Freitag, 14. Februar 2020
Erwachsensein
Als ich 20 war, entsetzte mich die Aussage einer älteren Kollegin, die erzählte, sie habe auf den Rat einer Ärztin, eine Psychotherapie zu machen, verzichtet, um die schöne familiäre Situation und insbesondere die Beziehung zu ihrem Mann nicht zu gefährden. Mir war völlig unverständlich, wie sie das so ruhig sagen konnte und dass sie auch sonst keineswegs einen verzweifelten Eindruck machte.

Vor ein paar Tagen traf ich einen alten Bekannten nach Jahrzehnten wieder. Ich erinnere mich, wie er mich damals mal fragte, was in meiner Psychoanalyse denn so vorgehe - und wie er nur auf vage Andeutungen von mir erblasste: "Wenn ich anfangen würde, darüber nachzudenken ...!" Nun, unsere Wege trennten sich bald darauf, mich nervte auch seine Depressivität, sein Nicht-mit-sich-im-Reinen-Sein. Ich glaubte damals, Erwachsensein, das hätte irgendwas mit innerer Klarheit, mit Ehrlichkeit zu sich selber zu tun.

Ich traf ihn jetzt wieder, fand in in seiner Persönlichkeit unverändert, allerdings wesentlich gelassener, von Depression keine Spur mehr. Ob diese angenehme Haltung daher rührt, dass er irgendwelche inneren Probleme geklärt hat in der Zwischenzeit, weiß ich natürlich nicht, aber es machte nicht den Eindruck. Eher schien mir der Grund in den Annehmlichkeiten seiner familiären wie beruflichen Situation zu liegen.

Dieser Tage begegnete mir die aktuelle Platte von André Heller, dessen wunderschön prätentiöses, unerwachsenes Album "Verwunschen" ich sehr liebte, als ich selbst auch noch nicht erwachsen war. Jetzt, Jahrzehnte später, scheint mir Heller immer noch nichts begriffen zu haben - aber er trägt es mit so viel mehr Gelassenheit und Selbstbewusstsein vor.

Ich könnte noch mehr Beispiele nennen ... Erwachsensein, ist das vielleicht doch nichts anderes als dass man seine Lebenslügen stabilisiert und, wenn man geschickt ist und die Umstände es zulassen, zur Grundlage des persönlichen Erfolgs macht?

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Sonntag, 10. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 6
Es war sein gehasster Bruder, ein Banker, der ihn rettete, den Rausschmiss aus der Wohnung verhinderte, für die mehrere Monate Miete ausstanden, überhaupt per Vollmacht das Finanzielle regelte - wozu L. nicht mehr in der Lage war. Nur mit dem Hartz-IV-Antrag, das musste L. irgendwie selbst hinkriegen, und das schaffte er auch, allerdings brauchte er ein halbes Jahr dafür. Jetzt stabilisiert sich die Lage langsam. Dennoch bin ich nach wie vor entsetzt, wie ein intelligenter, aktiver Mensch zu einem ein solchen hilflosen Nervenbündel werden kann.

Welche Rolle ich dabei spiele? Fragen Sie mich nicht! Ein aktiver Helfer in der Not, das bin ich nicht. Immerhin hab ich mich weiter mit ihm getroffen, als andere sich abwandten, hab ihm auch einen betragsfreien Versicherungsvertrag unterschrieben, damit er auf seine Akquisezahlen kommt, aber ansonsten hab ich einfach zugeguckt, zunehmend kopfschüttelnd, und tue es noch.

Aber irgendwie ist es zwischen Lachen und Weinen. Oder wie würden Sie das empfinden, wenn Ihnen ein erwachsener Mann von Mitte 50 beim Bier gut gelangt folgende Geschichte erzählt:

