...

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Sonntag, 4. November 2007
"An die Grenze" - Teil 3: Unter Grenzern
Das soll nicht heißen, dass mein Vater ein Oppositioneller gewesen wäre. Auch er spielte seine Rolle im System und versuchte, für seinen Sohn eine möglichst ehrenvolle (also auch ideologieferne) Karriere anzuschieben – wie es auch der Vater im Film tat und mit ihm vermutlich ziemlich viele Väter dieser Welt. Am Beginn einer solchen Karriere stand der richtige Studienplatz. Als der meinige „hintenrum“ organisiert wurde, erreichte meinen Vater die inoffizielle Information: „Also, freiwillig zum Reserveoffizier müsste er sich schon melden, wenn er schon nicht drei Jahre zur Armee geht.“ Ich tat wie geheißen. Als ich später aus Schule und Elternhaus entlassen wurde, nämlich direkt in die Armee, erübrigte sich diese Verpflichtung, da die Staatsmacht meine Sympathie für „Staatsfeinde“ (Originalton Oberstleutnant Knaf)) erkannte und dankend auf meine Bereitschaft mitzumachen verzichtete (vgl. Armeezeit, Teil 21).
Was das alles mit den Grenzern zu tun hat? Ganz einfach: Als ich später doch noch studieren durfte, musste ich wie jeder Student für einen Monat als Reservist zur Armee. Alle meine Kommilitonen waren Reserveoffiziere und kamen in eine andere Einheit. Ich fand mich wieder in einer Einheit, die fast nur aus ehemaligen Grenzern bestand – denn die wurden aus irgendwelchen Gründen nie Reserveoffiziere. Unter den Kameraden meiner Stube war übrigens kein einziger begeisterter Anhänger des DDR-Systems (von denen es doch in jeder Schulklasse immerhin 2 – 3 gab), alle waren brave, ordentliche, rechtschaffene Menschen.
Als abends Erinnerungen an den Postendienst ausgetauscht wurden, erzählte einer: „Eines Abends wurde urplötzlich der ganze Dienstplan umgeschmissen. Wir kriegten frei, und Stasi-Truppen zogen auf. In der Nacht gab es einen erfolgreichen Grenzdurchbruch ... da haben die sicher einen Spion rübergeschleust ...“ – „Weißt du was“, erwiderte ein anderer, „genau dasselbe ist bei uns auch mal passiert. Da hab ich nie mir was gedacht dabei ...“
Es ist schon richtig, dass Grenzsoldaten, wenn sie erstmal da standen im Postenbereich, so ziemlich in der Zwickmühle waren – in einer „No-win“-Situation, wie Kolditz sagte. Eine Wahlmöglichkeit hatten sie aber immer noch: Sie konnten die Augen offen halten und begreifen, was geschah – oder ohne nachzudenken das Ganze über sich ergehen lassen. Was im äußersten Fall auch hieß, wie befohlen einen Menschen zu erschießen.

