Montag, 24. März 2008
Orhan Pamuks "Istanbul" - So müsste man schreiben können!
Meine Bekanntschaft mit Orhan Pamuk verdanke ich dem Feuilleton. Das war entzückt von seinem Roman „Schnee“, für den er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam. Pamuk passte hervorragend ins Bild: Wer sonst könnte einem die rückständige Türkei erklären als ein liberaler Intellektueller, der tatsächlich von da stammt, jedoch schon als Jugendlicher im heimischen Istanbul eine amerikanische Schule besuchte und später in New York lebte?
Auch mich lockte „Schnee“, versprach der Roman laut der Rezensionen doch orientalische Exotik ebenso wie literarische Bezüge auf Kafka und Tonio Kröger, die meine engste literarische Heimat darstellen. Ich wagte es, das Buch neu, teuer und gebunden zu kaufen – und sollte nicht enttäuscht werden. Das wurde schon auf den ersten zwanzig Seiten klar. Da begibt sich die Hauptfigur auf eine umständliche, langatmig beschriebene Busreise in die winterliche Osttürkei, und es passiert nichts, außer dass man verzaubert wird. Das passiert langsam, unspektakulär, ganz ohne fantasymäßigen Thrill – das Abenteuer heißt ja auch Gegenwart ...
Aber ich will nicht abschweifen. Ich habe „Schnee“ (wirklich der beste Roman, den ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe) nur erwähnt, um verständlich zu machen, wie ich auf „Istanbul“, sein nächstes Buch, wartete. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein essayistisches Buch über die eigene Heimatstadt, also ein Text aus einem eher niedrigen, allenfalls journalistischen Genre, ähnlich großartig sein sollte wie ein richtiger Roman.
Understatement ist allerdings gerade der Trick des Buches. Pamuk beginnt, indem er ganz banal über seine Kindheit erzählt, über vorpubertäre Allmachtsphantasien eines weichen Kindes aus gutem Hause – und das Ganze auch noch mit Schnappschüssen aus dem Familienalbum illustriert. Im Folgenden wechseln Familienanekdötchen mit essayistischen Berichten über Istanbulansichten des 19. Jahrhunderts oder Lokalgrößen des Istanbuler Kulturlebens von anno dazumal. Einmal versteigt er sich sogar zu einer Beschreibung der speziell Istanbuler Melancholie in Form einer seitenlangen Aufzählung trauriger Dinge.
Erst nach 200 Seiten, der Hälfte des Buches, wenn alle politikfixierten Leser unweigerlich vergrault sind, lässt er die Katze aus dem Sack: Natürlich war das nicht naiv, sondern sehr bewusst politisch, dass er die finanziellen Verhältnisse seiner Familie, ihre konkreten Lebensgewohnheiten und Ansichten offen darlegt. Und es war auch kein sentimentales Sich-Verlieren, wenn er die malerischen Brände von alten Holzpalästen breit ausmalte, die er als Kind erlebt hat, oder die Autofahrten der Familie an den Bosporus. Er erzählt exemplarisch von sich: „So funktioniert das Leben bei uns.“ – um aufzuklären, nicht um irgendjemanden zu denunzieren (wie Aufklärung heute ja oft missverstanden wird). Die spielerischen Ausflüge in die Kulturgeschichte nutzt er dabei elegant, um historisch wie sozial über das Fallbeispiel seiner Familie hinauszuweisen.
In der zweiten Hälfte des Buches wird diese aufklärerische Absicht wie gesagt offensichtlich, so sehr sogar, dass sie auch in die Kapitelüberschriften Eingang findet: „Eroberung oder Fall? Die Türkisierung Konstantinopels“ oder gleich darauf „Religion“. Immer aber verankert er allgemeinere Aussagen im eigenen Erleben. Zum Beispiel erwähnt er unter „Türkisierung“ zwar die Zwänge des NATO-Mitglieds Türkei und ihrer Regierung in den fünfziger Jahren angesichts der Zypernkrise, ihr Schwanken zwischen Kuschen vor dem Westen und heimlicher Aufhetzung der eigenen Bevölkerung. Aber das ist nicht das Thema, das ist nur notwendige Hintergrundinformation. Das Thema ist, was dann tatsächlich in Istanbul los war und was er erlebt hat: die antigriechischen Pogrome. Oder er schildert seine pubertätstypischen Verrenkungen in Bezug auf die Religion (Wie streng soll man den Ramadan einhalten?), und plötzlich spürt man, das ist ja gar nicht allein sein Problem, das ist ja die Widersprüchlichkeit der ganzen Gesellschaft in religiösen Dingen.
Und überhaupt: „Fremd in einer ausländischen Schule“ heißt eine der schönsten Kapitelüberschriften. Aber wer ist hier gemeint? Orhan Pamuk oder Istanbul? Oder die ganze Türkei? Für diese mehrdeutigen Überschriften liebe ich dieses Buch. Denn sie zeigen den Sinn, den es überhaupt hat, über Politik nachzudenken: Ich lebe in der Welt, und deshalb möchte ich wissen, wie sie ist. Und was ich herausgefunden habe, das will ich auch sagen.
In Vorbereitung dieses Textes las ich in der Wikipedia, und da stand, dass manche Leser Pamuks kritische Ausführungen über die Türkei zum Anlass nahmen zu sagen: Na also, und so ein Land will nun in die EU. Was für ein Denkfehler! Dass wir keine solchen Bücher wie „Schnee“ oder „Istanbul“ haben, das liegt doch nicht daran, dass es in unserm Land nichts zu kritisieren gäbe – es liegt daran, dass wir keinen Orhan Pamuk haben!
Mir jedenfalls ist der Mann ein Vorbild: Er lässt sich nicht davon beirren, dass seine Aussagen (von seinen Befürwortern wie von seinen Gegnern) natürlich politisch missbraucht werden. Und lässt sich davon auch nicht hinreißen, sich in irgendwelche politischen Kämpfe einzuordnen. Sondern bleibt bei sich. Die letzte Kapitelüberschrift in „Istanbul“ lautet: „Ein Gespräch mit meiner Mutter: Geduld, Vorsicht, Kunst“.

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