„Ich war so glücklich, als ich aus der Arbeitslosen-Beratung kam – das ist ja alles gar nicht so aussichtslos – und im Überschwang, da muss ich wohl vor der Tür irgendwo das Portemonnaie abgelegt haben beim Fahrradabschließen. Stell dir das mal vor: mit den hundert Euro, die mir mein Bruder zugesteckt hat! Ich hab gleich meine Mutter angerufen, dass sie mir was borgt – für ein Niedersachsenticket zu ihrem Altersheim reichte mein Geld noch. Aber nicht mehr für Zigaretten. Ich bin dann leider in den falschen Zug gestiegen. Zum Glück gilt das Niedersachsenticket ja überall. Ich musste in X. gar nicht lange warten auf den Zug zurück. Ich hab da einfach einen Bahnmitarbeiter um eine Zigarette angeschnorrt, das war richtig gut, der kam aus Ungarn und war ganz erstaunt, wie gut ich Bescheid weiß über die politischen Verhältnisse in Ungarn. Na ja, ich bin dann im Zug eingeschlafen, bin grade aufgewacht, als der Zug den Bahnhof verließ, wo ich aussteigen musste, und musste also von Y. aus zurückfahren. Ich hab mir noch von jemandem ein Handy erbeten und in dem Laden angerufen, in dem meine Mutter immer ihre Süßigkeiten kauft, dass sie ihr Bescheid sagen, dass ich später komme. Und das hat geklappt! Als ich ankam, saß meine Mutter gut gelaunt in ihrem Café und gab mir das Geld. Aber jetzt ist natürlich wieder Schluss, denn ich hab ja auch den Ausweis und die Bankkarte verloren. Kannst du mir was leihen? … Nein, bei der Polizei hab ich das noch nicht gemeldet, ich bin da in eine Polizeiwache rein, aber der Beamte war so frech, weißt du: so ein Schnauzbärtiger – einfach ätzend. Ich bin gleich wieder raus. Außerdem wurde der Ausweis ja nicht gestohlen – ich hab ihn einfach verloren.“

ENDE

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Samstag, 9. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 5
L.s Problem war sein früh verstorbener Vater, den er hasste und dem er in seinem Hass auf Innigste verbunden blieb: ein Nazi aus den deutschen Ostgebieten, dem nach Krieg und Flucht eine zweite Karriere als Geschäftsmann gelang. L. als sein Sohn versuchte zu entkommen, indem er sich politisch nach links wandte, und rutschte in das Dilemma, das alle abtrünnigen Kinder haben: Ihm fehlte ein Maßstab für die täglichen, unbewussten Lebensentscheidungen.

In seiner ersten Ehe, da hatte er ja zumindest in einem Teilbereich einen Kompromiss gefunden: Er gründete mit Frau und Weggefährten eine Baugemeinschaft in heruntergekommenem Innenstadtgebiet, auf dem Bauwagenleute hausten und das der Gentrifizierung harrte – für L. die ideale Verbindung von linkem Gemeinschaftssinn und der „Geld-statt-Moral“-Mentalität der Vaterwelt. Anders als sein Vater hielt er es dann aber in der unter solchem Motto stehenden Ehe nicht aus und ging.

Jahre später, als ich ihn kennenlernte, versuchte er einen neuen, weniger konventionellen Start mit Freundin und (einem weiteren) Kind: Aber auch da, als zwischen den Verantwortlichkeiten jonglierender Patchwork-Papa und (beruflich) als Sozialarbeiter in den äußersten Niederungen der Gesellschaft (da also, wo er als Linker eigentlich richtig war), hielt er es wieder nicht aus. Wie schon erwähnt, verweigerte er die Verbürgerlichung seiner zweiten Beziehung per Hochzeit, und dem Kompromissvorschlag „Schrebergarten statt gemeinsamer Wohnung“ konnte die Freundin und Mutter seines jüngsten Sohnes auch nichts abgewinnen. Sie trennten sich und auch bei der Firma kündigte er.

Beruflich schien es dennoch für einen Moment noch einmal aufwärts zu gehen: Er fand bald einen gut bezahlten Job bei einer Firma, die nach amerikanischem Vorbild und in amerikanischem Stil Wohlfahrt auf Spendenbasis zu organisieren wollte. Eigentlich genau das Richtige für ihn: linkes Gutmenschentum, gepaart mit neoliberaler Kommerzorientierung. Nur ging es L. da binnen kurzem wie mit seinem Vater: Das Kommerzielle und Autoritäre, das ihn an der Firma faszinierte und überzeugte, das entfachte auch seinen Hass: Er überwarf sich mit der strengen Chefin und wurde noch in der Probezeit gefeuert.

Danach nur noch Niedergang, den er, wie es heute so üblich ist, als Freiberuflichkeit kaschierte. Man traf ihn ständig auf dem Fahrrad unterwegs zu irgendeinem Sportklub, im Gespräch kündigte er immer großsprecherischer künftige Projekte an, aus denen nie etwas wurde.