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Mittwoch, 31. Oktober 2007
"An die Grenze" - Teil 2: Gerüchte – Angst machende und Mut machende
Leider hat Kolditz dieses Stichwort vom Militärknast in Schwedt nur im Interview mit Kerner gebracht, im Film kommt es nicht vor – schade, es wäre ein schöner Anlass gewesen zu zeigen, wie das System Grenze funktionierte, wie man Unschuldige dazu brachte, Unschuldige zu erschießen: indem man nämlich junge Menschen durch Angst in die Unmenschlichkeit trieb.
Auch ich (als normaler NVA-Soldat) kannte die Erzählung von „Schwedt“. Wir stellten uns das Militärgefängnis vor wie die Hölle. Ob es das war, weiß ich nicht – vermutlich ja. Ich weiß nur, dass die Androhung von „Schwedt“ immer das letzte Argument der Offiziere war. Das zog immer – und veranlasste uns zur Ausführung jeglichen Befehls.
Übrigens gibt es auch eine andere Erzählung als die von Schwedt. Als mir der Grenzdienst drohte, ist sie mir begegnet. Ich hatte als Oberschüler die übliche „freiwillige“ Verpflichtung zum dreijährigen Unteroffiziersdienst (stat1,5 Jahre als Soldat) verweigert und mich nicht getraut, nun auch noch den Grenzdienst zu verweigern (was mancher Mitschüler sich traute). Prompt wurde ich bei der Musterung nochmals ausdrücklich gefragt, ob ich bereit wäre, zur Grenze zu gehen. Ich sagte „ja“ und begann zu zittern. Später erzählten mir Freunde, man könne auch noch nach dem Einziehen zu den Grenzsoldaten den Schießbefehl verweigern – und würde dann eben nicht zum Postendienst eingeteilt. Es soll einen jungen Mann gegeben haben, der bei den Grenztruppen einfach Koch wurde, weil er sich während der Grundausbildung entsprechend geäußert hatte. Vielleicht stimmt auch diese Geschichte, ebenso wie die Gerüchte über Schwedt. Sie hat mir damals viel Mut gemacht.
Ach, und warum ich dann doch nicht zur Grenze gezogen wurde, stellte sich erst nach der Wende heraus: Das Wehrkreiskommando machte bei den für die Grenzer vorgesehenen jungen Männern eine Regelanfrage bei der Stasi. Da in dieser Zeit gerade ein „Operativer Vorgang“ (Bespitzelungsmaßnahme) gegen meinen Vater lief, blieb ich verschont.

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Mittwoch, 31. Oktober 2007
"An die Grenze" - Teil1: Dramaturgie kontra Authentizität
Aus gegebenem Anlass noch mal das DDR-Thema. Gestern Abend kam „An die Grenze“, ein Fernsehfilm als Innenansicht der DDR-Grenztruppen. Das wollt ich natürlich sehen, aber dann war doch das Abendessen wichtiger, ich schaltete den Recorder ein und war erst in der zweiten Hälfte des Films mit dabei und fand das alles ziemlich blöd.
Aber wie es so ist mit den Themen, die einen umtreiben: Es ließ mir keine Ruhe, die für heute Morgen geplante Schreibtischarbeit blieb liegen und ich sah im Internet nach. Konnte kaum glauben, dass der Drehbuchautor (Stefan Kolditz) tatsächlich Zeitzeuge gewesen sein sollte. Ich schaltete spontan den Recorder an und sah noch mal von Anfang an. Und tatsächlich, da war sie, die Authentizität: die Naivität des Haupthelden, die rüden, coolen Sprüche der Eks (Entlassungskandidaten) und das hilflose Herumgebrülle und die noch hilfloseren ideologischen Floskeln der Offiziere. Den Kompaniechef hab ich direkt wiedererkannt – auch meiner war so ein Militärspießer, der mit engstirniger Professionalität und kindlicher Begeisterung sein absurdes Handwerk betrieb, als ginge es darum, ein Fenster zu zimmern.
Schlecht wurde der Film erst, als die Handlung richtig einsetzte und die eisernen Gesetze der Dramaturgie die Wahrhaftigkeit verdrängten. Eine Liebesgeschichte musste natürlich her, natürlich muss die Frau am Ende untreu sein (Frauen sind ja als Verkörperung der Leidenschaft per se untreue Wesen), und zum Schluss kommt es zum Showdown zwischen den männlichen Gegenspielern. Das ist nun mal so, seitdem es Western gibt, und natürlich gewinnt der Gute, weil er treue Freunde hat.
Aber vermutlich ging es ja auch gar nicht um diese triviale Handlung – sondern darum, dass ein ehemaliger Grenzsoldat in vielen kleinen Details seine Vergangenheit rechtfertigt. Das ist sein gutes Recht, und die gelieferten Argumente sind überwiegend stichhaltig. Es ist sicher richtig, dass die Grenzsoldaten möglichst in die Beine schießen und nur im Notfall töten sollten. Ohne Zweifel ist auch richtig, dass auch Grenzsoldaten von Grenzverletzern erschossen wurden. Und vermutlich stimmt es auch, dass Grenzsoldaten, die im Fall des Falles nachweislich nicht von der Schusswaffe Gebrauch machten, „Schwedt“ drohte.

