Sonntag, 19. August 2007
Der letzte Brief ist vom Januar 1990
Ende Januar 1990 bin ich selber dann auch in den Westen umgezogen. Meine Freundin war schon voraus und weilte in London, wohin sie im August von der End-DDR die Ausreise genehmigt bekommen hatte. Ich ließ mich zu Ende 1989 in Greifswald exmatrikulieren und bewarb mich für das Frühjahrssemester in Hamburg. Im Januar verkündigte unser einziger beliebter Professor in Greifswald, dass auch er zu Semesterende zu seiner Tochter in den Westen ziehen wolle. Es war eine ziemliche Rette-sich-wer-kann-Stimmung ... Ich schrieb an meine Freundin:
Greifswald, 26.1.90
Ich habe an meinem letzten Abend in Greifswald gar nicht besonders viel Zeit an Dich zu schreiben – ich werd den Brief wohl in Hamburg beenden müssen – weil ich gleich ins Kino und danach mit Haule in die „Kiste“ gehen werde, noch einen trinken – bin also voll ausgebucht
[…]
… und trotzdem ist’s schon komisch, dass ich wie häufig nachts hier ankomme, aber das Zimmer ist total leer (bis auf Bett und Möbel) und beim Zähneputzen aus dem Erkerfenster guck ich auf Harrys Trabant-Kombi, in dem schon alles verpackt ist und der mich morgen ins Ungewisse kutschen wird.

29.1.90
Ich bin jetzt in einer ziemlich doofen Zwischensituation, sitze in einer Notunterkunft (BGS-Kaserne) in Ratzeburg fest – Aufnahmeverfahren in der Lübecker Außenstelle von Gießen passiert frühestens übermorgen, am Mittwoch. Na ja, Du hast es ja auch grade durch - es ist wie bei der Armee: Da sitzen die Männer über Bierbüchsen und Pornoheften und schwatzen, sind sehr unterschiedlich und eigentlich alle nicht angenehm

Der Grenzübertritt war nach dem Mauerfall kein Hindernis. Nur zeigt die obige Notiz, dass gerade deshalb Massen und Massen in den Westen kamen. Das aufwendige Aufnahmeverfahren musste man durchlaufen, um den westdeutschen Ausweis und vor allem die Wohnung im Westen zu bekommen: Heimplatz plus §-soundsoviel-Schein, wie ihn die Obdachlosen bekommen.
Ich bekam nach sieben Tagen Aufnahmeverfahren nur einen Heimplatz in Unna, wo ich nun überhaupt nicht hinwollte, und auch den begehrten Wohnungsschein nicht (da er ab Januar – völlig berechtigter Weise – nicht mehr vergeben wurde). Stieg in Hamburg aus und klingelte bei den Bekannten, die meine Freundin und ich am Grenzöffnungswochenende kennen gelernt hatten. Dort stand auch schon mein Hausrat auf dem Boden. Ich hoffte auf ein WG-Zimmer dort. Aber ich geriet in ein Besäufnis und am nächsten Mittag war mein ungeliebter Heimplatz verfallen und ich bekam, da kein Zimmer frei war, die Speisekammer, die sofort DDR-Schrank getauft wurde.
Also, es war wirklich so, ich hatte das Gefühl, dass die DDR in Chaos versinkt und wir Schiffbrüchigen total herzlich im Westen aufgenommen werden.

Die Sehnsucht nach der Heimat kam erst später. Und das Theoretisieren über die DDR noch später. Dazu demnächst mehr.

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