Endlich, vielleicht als letzter, verzweifelter Ausweg, die Wende um 180 Grad: Er wurde im fortgeschrittenen Alter Außendienstler bei einer Versicherung. Brauchte einen Anzug, ein Auto, ein Diensthandy. Musste sich einarbeiten in Computerprogramme. Die übersprudelnde Energie, die in den Niedergangszeiten in Phantastereien verpufft war, nun endlich gebündelt in die neue Aufgabe. Dass diese finanziell hochriskant war (die Versicherung geizte nicht mit Vorschüssen), schien ihn zusätzlich zu motivieren. Mit der konkreten Arbeit in einem Versicherungsbüro begannen aber wieder die Geschichten über asoziale Kollegen und Konkurrenten und L. wollte schon wieder alles reformieren. Es endete mit Schulden, mit Mittelchen gegen die Schlaflosigkeit, die er wild kombinierte, bis er körperlich zusammenbrach.

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Freitag, 8. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 4
Nummer 2: L.: Ich kenne ihn über die Kinder. Sein Sohn (sein letzter Sohn) ist nahezu gleichaltrig mit meinem (einzigen). Die Mutter lernten wir auf dem Spielplatz kennen, auf den ersten Blick so eine typische Wessi: freundlich, psychologisch wach, allerdings mit einem befremdlich buddhistischen Einschlag und überhaupt ein bisschen zu sehr labile Helicoptermutter. Ich war gespannt auf den Vater – und positiv überrascht, als ich ihn traf: weltoffen, intelligent und redegewandt, fähig zu Selbstkritik. Und interessiert auch an größeren Zusammenhängen, insbesondere politischer Art.

Es entwickelte sich eine merkwürdige Beziehung zwischen uns: Wir trafen uns, um abzulästern. Und das machte Spaß. Wir fühlten uns beide unterbezahlt (beide arbeiten wir überqualifiziert in schlecht bezahlten Jobs im sozialen Bereich), aber das war nicht der Punkt. Das Schöne war einfach, dass ich mit ihm einen Menschen hatte, mit dem ich geistig abfliegen konnte und diskutieren über allgemein politische Gebiete, die für keinen von uns relevant waren. Und wenn, dann nur in dem Sinne, dass wir ablästern konnten über Machthaber und Vorgesetzte sowie die Welt im Allgemeinen.

Natürlich blieb mir nicht verborgen, dass sich L. irgendwie immer weiter reinritt in die Sch… (während ich begann, aus ihr herauszukrabbeln). Einerseits, was die Beziehung betraf: Als wir die beiden kennenlernten, zogen sie gerade in eine gemeinsame, große Wohnung, teuer zwar, aber bezahlbar, sogar mit zwei kleinen Zimmerchen für seine Kinder aus erster Ehe, mich beeindruckte die Art, mit der stolz sein Patchwork-Modell lebte. Doch dann gelüstete es seine Partnerin auf etwas mehr als Patchwork, sie wollte geheiratet werden, so wie die andere vor ihr auch. Darauf konnte sich L. nicht einlassen, er reagierte mit panischer Suche nach sich selbst: schmiss den Job, suchte sich eine eigene Wohnung, kündigte endlich die Beziehung. In der Reihenfolge. Nur als Vater blieb er einigermaßen in der Rolle und in der Verantwortung.

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Donnerstag, 7. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 3
Seit diesem Zeitpunkt, T. kam immer noch am Freitagabend mit den aktuellen Filmen für meinen Beamer, oft mit einer familienfreundlichen Alternative, damit meine Frau mitgucken kann, und für damals jr. schnitt er sogar eine kindertaugliche Star-Wars-Zusammenfassung, seit diesem Zeitpunkt guckte nur noch ich mit ihm allein, und es war auch von meiner Seite mehr ein Liebesdienst, kein wirkliches Vergnügen mehr, denn das Jammern und Wehklagen wurde mehr und mehr zu seinem Mono-Thema. Sicher gings ihm schlecht, der tagelang allein in seiner Wohnung saß, die Fenster fest geschlossen (gegen die in der Tat geräusch- und abgasseitig ätzende Straße), und seinen Ängsten beim Wachsen zusah.