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Dienstag, 16. Oktober 2007
Die Tagung, Teil 2 und Ende
Mir leuchtete das ein, ich hätte gern noch ein paar Für- und Gegenargumente gehört, aber es war ja schon spät, die Zeit überschritten, man musste sich schnell noch über Reisekostenabrechnung und Tagungsband verständigen, bevor es zum gemeinsamen Abendessen ging. Ich war ja nur Gast und ging allein zu meinem Rad. Als ich nach Hause fuhr, wurde ich an der Ecke Wilhelm-Kaisen-Brücke – Osterdeich vom Straßenrand aus angerufen: Astrid und ihr Freund mit Fahrrädern, Christian war auch dabei, er schob einen Kinderwagen mit der kleinen Johanna. Das war schön, wir freuten uns alle. Aber es war dunkel und kalt, die Gruppe löste sich bald auf. Als mich Astrid zum Abschied am Arm fassen wollte, war ich schon aufs Rad gestiegen.
Der Sonntag war das beste. Ich hatte mich eingewöhnt in meinem Stuhl und saß gemütlich da und genoss die Vorträge: über den „Weiberroman“, den ich kenne und liebe, auch einen schönen Überblick über die Popliteraten inklusive geistesgeschichtlicher Einordnung. E.s Vortrag bildete den Abschluss der Tagung. Es ging auf Sonntag Mittag, man lehnte sich zurück, um ein paar kluge Worte über Michel Houellebecq, den Modeautor unserer Tage, zu hören. Als die Moderatorin des Tages wie üblich den Redner vorstellen wollte, wurde sie von E. unterbrochen: Das wäre doch nicht nötig. Seine Auszeichnung bestand darin, nicht vorgestellt werden zu müssen. Und er enttäuschte nicht: Sachlich und farbig, mit ins Ohr gehender Leichtigkeit näherte er sich diesen selbst- und menschenhasserischen Texten, erleichterte Verstehen und weckte Wohlwollen, ohne den Autor zu überschätzen. Es schien mir, als übertrage sich E.s eigenes Verstehenwollen der sperrigen Materie sympathethisch auf seine Zuhörer. Aber natürlich nicht auf Professor A. Der fragte in der anschließenden Diskussion seinen gleichaltrigen Kollegen, wie denn das möglich sei, was er eben gehört habe, dieses identifizierende Lesen von Anti-68er-Literatur durch einen 68er. Wahrscheinlich durfte die Konferenz nicht enden, bevor nicht dieser Gegenschlag getan war. E. schluckte. „Was soll der Analysant sagen, wenn der Analytiker gesprochen hat?“ konterte er dann, und das verschaffte seiner Verteidigungsrede einen sicheren Ort. Dann mauerte er weiter: 68er sei er in dem Sinne ja nie gewesen ... er stockte, eine Sekunde kämpfte er sichtlich mit sich. Dann argumentierte er plötzlich ganz anders: „Ich finde das keinen Verrat ...“ – „Verrat habe ich nicht gesagt.“ warf A. ein – „... wenn ich das, was ich damals mit Marquis Posa gedacht habe, nämlich dass man nie um Haaresbreite von seiner Überzeugung abweichen dürfe, wenn ich das jetzt nicht mehr finde.“ Einen Augenblick nur gab es ein erstauntes Schweigen in der Runde ob dieses Bekenntnisses, dann hatte wieder der Lektor das Wort und es wurde scharf geschossen: Es müsse doch auch gesagt werden dürfen, wie der unbewusste Hedonismus der 68er zur Ausweitung der kapitalistischen Kampfzone geführt habe. Oder so. Ich beugte mich vor, um das Gesicht des Redners in den Blick zu bekommen – er saß heute ganz hinten, noch hinter A., der sich mit linker Bescheidenheit mitten ins Publikum platziert hatte. Ich beugte mich vor, aber ich fuhr gleich zurück, um nicht der schönen Blonden ins Auge blicken zu müssen, die direkt neben dem Lektor saß. Im Zurücklehnen nahm ich nur noch kurz wahr, wie A. langsam und mit verachtungsvoller Würde den Kopf zur Seite wendete, um nach hinten, um dem Lektor ins Gesicht zu sehen.

