Freitag, 13. Juli 2007
Nr. 5 und 6 sind Tagebucheinträge
* Tagebuch vom 6. Juni
... Also, ich habe bei der Wahl (obwohl es meine dritte schon war) diesmal alle Namen durchgestrichen. Groß was Besondres ist das eigentlich nicht - ich bin bestimmt nicht der einzige, der gerade diesmal zum ersten Mal dagegen gewählt hat, so wie die Stimmung im Lande steht, und ich könnte mir vorhalten, mich hierin mit Kleingeistern im Verein zu finden, die sich jetzt auch trauen (<- wenn das offizielle Wahlergebnis stimmt, ist das allerdings Quatsch). Mitgespielt hat sicher; daß mir Maren beistand, auch daß die Unfähigkeit der G.er Stadtverwaltung (selbst auf der kurzen Strecke von zu Hause zum Sonderwahllokal) schlicht unübersehbar ist, und was jetzt um den Dom herum geschieht, das spottet jeder Beschreibung, aber die Hauptsache war wohl wirklich das Ablegen einer unsicheren elterlichen Position (<- auch die schämen sich sicher für ihr Ja-Wort), ein Stück mehr Ehrlichkeit ...

* Tagebuch vom 29. Juni
Ja, Tramperlebnisse: wir hatten da noch einen Volkskammersekretär für Landwirtschaft, der sich als "Bauer" bezeichnete und auf die "Gleichmacherei" schimpfte - beim Thema "Sanssouci" fielen ihm nur die viel zu niedrigen Museumspreise ein (die seiner Meinung nach die viel zu vielen Besucher erklären), dann demonstrierte er uns noch den herzlichen Kontakt zur Bevölkerung an seiner Stammtankstelle. Im Amt übrigens seit 1974 - ein Mann der doch so tollen Öffnung von "Weite und Vielfalt" der Ära Honecker ...

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Dienstag, 10. Juli 2007
Nr. 3 ist ein Urlaubsbericht aus der Provinz und Brief 4 aus Berlin
* Tagebuch vom 23.Mai
... geschlafen haben wir im HdW, das früher "Deutscher Hof" hieß und Bismarck und dem Kaiser Unterkunft gewährte - jetzt hängt die Tapete von den Wänden und nur noch ein paar bulgarische Kellner und die Reinemachefrau Rosie bewohnen das Gebäude. Es war nicht allzu schwer, die Nachtwächter Vater und Sohn und beide Suffis - zu überreden: Als uns der Vater die Schlüssel übergab, war er so voll, daß er uns für Bulgaren hielt: "Können Sie deutsch schreiben?" und jeden Dank unter Tränen ablehnte: "Wir Deutschen haben alle was gutzumachen." ...

* 2.6., von Dörte
... Man hatte mich zum sogenannten "Mandatsträger" verdonnert und so war ich am Freitag schon in Berlin, um mich mit meiner Person an der Massenballung beteiligen zu können. Schließlich kam es wohl darauf an, daß möglichst viele Leute zu sehen waren. Ich habe wirklich mal versucht, mich in der Stadt umzutun, aber es war dermaßen voll, daß ich hinterher problemlos beim Flossenschwimmen hätte mitmachen können, weil mir, ich weiß nicht wie viele Leute, auf den Füßen rumgetreten sind. Allerdings habe ich mit Erstaunen festgestellt, zu welchen Leistungen der sozialistische Handel fähig ist. Berlin schwamm in einer Flut von Bananen, und jeder Südländer ist jetzt der festen Meinung, wir könnten uns auch sonst nicht davor retten. An jeder nur möglichen Stelle häuften sich Berge von weggeschmissenen Verpflegungsbeuteln, Pappbechern und Bockwurstresten. Feine Sache. Ich will mal nicht nur schimpfen, denn ein paar gute Sachen gab es ja wohl auch, hinsichtlich der Veranstaltungen. Dafür haben wir nur keine Karten bekommen.
Ich hoffe, Dein Pfingsten war etwas ereignisreicher als das meinige und vor allem weniger nervend ...
Übrigens sitze ich seit einer guten Stunde in einer WISO-Vorlesung (die zweite in diesem Semester) und langweile mir die Haare vom Kopf. Der Herr dort vorn berichtet gerade mit Hingabe von den "Geburtswehen des Sozialismus". Poetisch!! Das wird wohl wieder mal für lange Zeit die letzte Veranstaltung dieser Art sein, zu der ich mich
freiwillig begebe ...
So auch wenn noch bannig viel Platz ist, werde ich jetzt wohl langsam Schluß machen, denn demnächst wird diese Wahnsinns-Vorlesung zu Ende sein und ich will den Brief noch einstecken.
Laß es dir gut gehen, vergiß mich nicht und grüße alle, die du barfuß triffst!
Tschüß Deine olle Dörte