Aber er tat nichts dagegen, schlug wohlmeinende Ratschläge aus (Mach eine Psychotherapie! Geh mit der Gitarre zu den Jam-Sessions von Kumpel Y.! Hilf mit bei der Kleiderkammer für Flüchtlinge!) und unternahm nur Kontraproduktives: Statt zum Therapeuten ging er zum Heiler (bezahlen mussten das seine Eltern), der ihm immerhin eine Beschäftigung anbot, indem er ab jetzt aufwändig ayurvedische Essensvorschriften einhielt. Ansonsten brachte es nichts. Immer, wenn er kurz davor war, bei der Jam-Session mitzumachen, spielte wieder sein Daumen verrückt, und bei der Kleiderkammer passten ihm die Öffnungszeiten nicht. Noch wütender als mein Satz über die Katze machte ihn die Aussage des Amtsarztes, er sei 4 Stunden pro Tag arbeitsfähig. (Die Behörden machten sich aber letztendlich nicht den Stress, sondern verrenteten ihn und waren ihn los.)

Irgendwann sagte meine Frau, dass auch die dem Videoabend vorgeschalteten Abendbrote unzumutbar würden, auch für damals jr., jedenfalls wöchentlich sei das wohl nicht die richtige Inspiration. Ich bot T. an, statt der wöchentlichen Familienabendbrote mit anschließendem Video-Abend vielleicht öfter Abende zu zweit bei ihm mit einzuschalten. Für T. aber bedeutete jede Herunterdosierung des Beruhigungsmittels „Familienabendbrot bei damals&Co.“ einen weiteren Kontrollverlust und das löste Panik aus. Er reagierte erbost, nein, er brach den Kontakt ab, nach 20 Jahren, nein, er setzte mir die Pistole auf die Brust: entweder Freitage wie immer oder gar keinen Kontakt mehr. Das wiederum machte mich bockig und nach mehreren gescheiterten Ausspracheversuchen am Telefon nahm er nicht mehr ab, wenn ich anrief. Irgendwann hab ich das auch akzeptiert.

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Mittwoch, 6. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 2
Bei meinen männlichen Freunden siehts etwas desaströser aus, und das ist (weil ja Nörgeln und Dampfablassen in meinem Blog die eigentliche Schreibmotivation ist), mein eigentliches Thema.

Mein Freund T., ich hab ihn hier öfter erwähnt, er war mein bester Freund, seit Ende der 90er Jahre, und seit ich ihn kenne (schon seit 1990), war er biografisch auf Schlingerkurs: Er hatte die riskante Karriere eines Punk-Gitarristen angesteuert und – als nur halbwegs erfolgreich – abrupt abgebrochen. Und in der sich anbahnenden zweiten Laufbahn als Filmvorführer, da wurde er nicht so recht sesshaft. Ich erinnere mich sogar an den Punkt, an dem er karrieremäßig den falschen Abzweig nahm: Nach Jahren als Vorführer in großstädtischen Multiplex-Kinos (da war das Arbeitsklima natürlich ätzend – ich erinnere mich an den Konflikt zwischen einem Kollegen, einem saufenden Ossi mit DDR-Knast-Erfahrung, und seinem Chef, einem stasibelasteten Typen aus der DDR-Kinowelt, der nun Geschäftsführer hier im Westen war), da erhielt er ein Angebot, in der Provinz ein Programmkino zu übernehmen, als Verantwortlicher für alles Technische und mit nur einem Kollegen für das Organisatorische. Er wagte es nicht, wegzugehen, obwohl ihn damals schon der Großstadtverkehr gehörig stresste.

Nun stört sowas ja eine Freundschaft nicht, wenn jemand beruflich schlingert – ich bewegte mich selbst grad nicht in den solidesten beruflichen Bahnen damals. Aber irgendwie wurde alles immer schlimmer. Die Sonnenbrille und die Ohrenstöpsel wurden seine immerwährenden Begleiter, am Ende auch in der kalten Jahreszeit, auch in der Wohnung, weil ihm die Reize der wirklichen Welt immer stärker auf die Nerven gingen. Manchmal fand ich das ja sogar noch lustig, z. B. wenn er – der immer getreulich die besten Filme der Woche aufnahm und zu mir zum Gucken mitbrachte, wenn er dann sagte: „Dein Beamer ist herrlich: so lichtschwach.“ Das entsprach ja auch meiner minimalistischen Anschauung.