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Freitag, 12. Oktober 2007
Die Tagung, Teil 1
Am Freitag war ja noch alles gut gegangen – die ersten zwei Vorträge hatte ich mir nämlich gespart und war erst zur Abendveranstaltung gekommen, einer Autorenlesung, und da war Nicola in einem langen schwarzen Kleid, ich hatte also eine Frau zum Mich-Festhalten. Wir standen am Büchertisch, ich mischte mich in ihr Gespräch mit dem Buchhändler und gab meine Meinungen zum Besten. Der Buchhändler war beleidigt. Nicola lachte. Dann kam auch Professor E. vorbei und wandte lächelnd ein paar leutselige, allgemeine Worte an die jungen Gäste seiner Veranstaltung.
Samstag war ich allein. Herbstsonne überflutete den wohlbekannten Saal des Gästehauses, die Glastüren ließen den Blick über den Fluss frei, so dass gleich hinter den an der Seite Sitzenden die Gebäude am anderen Ufer zusehen waren: die Häuser am Hafen, die rote Backsteinfront der Martinikirche, das golden blitzende Ziffernblatt der Turmuhr. Zuerst redete Professor A., er trug ein weiches, dunkles Sakko und das gütig-vernünftige Gesicht eines weise gewordenen Aufklärers. Mit überlegener Offenheit wandte er den Diskursbegriff der Jüngeren auf die Literatur der ganz Jungen an. Befragte die Fragwürdigkeit eines Generationenbegriffs, der sich, eine angriffslustige Konstruktion, gegen die emanzipatorischen Ideen seiner eigenen Generation, der 68er, richte. Wenn schon etwas die junge Generation geprägt habe, schloss er, dann die „revolutionsartigen Ereignisse“ des Jahres 1989, in denen er eine Vollendung von 1968 sah. Mir stockte der Atem: Kaum eingewöhnt in die kluge Wärme seines verständnisvollen Tones nun diese Wendung zu selbstbezogener Arroganz, war er mir nur noch der etablierte Westdeutsche, der die Interpretationshoheit über Ostdeutschland behauptet. In das Schweigen im Saal hinein war plötzlich E.s Stimme zu vernehmen. Er eröffnete die Diskussion elegant mit sachlicher Kritik an der Methodik des Vortrags. Den folgenden Emotionsausbrüchen Jüngerer war die Spitze genommen.
Diese Jüngeren bildeten natürlich den Ton auf der Tagung: ein skurriler Mann mit Halbglatze, der darüber spottete, mit 45 Jahren noch als Nachwuchswissenschaftler zu gelten, ein Lektor, der habilitierter Germanist war, Herr P., der an der Uni Landeskunde für Ausländer unterrichtet. Auch Frauen waren einige vertreten, eine von ihnen war die eigentliche Organisatorin der Veranstaltung. Als Wissenschaftlerinnen hatten sie aber eine weniger gewichtige Stimme, was sich vor allem dadurch ausdrückte, dass ihre Beiträge übermäßig höflich gelobt wurden.
Eine von ihnen war Schwedin, d. h. eigentlich war sie scheinbar gar keine Schwedin: Sie hatte in Jena studiert, den Nachnamen verdankte sie wohl ihrem Ehemann, und es war eine Entkommene wie ich. Den Eindruck musste ich jedenfalls haben, da sie ein so tadelloses Deutsch sprach mit einem leichten sächsischen Einschlag, der sich in meiner Wahrnehmung mit ihrer Henna-Kurzhaarfrisur und der metallenen Brille zu einer zwingenden Vorstellung von Schulzeit und Erzieherin verband. Sie sprach über „Kindheitsheimat – ihre Darstellung in den Texten junger ostdeutscher Autoren“. Sie vertiefte sich in diese Geschichten von gebrochenen Biografien, von Gewalterfahrungen, von Macht und Ohnmacht. Sie sprach nicht darüber, wie Literatur funktioniert und was sie auslösen kann, nicht über Freude oder Leid. Sie sprach über Heimat und über kollektive Identität.
Draußen kam die Nacht. Der Moderator stand auf und schaltete das Deckenlicht ein. Das aber funzelte nur und gab dem schwächer werdenden Licht von draußen eine ebenso schwache gelbliche Note. Irgendwann erinnerte sich Professor E. des Dimmers und verwandelte das Zwielicht in Helle. Dann war der Vortrag vorbei. Die Diskussion begann mit einem flammenden Redebeitrag des Lektors, der bei Kiepenheuer & Witsch die Pop-Literatur herausgibt und hier als Anwalt der jüngsten Generation fungierte. Er betonte die Unterschiedlichkeit der besprochenen Texte, ja er feierte sie. Sie im Sinne einer gemeinsamen Identität zusammenzudenken, hielt er für wenig produktiv. Ein anderer Redner stimmte bei: ob das Erzählangebot an die Ostdeutschen, immer wieder solche Viktimisierungsgeschichten über sich darzubieten, nicht sogar eine Falle darstelle.

