Freitag, 15. Februar 2008
Auch die Nazizeit eignet sich gut für Gruselgeschichten
Zu meinem Geburtstag kurz vor Weihnachten bekam ich ein Buch geschenkt: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne, einem jungen irischen Schriftsteller, der – wie der Klappentext vermerkt – Kreatives Schreiben studiert hat. Diese Creative-Writing-Bücher sind ja wie Kartoffelchips: Man kann einfach nicht aufhören. Also war ich nach wenigen Tagen durch – und platt vor Staunen, wie unbekümmert um historische Fakten man sich eines historischen Stoffs bedienen kann, offenbar weil NS und Auschwitz einfach den wirkungsvollsten Schockeffekt versprechen.

Als ich zu lesen begann, wusste ich noch nichts über das Buch. Aber schon nach wenigen Seiten schwante mir, dass es um die Nazizeit gehen könnte, da der Schauplatz Berlin war und die Figuren altertümliche deutsche Namen hatten. Zwar hieß die Hauptfigur untypisch deutsch Bruno. Damit wurde ihr gutes Herz angedeutet, während die böse Schwester mit dem Namen „Gretel“ gleich als Nazisse gekennzeichnet war (wie es in der Folge der „Todesfuge“ Klischee geworden ist). Aber mit der Nazizeit nicht genug – es ging gleich auch noch um Auschwitz: Der neunjährige Bruno und die zwölfjährige Gretel müssen überraschend packen, weil ihr Vater Kommandant von Auschwitz wird. Zuvor hatten sie in Berlin in einer Villa und abseits der sozialen und ideologischen Realität eine Reiche-Leute-Kindheit verbracht, die eher an die Familie eines hohen Staatsbeamten als an die eines SS-Offiziers denken ließ.
Merkwürdig auch die Ankunft in Auschwitz: Bruno und Gretel wussten nicht, wer gegenüber der Kommandantenvilla eingezäunt wohnt. Sie mutmaßten sogar, es könnte sich um Bauern handeln. Offenbar hatten sie bisher weder je einen Bauern gesehen noch waren sie mit der Blut-und-Boden-Ideologie und ihrer Bauernromantik irgendwie in Berührung gekommen. Auch dass es Juden gibt und was sie sind, war ihnen offensichtlich nicht klar.
War das Buch bis zu dieser Stelle nur äußerst unglaubwürdig, kippt es in der zweiten Hälfte völlig ins Surreale. Bruno schlendert am Zaun entlang und lernt ein einem Häftlingsjungen kennen. Unbemerkt vom Wachpersonal entwickelt sich eine intensive Freundschaft am Zaun. Gedrängt von der Sehnsucht, aus seinem behüteten, aber lieblosen Zuhause auszubrechen, lässt sich Bruno von seinem neuen Freund eine Häftlingsuniform besorgen, schlüpft durch den Zaun. Glücklich spaziert Bruno mit seinem Freund durchs Lager und endlich direkt in die Gaskammer.
In der Kommandantenvilla versteht niemand, wo Bruno abgeblieben ist. Aber über der Trauer zerbricht die Ehe. Die Mutter kehrt mit Gretel zurück in ihr Reiche-Leute-Berlin. Der Vater bleibt in Auschwitz, sinniert über Brunos am Zaun aufgefundene Kleidung, versteht und bereut. Bald darauf wird er verhaftet, folgt also seinem Sohn auf die Seite der Guten, der Unterdrückten.
So weit, so absurd. Natürlich war ich, der Rationalist in mir, zuerst wütend, wie man sich einen solchen Schwachsinn ausdenken kann. Immerhin hab ich auch mal Geschichte studiert, und dieses komplette Ignorieren der historischen Wirklichkeit, das tut mir einfach weh. Dann fragte ich mich, was der Autor eigentlich sagen wollte. Vieles in dem Buch deutet darauf hin, dass er eine Allgemeingültigkeit anstrebt, die über Auschwitz hinausweist. Und wenn man es ganz allgemein nimmt, ergibt das Ganze ja durchaus Sinn. Ja, es gibt vielerorts reiche Kinder, die so vollständig von der sozialen Realität in ihrem Land ferngehalten werden, wie Bruno und Gretel, Kinder, die allein mit der Mama und dem Dienstmädchen in einer Fantasiewelt leben, während der Papa draußen sein Ich für die Karriere verkauft. Und noch allgemeiner gesprochen, gilt das nicht nur für die reichen Kinder, sondern für alle, die in der traditionellen bürgerlichen Familienidyll-Ideologie aufwachsen. Wenn ein Jugendbuch diese Kinder ermuntert, an den Zaun zu gehen und zu fragen, wer dahinter wohnt, ist das an sich eine gute Sache.
Nur hat das nichts mit den Kindern der Nazizeit zu tun – die wurden ja im Gegenteil mit Politik und Ideologie geradezu überschüttet. Und vielleicht eignet sich die Nazizeit ja gerade auch deshalb so gut als das absolute Böse – weil sie so wenig mit unserer (westlich aufgeklärten) Lebenskultur, unseren Überzeugungen, unseren Leichen im Keller zu tun hat.
Aber diese kleinen Unterschiede scheinen dem Autor vernachlässigenswert. Die da oben sind die Bösen, die da unten sind die armen Unterdrückten, und wenn man soziale Ungerechtigkeit anprangern will, dann tut man das am besten, indem man mit den Begriffen Nationalsozialismus und Auschwitz operiert. Denn das verspricht den stärksten Effekt. Und der Effekt ist allemal wichtiger als die gedankliche Stimmigkeit, der Erfolg beweist das - das Internet ist voll von begeisterten Teenagern, die glauben, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ handle tatsächlich von der Nazizeit.
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und demnächst: als Ausgleich eine positive Buchkritik zum Thema Vergangenheitsbewältigung (aber ich verrate noch nicht, was es ist)

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Ein Verriss weniger ...
Einen Verriss habe ich ich mir schenken können, weil ich mal wieder zu langsam war: Als ich las, dass im Fernsehen "Das Wunder von Berlin" kommt, ein Film über den Mauerfall mit Heino Ferch und Veronika Ferres, da war es schon einen Tag zu spät. Ich tröstete mich damit, dass mir eigentlich schon nach diesen eben genannten Daten (Titel und Hauptdarsteller) klar war, dass es sich vermutlich um minderwertige Durchschnittsware handelt. Aber man weiß ja nie.
Jetzt lese ich im Arztwartezimmer die (positive) Rezension dazu um Spiegel - und bin froh, dass ich das verpasst habe, schon allein aufgrund des angedeuteten Plots. Da besteht die ganze DDR nur aus schlechten (opportunistischen) und guten (idealistischen) Stasis und ein junger Mann reift bei der NVA zum Mann. Na, ich danke.
Offenbar lebt er noch, der Stalinismus - während hier im Westen die alten Ideologien vergessen sind - und die historischen Fakten gleich mit. Aber dazu der nächste Verriss, der sogleich folgt.

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