Aber irgendwann wurde es verrückt, gab es einen fließenden Übergang ins Psychotische: Er hatte eine Verletzung am Daumen, die nicht verheilen wollte, weil er sie mit Besessenheit von morgens bis abends beobachtete. Einmal entfuhr mir ein Satz (T. hatte Angst, unsere Katze könnte ihn kratzen) „Jetzt müsste sie mal zuschlagen, da hätten wir eine Vergleichsverletzung.“, da war er tagelang beleidigt.

Den wirklichen Bruch, innerlich, brachte aber etwas Geistiges. T. war ein Fan von Sebastian Schipper, „Absolute Giganten“ war einer seiner Lieblingsfilme. Und dann kam „Victoria“ in die Kinos und ich fragte ihn, ob er nicht mitkommen wolle. „Nein“, meinte er, „ ins Kino, so zwischen den vielen Leuten, und dann auch noch ein Film mit Handkamera - nein, das ist mir zu anstrengend.“

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Dienstag, 5. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 1
Insgesamt ist es schon ein schmaler Grat, auf dem man sich bewegt in seinem bürgerlichen Dasein. Rings um mich herum seh ich Existenzen, die auch „etwas schief ins Leben gebaut“ sind (wie Ringelnatz das so schön sagte), was ja an und für sich nicht schlimm ist, aber mangels des „kleinstbürgerlichen“ (schizophrenist) Familienmodells ziemlich umherschlingern.

Na ja, wahrscheinlich ist es so, dass ich mir diese Nachbarschaften auch unbewusst einfach suche (so wie es vermutlich kein Zufall ist, dass mein depressiver Bruder in waldreicher Provinz sesshaft geworden ist, während meine kämpferische Schwester sich in einer Fernbeziehung Berlin-Stuttgart aufreibt).

Ich dagegen mochte es früher altmodisch (nicht umsonst heißt mein Pseudonym hier „damals“): Meine Frau lacht immer noch gern über meinen Hang zu alten Männern und führt als Beleg meinen Doktorvater an: Ja, er stand damals am Ende seines Berufsleben, und ja, ich mochte seine schon fast an Depression grenzende Verzagtheit, und die Ironie, mit der er sie verzierte, zog mich an. Und ich profitierte ja auch davon, indem die Uni ihm als Abschiedsgeschenk noch einen Doktoranden finanzierte und das war dann ich.

Und als ich dann in Hamburg noch einen Versuch machte, mich dem universitären Bereich zu nähern, da war es wieder so ein verschrobener Alt-68er, der mich und den ich sofort mochte und der mir den Eintritt ermöglichte. Seine jungen Mitstreiter mit ihrem Tempo und ihrem Pragmatismus, ja, die mochte ich auch, aber ich wurde nicht warm mit ihnen. Vielleicht war ich auch zu feige, jedenfalls zog ich ein Angestelltenverhältnis im Niedriglohnsektor der weiteren dynamischen, aber prekären Uni-Mitarbeit vor.

Damals also waren es die Alten, jetzt, da ich selbst älter werde, und zwar ganz konventionell als Ehemann, Vater, Angestellter, da sind es die psychisch Auffälligen, die mich emotional anziehen. Z. B. gibt es da G., eine Sechzigjährige mit einem superlangen mädchenhaften Zopf und einer leisen, langsamen Stimme, die alles Laute, Moderne, Bürgerliche oder gar Kommerzielle von oben herab verachtet (und das, obwohl sie als Selbstständige arbeitet – entsprechend sind ihre Einkünfte), mit ihrem Fahrrad immer einsam wie in einer Wolke von Weichheit und Sensibilität dahinradelt, ihren Pudel aber gouvernantenhaft streng erzieht. Nicht so ungewöhnlich, meinen Sie jetzt? Sicher. Aber für unsereins Normalos mitunter etwas anstrengend: Meine Frau, deren Freundin sie ursprünglich ist, klagt oft über G. mit ihren moralischen („Ihr habt ein Wohnmobil? Wie sieht denn die Energiebilanz aus?“) oder terminlichen („Ihr seid zehn Minuten zu spät. Ich hab gewartet.“) Anforderungen. Mir gefällt diese unbürgerliche Note, die sie in unser Leben bringt, beispielsweise, wenn ich ab und an an esoterischen Veranstaltungen teilnehme, mit denen sie recht und schlecht ihren Lebensunterhalt verdient, da staune ich immer, wie qualitätvoll man auch in diesem Bereich arbeiten kann, und ich mag auch ihre moralische wie politische Klarheit (auch das ja etwas Unbürgerliches), die ihre Macken mehr als aufwiegt.

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