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... alles anders ...
Irgendwie gehts nicht, ich kann nicht bloggen, denn ich kann nicht spontan schreiben. Habe mich sehr über die Betriebsfesterinnerung geärgert, denn das Erlebnis hatte das Zeug zu einer schönen Geschichte, aber so ohne Überlegung heruntererzählt wars nur ein banaler Bericht. Ich werd deshalb die angekündigte Story über den Beruf, zu der mich auch http://callcenteragent.blogger.de/?day=20070830 und http://meinjobundich.blogger.de/?day=20070824 anregten, erstmal in Ruhe zu Hause schreiben. Kann ein Jahr dauern. als Pausen füller erstmal ein Text aus meiner Studienzeit (auch schon zehn Jahre her), der irgendwie zur Thematik zu passen scheint ...

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Samstag, 8. September 2007
Willkommen in der New Economy - Ossi als Westloser
Ich erinnere mich an ein Betriebsfest. Natürlich musste ich kommen, ich hatte keine Lust und also kam ich zu spät. Ich war zuvor noch nie im Hauptsitz unseres Unternehmens gewesen. Man muss dazu sagen, dass das Unternehmen eigentlich eine Unternehmensgruppe war, und keiner stieg durch, wozu eigentlich was gehört. Jedenfalls keiner der – wie ich – erst kürzer dazu Gehörenden. Es handelte sich um ein Unternehmen der Weiterbildungsbranche, also eine der Firmen, die im Zuge von Hartz IV in das Gebiet unverhoffter Schwierigkeiten, aber auch unerwarteter Chancen geraten sind.
Ich kam also an – und das Ankommen war schon symptomatisch. Ich kenne sonst keine S-Bahn-Linie, die um sieben Uhr abends so überfüllt ist. In dieser Gegend der Stadt bin ich bisher nur gewesen, um (zu miserablen Konditionen) meinen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen. Einmal war ich zu einem Vorgespräch bei einem Psychotherapeuten in dieser Straße, aber allein die Tatsache, dass sich seine Praxis in Sichtweite zu meinem Arbeitgeber befindet, ließ mich bald Abstand nehmen.
Die Firma residierte offenbar in einem denkmalgeschützten Gebäude mit Backsteinschick von 1913 (außen). Innerlich hatte man das Gebäude auch schon 1913 in Stahlskelettbauweise errichtet (die Backsteinfassade also nur Dekoration), auch jetzt (nach der Bombardierung im 2. Weltkrieg) war es innen büro-0/8/15.
Hinter dem Haupthaus, in einer alten Lagerhalle, machte man Party. Als ich kam, sprach gerade der Geschäftsführer. Er verkündete, dass er die Blumensträuße, die er gestern auf einer Messe bekommen habe, jetzt direkt an verdiente Mitarbeiter weiterleiten wolle. Das geschah auch. Das Publikum applaudierte pflichtschuldigst. Dann gab es Grillfleisch und Bier und Wein.
Ich erinnerte mich an Bernd Begemanns „Ich komme um zu kündigen“ und seinen Satz „Zum Betriebsfest gab es Bier und Bockwurst und rassistische Witze“ – Tja, damals waren die Fronten noch klar. Jetzt war das anders. War nun unsere Firma ausbeuterisch, weil sie schlecht bezahlte, oder war das der Not der Situation geschuldet?