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Dienstag, 10. Juli 2007
Briefe 1 und 2
* 10.2., von Antje
... Aber, ich verstehe es ja schon, doch glaube nicht, daß das dort drüben meine Welt wäre. Worum ginge es denn dabei? Um die Freiheit, um die große Welt samt ihren Raffinessen. Gut,gut, schau dich in den Straßen um und sehe die blassen Gesichter, kaputt vom Herumlungern in Grünpflanzenbüros - von Sinnlosigkeit - Stumpfsinn; aber denke doch nur was für eine Aufgabe, natürlich nicht für dich oder mich - oder irgendwie doch. Reden. Reden, offener werden, aber das sagt sich alles sehr einfach. Ich glaube, wer hier nicht durchkommt, na drüben erst recht nicht; schon gar nicht, wenn er fremd und unbeholfen ist, wie wir "Ostis". Aber vielleicht könnte man sich bei uns viel größere Freiheiten schaffen, viel freier, sogar offener denken als - sonstwo ...

* Zettel aus einem Andreas- Paket Hinweis für den Zoll der DDR
Sehr geehrte Damen und Herren!
Aufgrund der Lektüre des "Neuen Deutschland" (s. Artikel Stephan Hermlins zum 75. Geburtstag von Stefan Heym) geht der Absender des Pakets davon aus, daß der Titel "Ahasver" nicht länger in der Liste der verbotenen Gegenstände (Ziffer 2.1.6.1.) aufgeführt ist.
Mit freundlichen Grüßen A. P.

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Zum neuen Thema
In jeder richtigen Talkshow zaubert der Gast am Ende immer einen Zettel mit Konzertterminen oder eine Ausgabe seines neuen Buches aus der Hosentasche, und so will auch ich’s halten, hier in der Privatrederunde, wo natürlich alles eine Nummer kleiner ist: Mein Buch hat nur eine Auflage von 30 Exemplaren, aber eine echte ISBN-Nummer (3-00-020299-4) und ist im Buchhandel oder bei mir bestellbar – und in der Buchhandlung Christiansen in HH-Ottensen sogar vorrätig. Aber wenn Sie mich fragen – der Armeetext ist schon das beste aus diesem Buch, das andere hat mehr Liebhaberwert. Dennoch hier der Werbehinweis:

Und jetzt habe ich, wie angekündigt, noch was aus der Schublade: meine kleine Briefsammlung aus dem Wendejahr 1989. Die lag wirklich bestimmt schon zehn Jahre in meinem Krimskrams rum. Erst die Lektüre von Kempowskis Echolot (dessen Idee mich faszinierte, dessen Tendenz mich nervte und dessen Erfolg mich mit Neid erfüllte) bewog mich, nun auch mein kleines Echolötchen ans Tageslicht zu befördern. Das zu tun, geht zwar an die Grauzone des Legalen – denn alle Texte sind echt, und ich habe die Urheber nicht nach ihren Rechten gefragt. Größerenteils wüsste ich aber nach so langer Zeit auch gar nicht mehr, wie ich sie kontaktieren sollte. Und die eine, die ich fragte (damals meine Freundin), fand’s gut – ich hoffe, die anderen auch, sollten sie davon erfahren. Außerdem handelt es sich ja um Textausschnitte, keine ganzen Briefe, und wenn ich mich richtig erinnere, darf man das auch ohne Autor-Autorisation zitieren. Und Kempowskis Trick, den ich hier auch angewendet habe, finde ich einfach richtig gut: meine persönliche Sicht der Dinge sagen und dabei ganz objektiv tun, da ich ja alles aus den Worten der anderen montiere.
Ich habe allerdings außer meinem alle Namen geändert – Persönlichkeitsrechte möchte ich schon achten, sie sind allemal wichtiger als Urheberrechte.
Nun muss ich ein bisschen die Personen vorstellen, damit man sich einen Reim auf alles machen kann. Also, Andreas und Peter waren Westdeutsche, genauer gesagt, Bayern (wie ich sie kennengelernt habe – eine Anekdote für sich), mit denen ich befreundet war und die mit Briefen und Paketen an meinem Leben Anteil nahmen (nochmals danke). Dann kannte ich eine Reihe von Studenten (ich war ja auch selbst einer) – und wie man aus deren (und meinen) Äußerungen leicht sehen kann, hatte das Studentsein doch etwas Angepasstes (ist heute, glaub ich, auch wieder so). Studenten also: Dörte, Maria, Thomas und Jana. Dann die Unangepassteren, die irgendwas jobbten (Marc, Isabelle, Antje) und unter diesen besonders zu erwähnen meine Freundin, die einen Ausreiseantrag hatte und somit ein echter Außenseiter war (Monika). Was übrigens aus unserer Beziehung werden sollte, falls der Antrag genehmigt wird, das war unser liebstes Streit- und Weinthema, deshalb hier nichts Nähres darüber ... Endlich noch ein ganz echter Außenseiter, der Viehzüchter und Naturbursche Andi, den ich noch aus meiner Armeezeit kannte.
So weit, so gut: Viel Spaß beim Lesen!

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Sonntag, 24. Juni 2007
... auch, und übrigens ...
... muss ich noch erwähnen, dass ich (der doch durch einen Nachbarn auf die Bloggerei gekommen bin) nun meinerseits einen angesteckt habe: Ein Bekannter, den ich bisher und seit Jahren eigentlich nur als Wissenschafltler kenne (ein gemeinsamer Bekannter meinte mal: "Wenn du historisch aus dem Anfang des [20.] Jahrhunderts irgendeine Sache nicht weißt, mach dir nicht den Stress, lange Lexika zu wühlen -frag ...") - der fängt jetzt plötzlich an, aus seinem Privatleben zu erzählen, aus der nordeutschen Provinz, um nicht zu sagen, dem Dorfleben - verspricht interessant zu werden! Also gucken Sie nach:
http://haruwa.blogger.de/

