Mittwoch, 30. August 2023
Zum Nachdenken für Pädagogen: Wissen ist Sein
Mal wieder ein Zitat aus der aktuellen Lektüre: Von Ann Cotten habe ich vor Jahren schon ein Buch gelesen, „Der schaudernde Fächer“, ein Buch mit Erzählungen und einigen eingestreuten Versen, das war ganz schön versponnen, originell, vieles habe ich gar nicht verstanden, oft aber gab es so treffende Formulierungen und Geschichtchen, z. B. bei dem Portrait von Berliner Hipsterfrauen als „Seekühe der Kunst“ habe ich herzlich gelacht, und klug war es auch.

Jetzt fiel mir in einem Buchladen „Die Anleitungen der Vorfahren“ in die Hände, ein großartiges Buch. Teils Kurzprosa, teils Gedichte, was das Leseerlebnis nochmal schöner macht, weil Cotten offenbar ein ziemliches dichterisches Talent hat - fast jedes zweites Gedicht eine richtige Perle. Und die Prosastücke, obwohl inhaltlich oft eher banal (Berichte über einen Studienaufenthalt in Hawaii) so originell und klug und umso klüger, je mehr sie ins Essayistische abschweifen – es ist einfach eine Freude!

Da begegnete mir vorgestern bei der Abendlektüre folgender Satz: „Wissen ist Sein, nicht ein Vorrat zum Wegpacken.“ Wie klug ist das denn! Es zeigt nicht nur, wie blöd das Bulimie-Lernen ist, das einfach Wissen reinstopft und vergisst. Es zeigt auch, dass die derzeit übliche Lernideologie falsch ist: dass man nämlich in der Schule eher nur Kompetenzen erwerben sollte, damit das Ich des Lernenden in die Lage versetzt wird, sich mithilfe der Kompetenzen für die eigenen persönlichen Ziele und Wünsche halt das Wissen selbst anzueignen, das es für seine individuellen Ziele und Wünsche benötigt. Nein, das ist letztendlich eine neoliberale, kapitalistisch besitzergreifende, ichbezogene Denkweise. Das Ich ist kein fertiges Ich, das weiß, was es will, und Wissen ist kein Vorrat, den mensch sich greift, um vorwärts zu kommen. Das Wissen selbst ist Bestandteil des Ichs, wo es lebt und das Sein, die Ziele und Wünsche mitbestimmt. Du musst die Welt kennen, um dich in ihr zu orientieren, um in ihr etwas wollen zu können.

Apropos Neoliberalismus: Zwei Seiten weiter heißt es bei Cotten: „Ob das auch eine Präfiguration einer Kamikaze-Melancholie darstellt, auch eine Präfiguration der Bescheuertheit, Muster des Ignorierens oder Beiseiteredens der brennenden Erde, um weiter den Kult der Notwendigkeitsillusionen, des koks- oder kaffeegestützten Gefühls der Kompetenz im Augenblick zu feiern?“

Treffender, schöner hab ich das noch nie gelesen.

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"Wissen ist Sein"
Man unterschätzt auch oft, auf welchen riesigen Schultern man steht. Als gut gebildeter Mensch profitiert man heute von so viel Forschergeist aus der Vergangenheit. Doch damals waren das meist Pioniere und Einzelkämpfer, die sich das Wissen mühsam erarbeiten mussten.

Und was für schreckliche Irrtümer die Menschen auch zwischendurch hinnehmen mussten! Man glaubte zB mal, dass radioaktive Zahncreme gesund sei. Bis dann bei den ersten Unglücksraben die Kiefer weggefault sind.
Oder Freud, der das Unterbewusste "entdeckt" hat. Dieses Wissen gab's bei ihm nur zusammen mit der seltsamen Festlegung, dass jeder Junge seine eigene Mutter sexuell begehren würde.

Und selbst bei einfachstem Grund- und Basiswissen gibt es in ärmeren Ländern immernoch Defizite. ZB wie das mit der Sexualität und Fortpflanzung funktioniert. Eine Entwicklungshelferin erzählte mir mal: Sie wurde (in ihrer Funktion als Beraterin an einer Uni) ständig von Studentinnen gefragt, ob man denn von einem einzigen Mal Sex schwanger werden könnte.

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Freud ist ein gutes Beispiel dafür, wie auch aus dem Irrtum intellektueller Fortschritt entstehen kann.
So wie Heidegger ein Beispiel dafür ist, dass hart erarbeitetes, differenziertes Wissen nicht vor Dummheiten schützt.
Es kommt halt darauf an, Wissen zu haben, es aber auch klug zu leben: Wissen ist Sein.

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"Du musst die Welt kennen, um dich in ihr zu orientieren, um in ihr etwas wollen zu können."

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