Ich saß zwischen meiner Chefin, einer eher massigen Büromieze, die sich für den Abend Locken in ihr Blond gedreht hatte, und meiner Kollegin, mit der ich die Skurrilitäten unserer Kunden durchhechelte. Dann ging sie – die mit ihrem Freund und ihren Schwiegereltern irgendwo in der Provinz wohnt – und die mit dem Gehalt sicher nicht klarkäme, würden nicht die Schwiegereltern das Haus und die Wohnung besitzen.
Ich sagte „Tschüß“ und wechselte nach draußen zu den Rauchern: die taffe (oder schreibt man "toughe"?) Frau Hocker und Ihre Bürokraft mit dem Namen Nada Ichweißnichtwie („Nada“ pflegte meine Sommersonja http://zeitnehmer.blogger.de/stories/886818/ zu sagen, wenn sie nein meinte) – bei denen hatte ich meine ersten Stunden für dieses Unternehmen abgeleistet hatte – wir redeten über Filme, irgendeine der Dozentinnen liebte Tarantino, Frau Hocker Woody Allen, Frau Nada natürlich Kusturica, und als sich herausstellte, dass ich „Als Papa auf Dienstreise war“ kannte, bei dem ihre Klassenkameradin eine Statistenrollen innegehabt hatte ... wie schön war das bei den Prolls!
Nachher spielte der DJ in Anbetracht der Altersstruktur der Mitarbeiter noch ACDC und „Radar Love“ – und ich konnte schön den Alkohol austanzen.
Hmh, komisch – soll das nun bedeuten, dass man in diesem Milieu nun (unterbezahlt auf Honorar) bei den Prollchaoten aus Ost-Deutschland oder –europa reinpasst, nicht aber bei den fest angestellten und minimal besseer bezahlten und überangepassten Wessilosern?
Eine Erzählung über meine Erfahrungen in diesem Bereich in den letzten Jahren soll demnächst Klarheit in diese Frage bringen.

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Guten Tag, BRD!
Da gab es einen Kindergeburtstag. Es war ein vierter Geburtstag, und es war etwas ganz Neues, dass die Kinder ohne Elternbegleitung dableiben konnten. Aber kurz bevor die Kleinen abgeholt wurden, trafen sich die Eltern ja doch – und saßen noch eine halbe Stunde auf der Terrasse. Da konnte ich mich nicht mehr verstecken und musste meine berufliche Situation offenbaren. Ich überbrückte die peinliche Situation ( ich war der Schlechtverdienendste der Runde) mit Anekdoten aus meinen alltäglichen Erlebnissen. Da sagte Juan, der Vater des derzeit besten Freundes meines Sohnes: „Schreib das auf! Das wird ein Bestseller!“ Natürlich hoffe ich, dass er Recht hat. Ihr seid das Testpublikum.

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Dienstag, 21. August 2007
Tschüssi, DDR!
Nach der Wende

Da träumte einer von Greifswald.
Die Leute lachten ihn aus –
dass einer so mit der Angst prahlt
aus einem verlassenen Haus,

dass einer sein jetziges Leben
und diese vergangene Zeit
in einen Teppich zu weben
und zu verknüpfen bereit

sich findet, als trügen die Stücken
immer noch Leben in sich,
als gäbe die Summe der Lücken
am Ende ein achtbares Ich.