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Wie soll es denn nun weiter gehen?
... tja, ich habe lange nicht geschrieben, und dem, der bisher mitgelesen hat, ist sicher auch klar, warum: den Bericht über die NVA-Zeit hatte ich schon fertig auf dem Computer (ein gutes Jahr hat es gedauert ihn zu schreiben). Jetzt komm ich nicht weiter, weil ich keine Zeit hab. Wirklich nicht! Wahrscheinlich muss ich dazu sagen, dass ich mich in beruflich „prekärer“ (wie die Medien so schön sagen) Situation befinde, d.h. dass meine Arbeit macht wohl Spaß macht, aber ich muss zwei (inhaltlich schöne) Jobs kombinieren, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen – Arbeitszeit täglich ca. 8,5 Stunden (die Anreise nicht gerechnet), Freizeitausbeute pro Tag ca. 1 Stunde (die natürlich meiner Frau und meinem Sohn zugute kommen) ... heute Nacht ist sie zur Party in Berlin, und er – nachdem er wach wurde, als ich mir ein neues Bier holte in der Küche - schläft mittlerweile stolz auf Mamas Kissen ...
Mein Ursprungsplan war folgender: als Nr. 2 der damals-Reihe das Jahr 1989 in Briefen darzustellen und danach über den Studien- und Berufsalltag im Westen zu berichten. D.h. es geht darum, sich sehr vorsichtig an die Misere meiner derzeitigen Gegenwart heranzutasten. Aber soll ich das wirklich tun?
Wenn ich die bisherigen Reaktionen auf mein Schreiben (und das ist ja, wofür man’s tut) betrachte, so seid Ihr vor allem an spritzigen Anekdoten interessiert. Bestes Beispiel „derherold“, mit dem ich mich zugegebenermaßen auch gekabbelt hatte und der dann kritisierte, dass meine Geschichte keinen Knalleffekt-Schluss hatte à la „doch braver Unteroffizier geworden“ oder „vorzeigbare Oppositionskarriere“. Aber so ist eben das Leben. Oder aber „gk“, der auf meine Andeutung mit den besetzten Wohnungen einging – die doch nur gemeint war als kleiner Hinweis, dass das Leben (auch in Diktaturen) eben doch komplizierter ist, als man normalerweise denkt.
Jetzt hab ich drei Möglichkeiten:
1.) noch ein bisschen fett „damals“: Ich habe grade ein paar Seiten aus meiner Stasi-Akte gescannt und digitalisiert (und bisher nur 4teachers.de als Unterrichtsmaterial angeboten) – das könnte ich schön ins Netz stellen und ein bisschen dazu erzählen (damit auch ein paar aktuelle Texte mit dabei sind)
2.) näher an das, was mein Leben ist und schmerzt: Berichte über Lehrer- und Wissenschaftler-Kollegen, das spielt natürlich alles in den neunziger Jahren, hat aber sehr wohl mit jetzt zu tun. Vor allem müsste ich diese Texte aktuell schreiben, ich weiß sehr wohl, was ich schreiben will, aber die Texte gibt es eben noch nicht.
3.) oder ganz so, wie ich es geplant habe: Informationen über 1989. Die Grundlage wären Briefe an mich, auch einige Tagebuch-Texte aus dem Jahr 1989. Ich hab damals in meinem Tagebuch fast nichts über Politik geschrieben und mich hinterher darüber geärgert. Aber eigentlich war es klar: Die Politik hat in diesem Jahr so stark mein Leben bestimmt und über es bestimmt, dass es eben nicht möglich war, locker, frei, emotional darüber zu berichten. Deshalb hab ich später, in den Neunzigern, noch in Vor-Computer-Zeiten, ein Potpourri über 1989 aus Briefen an mich zusammengestellt, das – wie ich finde – ein interessantes Bild der Vorgänge gibt.
Natürlich ist dieser Text ein „fishing-for-compliments“, und ich wünsche mir, dass der eine oder andere von Euch /Ihnen mir sagt, was er hören möchte. Ansonsten plappere ich einfach weiter, wie ich denke ... wird schon klappen, irgendwie.