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Was war die DDR? Nachgereichte Zeitungskritiken
Also, theoretisieren wir über die DDR. Es geht um zwei Zeitungsartikel – falls Ihr sie nicht gelesen habt: Reinhard Jirgl fordert in der NNZ die restlose Bestrafung der damaligen SED-Chefs und beklagt, wie milde die hohen DDR-Bonzen (wenn überhaupt) bestraft wurden; Uwe Tellkamp jongliert in der FAZ ironisch mit diversen Klischees der DDR-Erinnerung – alles anlässlich der etwas künstlichen Feuilleton-Debatte um Schießbefehl und Birthlers Gauck-Behörde.
Mit meiner Frau, die ja ebenfalls Ex-Ossi ist, sinnierte ich jedenfalls über die Frage, warum es uns völlig egal ist, ob es den Schießbefehl nun als generelles Schriftstück gegeben hat oder nicht. Vielleicht Erfahrungen von damals. Das Lächerlichste und Verlogenste, was es gab, waren die Schriftstücke. Das Gefährlichste die bestehenden Strukturen, persönlichen Kontakte, Verbindungen.
Und deshalb war mir Jirgl so fremd. Sein Ruf nach restloser juristischer Aufarbeitung ist mir fremd. Komisch, dass er das so sehr fordert. Denn seine Beschreibung dessen, was die DDR war, gefiel mir: diese sehr persönliche Aussage, dass Angst einerseits und Wut über ein Unschuldig-Bestraft-Sein andererseits für viele von uns die wichtigsten Triebfedern des Handelns waren. Aber Angst und Wut besiegt man doch nicht durch Rache! Da kommt doch meist das Gegenteil von dem raus, was man eigentlich wollte. Das beste Beispiel dafür ist die „rumänische Lösung“, die er anspricht (und insgeheim gutheißt?): die öffentliche Erschießung des Parteivorsitzenden. Mag sein, dass ein gedemütigtes Individuum daraus eine kurzzeitige Befriedigung ziehen kann. Aber es macht nichts wieder gut. Im Gegenteil: Der politisch Gebildete weiß inzwischen, dass diese Erschießung von Ceaucescu damals nur dazu diente, durch Opferung des Königs den Hofstaat zu retten. Diese Art Aufarbeitung war eine Verhinderung von Aufarbeitung.
Insofern: Wie schlimm ist es wirklich, dass ein paar alte Männer vielleicht aufgrund politischer Rücksichten zu milde bestraft wurden? Vielleicht ist es sogar gut so – weil man vielleicht dadurch die DDR leichter vergisst, je schneller, desto besser. Und Jirgls Vergleich mit den Nürnberger Prozessen hinkt: ein paar Hundert Tote sind etwas anderes als ein paar Millionen. Schlimm war meines Erachtens nicht die Größe der Verbrechen, sondern deren lange Dauer. Die Verseuchung der Kultur, der Mentalität, die Etablierung von Angst und Ohnmachtsgefühlen als Grundmotivation.
Deshalb gefiel mir Tellkamp besser. Der fragte erst gar nicht nach dem Schießbefehl und dessen eventueller juristischer Relevanz, sondern setzte da an, wo es spannend wird, an der Frage: Was war die DDR? Und hatte gleich aus dem Bauch heraus eine gute Antwort: ein „paternalistisches Projekt“: „Bei Wohlverhalten Belohnung, bei Abweichung >die Instrumente<“. Leider schämte er sich offenbar gleich darauf über seine so klare Antwort und verwischte sie wieder, indem er ein Feuerwerk aus DDR-Klischees entfachte, das sehr lustig zu lesen ist (und das ich jedem zum Nachlesen empfehle). Aber wie es den Ironikern so geht: Er will alle Klischees entwerten, kann aber am Ende aus rhetorischen Gründen nicht umhin, eines dieser Klischees doch zu akzeptieren, natürlich das blödeste und angepassteste: die DDR als „Turmbau in Atlantis“.
Nein, nicht die Utopie ist Schuld, dass aus der DDR nichts wurde! Eher das Fehlen von Utopie. Für mich war es ein ängstliches halbes Ländchen, entstanden als Abfallprodukt einer totalitären Teilung Europas. Und jetzt schlaf wohl, kleines Ländchen. Ich schick dir ein Gedicht hinterher und ein Foto und dann erzähl ich nur noch von meinem Westleben (sofern mir das gelingt).