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Dienstag, 22. Mai 2007
Armeezeit, Teil 21
Entlassen wurden die Soldaten unserer Einheit Ende April. Ich und einige andere mussten bleiben - wir hatten wir mehrere Tage Knast nachzudienen. Der Tag, als die anderen gingen, wurde uns Nachdienern schwer. Besonders schwer wurde er für mich, denn ich trat an diesem Tag eine zweite Arreststrafe an, wegen „Beleidigung eines Vorgesetzten“. Nicht wegen des OvDs übrigens – ich hatte im Eifer der Auseinandersetzung einen Unterleutnant „Knalltüte“ genannt und damit Gelächter bei umstehenden Stabsoffizieren ausgelöst. Mit einigen Kameraden ging ich nach vorn zum Kasernentor - sie verließen die Kaserne, ich musste abbiegen ins Wachgebäude und mich zum Antritt meiner Strafe melden.
Besser wurde es nachmittags, die anderen waren weg - und ich ein Häftling. Ich stand mit dem Besen auf einer Regimentsstraße und fegte, bewacht von irgendeinem Wachsoldaten. Andere kamen vorbei, erkannten mich und riefen: "Karin, was machst du denn schon wieder im Knast?!" Ich zuckte mit den Achseln und lächelte. Ich war jemand, ich war berühmt. Karin, der Aufsässige.
Fünf Tage später gingen Ulli Ost und die anderen. Nur der Melker und ich mussten weitere drei Tage bleiben. Wir hatten rein gar nichts mehr zu tun. Unsere Betten hatten wir an die bereits eingetroffenen Neuankömmlinge abgegeben. Die Unteroffiziere – das waren ja nun unsere nächsten Angehörigen – waren mit den „Glatten“ unterwegs und brachten ihnen das Marschieren bei. Ich erinnere mich an einen Vormittag, an dem ich mitgezählt habe: Die AMIGA-Schallplatte mit den Hits von Joe Cocker lief 14mal hintereinander.
Meine letzte verbotene Handlung war das Einkaufen einer Flasche Sekt im Regiments-Laden. Ich war richtig enttäuscht, dass die Aktion keinerlei Probleme bereitete – der Verkäufer kannte mein Schicksal ebenso wie die Vorgesetzten, es interessierte einfach niemanden, ob ein Nachdiener an seinem vorletzten Tag noch verbotenerweise Alkohol erwirbt, eine Handlung, die sonst nur Offizieren erlaubt war. Dann war der Tag heran und ich ging mit Hoppi – so hieß der Melker - zum Kasernentor. Es lief alles nach Plan: Im Treppenhaus schüttelten wir Dutzende von Händen; als wir die Regimentsstraße hinunterliefen zum Tor, winkte man uns aus den Unterkünften nach. Kurz vorm Tor verstreuten wir Papierschnipsel – wie es irgendeine Soldatensitte verlangte, an deren Inhalt ich mich nicht mehr erinnere. Draußen wurden die Sektflaschen geöffnet. So ähnlich wie Silvester, wo man ja auch oft neben sich steht und das Ritual einfach durchzieht.
Ich zog mit Hoppi noch durch Berlin, wir trafen uns mit irgendeinem der pünktlich Entlassenen und markierten eine Fröhlichkeit, die wir nicht empfanden. Als ich tief in der Nacht betrunken bei meinem Elternhaus eintraf, das immer noch dastand, als wäre ich nie fortgewesen, und dachte, dass ich mein altes Leben nun fortsetzen würde, war mir, als hätte ich mit der Armeeentlassung das Leben verloren – das Leid, aber auch das Leben.
Und so war ich beinahe dankbar, dass die Armee mich nicht vergaß, sondern noch nachträglich mein Verhalten honorierte: Einen Monat nach meiner Entlassung fuhr Oberstleutnant Knaf persönlich nach Leipzig an die Universität, um die Rücknahme meiner Studienzulassung anzuordnen. Offenbar hielt er mich doch nicht für einen formbaren jungen Menschen. Oberstleutnant Knaf hat meinen Stolz respektiert. Und Schriftsteller bin ich nie geworden.

ENDE

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Dienstag, 22. Mai 2007
Armeezeit, Teil 20
Und wann war dieser Wintertag, an dem ich wie so oft abends im Trainingsanzug über den Regimentsplatz huschte zur Telefonzelle, aber es wurde nichts aus dem Nach-Hause-Telefonieren? Irgendein Diensthabender gabelte mich auf und hinderte mich am Betreten der Telefonzelle: Es sei vom OvD (dem diensthabenden Offizier im Regimentsstab) ausdrücklich verboten worden, anders als in kompletter Dienstuniform die Gebäude zu verlassen oder zur Telefonzelle zu gehen. Ich glaubte ihm nicht, wollte ihm nicht glauben. Jeder ging jeden Abend im Trainingsanzug über die Regimentsstraße. Und an einem stockdunklen Winterabend konnte das doch wohl kaum irgendjemanden belästigen. Aber ich kam einfach nicht vorbei an diesem übereifrigen Feldwebel. Umzukehren und auf eine günstige Gelegenheit zu warten, verbot mir mein Stolz. Und die geforderte Dienstuniform anzuziehen war ganz unmöglich – ich hätte mich zum Gespött der ganzen Kompanie gemacht. Also lief ich in meiner Wut so, wie ich war, direkt in die Höhle des Löwen, zum OvD. Mit seinen eigenen Worten wollte ich es hören, ob ein erwachsener Mann so eine blödsinnige Anordnung treffen konnte. Aber er glotzte mich nur entgeistert an, offenbar sprachlos angesichts der Vermessenheit, dass so ein Wurm von Soldaten im Trainingsanzug vor ihn hinzutreten wagt. Als er sich gefasst hatte, sagte er nichts als „Weg!“ Und mir blieb nichts als einen unschuldigen UvD anzuschreien daheim auf unserm Flur und dann wütend meine Sachen durcheinander zu werfen.

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Sonntag, 20. Mai 2007
Armeezeit, Teil 19
Nicht sehr viel später wurde ich zwanzig Jahre alt. Es war ein ganz normaler Dezembertag. Kurz, kalt, dunkel, ereignislos. In meinem Tagebuch, das ich heimlich zettelchenweise nach Hause schickte, steht: "Zwar herrschte mein Lieblingswetter: unfreundlicher Wind mit Regen und Schnee, der auf der Haut schmolz." Weiter steht verzeichnet, dass ich mit einem Kameraden (im Zivilleben Melker und Heavy-Metal-Fan) und zwei leeren Sturmgepäck-Rucksäcken in den Postenbereich 1 lief - dorthin, wo ich zum ersten Mal diese Übergabemethode kennen gelernt hatte - aber irgendetwas lief schief; die vereinbarte Alkoholsendung traf nicht ein, und wir beide kehrten unter dem Gelächter der Zurückgebliebenen mit leerem Sturmgepäck in die Unterkunft zurück. Natürlich kam es so, dass später dennoch verschiedene Flaschen Schnaps auftauchten, dass ich betrunken am UvD-Tisch Shakespeare-Sonette vorlas, dass ich aus dem Fenster kotzte. Und dass ich am nächsten Morgen kein Bargeld mehr hatte.

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Mittwoch, 16. Mai 2007
Armeezeit, Teil 18
Nach einem dieser Wachdienste kehrte ich in die Einheit zurück und fand meine Kameraden in großer Aufgeregtheit vor. Es hatte in der vergangenen Nacht ein so genanntes "Vorkommnis" gegeben. Genaugenommen eigentlich gar kein Vorkommnis, sondern nur mal wieder eine aufgebauschte Phantasie übereifriger Vorgesetzter, dokumentiert in pflichtschuldigst übertriebenen Berichten. In Wirklichkeit war nichts anderes passiert, als was immer passiert: Man hatte sich betrunken. Dummerweise aber hatte an diesem Abend ein einfacher Soldat namens Nover den Posten des UvD innegehabt. Nover war mit uns zusammen eingezogen worden, jetzt sah er seine Chance, von einem vertretungsweisen zu einem richtigen Unteroffizier zu werden in den Augen der Vorgesetzten. So wurden aus den übermütigen und besoffenen Worten der Soldaten staatsfeindliche Äußerungen, und Unteroffizier Fisch, der ich weiß nicht welche Dienstfunktion gerade innehatte, Fisch, der fiese, schleimige Unteroffizier bestätigte Novers Berichte und damit hatten wir den Skandal. Ich sah mich berufen, diese Witzfiguren der Lächerlichkeit preisgegeben, die sie verdient hatten. Ich ging zu Knaf und sagte die Wahrheit. Der hörte zu und schwieg. Ob er mir Glauben schenkte, war nicht zu erkennen.
Die Bestrafung der Angeklagten jedenfalls ließ auf sich warten, offenbar musste man erst mal überlegen „dort oben“. Erst später, sehr viel später, als Gras über die Sache gewachsen war, bekam jeder der Delinquenten unschöne, aber angemessene drei Tage Arrest. Ich fühlte mich in meiner Wichtigkeit bestätigt. Ich war nicht mehr bei Nover, Rolf-Hans Müller und den anderen Abiturienten, ich stand endlich auf der richtigen Seite, und ich glaubte erfolgreich zu sein.

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Dienstag, 15. Mai 2007
Armeezeit, Teil 17
Auch Wache stand ich natürlich wieder oft, denn unser eigentliches Tagesgeschäft, der Umgang mit der Kanone, erforderte nicht viel Arbeit. Ich stand jetzt meistens am Munitionslager. Das war ein ungeliebter Posten, denn das Munitionslager lag - wegen der Explosionsgefahr - sehr weit weg, in der äußersten hintersten Ecke des Regiments. Das hieß, man musste sehr weit laufen um dort hinzukommen, und ebenso weit um wieder zurückzukommen, und das viermal in den 24 Stunden Wachdienst. Ich schätzte den Posten vier, hinten am Munilager. Denn hier kam nie eine Postenkontrolle. Die Offiziere waren viel zu faul, so weit zu laufen. Ich hatte oft ein Buch dabei, eigentlich fast immer. Ich erinnere mich, dass ich Sartre gelesen habe, ein Buch mit dem schönen Titel "Die Wörter". Ich weiß nichts mehr von dem, was in dem Buch stand. Aber ich weiß nur noch, wie schön es war darin zu lesen. Es war eine andere Welt, in der Tat, eine Welt von klugen Gedanken - und eine Welt der Wahrhaftigkeit, des Geistes. Was für mich eins war. Das Buch war zu groß, um es der Seitentasche der Uniformhose unterzubringen, wo die Wachposten üblicherweise das natürlich auch verbotene, so genannte "Faktenradio" einzustellen pflegten, das Radio eben, das einen "Fakt" darstellte - den Beweis einer unerlaubten Handlung. Mein Fakt war ein Buch. Ich versteckte es vor der Brust, unter der Jacke.