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Sonntag, 19. August 2007
Der letzte Brief ist vom Januar 1990
Ende Januar 1990 bin ich selber dann auch in den Westen umgezogen. Meine Freundin war schon voraus und weilte in London, wohin sie im August von der End-DDR die Ausreise genehmigt bekommen hatte. Ich ließ mich zu Ende 1989 in Greifswald exmatrikulieren und bewarb mich für das Frühjahrssemester in Hamburg. Im Januar verkündigte unser einziger beliebter Professor in Greifswald, dass auch er zu Semesterende zu seiner Tochter in den Westen ziehen wolle. Es war eine ziemliche Rette-sich-wer-kann-Stimmung ... Ich schrieb an meine Freundin:
Greifswald, 26.1.90
Ich habe an meinem letzten Abend in Greifswald gar nicht besonders viel Zeit an Dich zu schreiben – ich werd den Brief wohl in Hamburg beenden müssen – weil ich gleich ins Kino und danach mit Haule in die „Kiste“ gehen werde, noch einen trinken – bin also voll ausgebucht
[…]
… und trotzdem ist’s schon komisch, dass ich wie häufig nachts hier ankomme, aber das Zimmer ist total leer (bis auf Bett und Möbel) und beim Zähneputzen aus dem Erkerfenster guck ich auf Harrys Trabant-Kombi, in dem schon alles verpackt ist und der mich morgen ins Ungewisse kutschen wird.

29.1.90
Ich bin jetzt in einer ziemlich doofen Zwischensituation, sitze in einer Notunterkunft (BGS-Kaserne) in Ratzeburg fest – Aufnahmeverfahren in der Lübecker Außenstelle von Gießen passiert frühestens übermorgen, am Mittwoch. Na ja, Du hast es ja auch grade durch - es ist wie bei der Armee: Da sitzen die Männer über Bierbüchsen und Pornoheften und schwatzen, sind sehr unterschiedlich und eigentlich alle nicht angenehm

Der Grenzübertritt war nach dem Mauerfall kein Hindernis. Nur zeigt die obige Notiz, dass gerade deshalb Massen und Massen in den Westen kamen. Das aufwendige Aufnahmeverfahren musste man durchlaufen, um den westdeutschen Ausweis und vor allem die Wohnung im Westen zu bekommen: Heimplatz plus §-soundsoviel-Schein, wie ihn die Obdachlosen bekommen.
Ich bekam nach sieben Tagen Aufnahmeverfahren nur einen Heimplatz in Unna, wo ich nun überhaupt nicht hinwollte, und auch den begehrten Wohnungsschein nicht (da er ab Januar – völlig berechtigter Weise – nicht mehr vergeben wurde). Stieg in Hamburg aus und klingelte bei den Bekannten, die meine Freundin und ich am Grenzöffnungswochenende kennen gelernt hatten. Dort stand auch schon mein Hausrat auf dem Boden. Ich hoffte auf ein WG-Zimmer dort. Aber ich geriet in ein Besäufnis und am nächsten Mittag war mein ungeliebter Heimplatz verfallen und ich bekam, da kein Zimmer frei war, die Speisekammer, die sofort DDR-Schrank getauft wurde.
Also, es war wirklich so, ich hatte das Gefühl, dass die DDR in Chaos versinkt und wir Schiffbrüchigen total herzlich im Westen aufgenommen werden.

Die Sehnsucht nach der Heimat kam erst später. Und das Theoretisieren über die DDR noch später. Dazu demnächst mehr.

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