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Sonntag, 13. Mai 2007
Armeezeit, Teil 16
Nur sah es zunächst nicht danach aus. Der Alltag war wieder da, das dritte Diensthalbjahr begann; es begann mit Kommandierungen, manche gingen - oder durften - weg, in schönere Bereiche: zum Stab, in die Feuerwache oder zur Küche. Die Zimmerbesatzungen wurden neu zusammengestellt. Es war auf einmal recht still bei uns oben. Gelegenheiten, durch besondere Leistungen aufzufallen, waren nicht in Sicht.
Eigentlich gab es gar nichts zu tun. Ich versah jetzt oft einen Dienst, den in den ersten Monaten nur Streber innegehabt hatten: Ich stand GUvD, das heißt "Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst". Für einen Neuling ein einfacher Dienst – man hatte nicht viel zu tun außer ein paar Eintragungen in ein Buch zu machen und ab und an einen Botengang – war es für alt Eingesessene wie mich eher etwas demütigend, nächtelang so dazusitzen an einem kleinen Schreibtisch und nicht schlafen zu dürfen (oder nur heimlich schlafen zu dürfen) und entsprechend die folgenden Tage im Tran zu erleben. Nun gut, es war nicht schlimm, schlimm wie der Beginn der Armeezeit - es war nur doof, lähmend, Resignation.
Meistens stand ich mit einem Unteroffizier, der neu in unsere Einheit gekommen war. Rolf Hans Müller wurde er genannt, obwohl er eigentlich Ralf ließ. Ein diskriminierender Spitzname eben, wie ihn viele trugen – ich hieß z. B. Karin. Rolf Hans Müller war ein junger Mensch wie ich, Abiturient, schmal gebaut, mit Nickelbrille, er gab sich moralisch und intelligent und war bar aller Lebenskenntnis. Auch er wirkte verunsichert. Er wurde sogar noch viel mehr ausgelacht als ich. Aber wo ich gerade mal von Situation zu Situation versuchte, meinen Stolz zu bewahren, schien er fest entschlossen, sich mit den nun einmal gegebenen Tatsachen zu arrangieren. An einem dieser Dienst-Tage bzw. -nächte - natürlich war es so, dass er als Unteroffizier, als UVD, die Tagschicht hatte, während ich nachts wach zu bleiben hatte - an einem dieser Tage warf er mir vor, ich hätte "zwischen mir und der Realität ein Weiteres geschaffen". Das war in der Tat so. Damals fühlte ich mich sehr getroffen, denn er hatte natürlich Recht. Warum lief ich denn immer wieder zu Knaf in den Regimentsstab – der mich doch offensichtlich hinhielt, immer meinte, meine Texte wären literarisch gut, aber zu negativ, um veröffentlicht zu werden? Warum holte ich mir immer wieder mit schnellen Witzen und kleinen Ungehorsamkeiten die vorübergehende Bewunderung der Kameraden – die dann am Wochenende in den Kurzurlaub fuhren, während meiner wieder abgelehnt wurde? Insgeheim bewunderte ich Ralf Müller. Ich wusste, ich konnte nicht so sein wie er, der sich den Realitäten nicht verschloss, sondern still und wie selbstverständlich seine Arbeit tat – so idiotisch sie auch immer sein mochte. Erst später erfuhr ich, dass auch er kleine Texte über den Armeealltag schrieb – für die Geheimdienstoffiziere, die an ihn herangetreten waren. Seine Texte waren nicht weniger fiktiv als meine, aber er nannte darin konkrete Namen und gab ihnen die Überschrift „Informationsbericht“.

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