Montag, 19. November 2018
So war das, Teil 2
damals, 22:22h
Nicht so an dem Freitag, an dem Knut auftauchte. Er musste irgendwann am Nachmittag gekommen sein. Als ich von der Arbeit kam, war Erik schon da, wie immer. Er saß mit einem Fremden an dem Tisch am Fenster, auch das nichts Ungewöhnliches. Die beiden waren ins Gespräch vertieft, sie bemerkten mich kaum. "Das ist Knut aus Berlin", sagte Erik, als er aufsah, weil ich in der Küchenecke rumorte, ich hatte Kartoffeln und Quark mitgebracht. "Knut will ein paar Tage hier bleiben, er hat Stress mit seiner Freundin." - "Hallo Mario", sagte Knut. Ich mochte ihn sofort. Es war ein großer, hagerer Mann mit breiten Schultern und einem intensiven, fast stechenden Blick. Keine fünf Minuten später saß auch ich bei den beiden und diskutierte mit. Es ging um die aktuellen Themen, um Gorbatschow, die Perestroika und warum bei uns von alldem nichts so richtig ankam. Knut meinte, man könne etwas tun, man müsse es sogar.
Da klingelte es, Johanna kam vorbei, es war Abendbrotszeit. Sofort war klar, dass Johanna Knut nicht mochte, und da Erik Johanna mochte, gab es Streit, noch bevor die Kartoffeln gar waren. "Das ist doch Quatsch, was willst du denn tun?" griff sie Knut an. Der konterte: "Natürlich: Du hast einen Studienplatz zu verlieren, du kannst natürlich nichts tun." - "Moment:", Erik versuchte zu schlichten, "Mit Studienplatz oder so nicht hat das nichts zu tun. Johanna meint einfach, dass es noch nicht einmal einen Raum gibt, wo sich genug Leute spitzelfrei versammeln könnten, und dass es ansonsten eine Kamikaze-Aktion einzelner wäre." - "Ich kenne mehrere Pfarrer hier in Merseburg, die uns Räume zur Verfügung stellen würden.", trumpfte Knut auf und damit hatte er mich - und Erik auch, "Woher denn das?", versuchte Johanna noch zu nörgeln, aber mit einem Mal war klar, was zu tun ist. Johanna ging nach Hause, aber wir entwarfen einen Plan. Plötzlich ging alles wie von selbst.
Knut blieb in Merseburg und zwei Wochen später traf sich in den Räumen der Neumarkt-Gemeinde zum ersten Mal ein "Friedenskreis", freitags, zur Feierabendzeit. Aber fast niemand kam, außer Erik und mir nur ein paar Leute von der Jungen Gemeinde, eifrige, unbedarfte junge Menschen, die zu jedem Arbeitskreis gingen, den die Gemeinde anbot. Knut war sauer. "Diese christlichen Schäfchen gehen mir auf den Zeiger! Immer wollen sie Kompromiss, immer nur die ganz kleine Lösung in der Gemeinde, am besten organisiert und behütet von ihrem Pfarrer. Die begreifen doch gar nicht, was los ist. Dass es jetzt drauf ankommt. Mensch, dieser Staat ist am Kippen, wer jetzt eingreift, der kann was erreichen! Wo bleiben eigentlich eure Studenten?!" - "Das ist das Leben, Knut - freitags fahren die Studenten nach Hause. Oder sie gehen tanzen." Damit hatte Erik leider Recht. "Warum probierst du es nicht mittwochs?", warf ich ein. Aber Knut wollte nicht. Oder er hatte anderes im Kopf. Am Wochenende fuhr er jedenfalls nach Berlin und kam erstmal nicht wieder.
Für uns bedeutete das, dass wieder Ruhe einkehrte, dass Johanna wieder auftauchte und dass wir freitags wieder in die Heavy-Disco gingen. Ich erinnere mich an einen dieser Freitage. Johanna brachte zum Abendbrot Kerstin mit, die mir schon im Straßenbild aufgefallen war: eine schmale, sehr blasse, sehr Dunkelhaarige, aber alles andere als ein Gruftie, eher ungelenk als cool, ganz das Gegenstück zu der attraktiven Johanna. Kerstin sagte nicht viel, manchmal warf sie einen kleinen Witz ein. Später in der Disco tanzte sie viel. Anders als Johanna, nicht elegant, sondern hölzern, marionettenhaft, selbstironisch. Ich saß lang am Rand und sah zu. Auf einmal merkte ich, dass Erik und Johanna verschwunden waren. "Tja", sagte Kerstin nur, als sie wieder neben mir stand, "die haben wir wohl verloren." Sie sah mir in die Augen, es hatte etwas von einem plumpen Anmachversuch. Dann lachte sie, und im nächsten Moment war sie wieder auf der Tanzfläche. Ich folgte ihr.
Um halb fünf morgens schloss die Heavydisco ihre Pforten. Kerstin und ich gingen runter zum Neumarkt. Das war nicht nächsten Weges, aber wir kannten die Backstube, die dort an der Hintertür frische Brötchen verkaufte. Wir waren nicht die einzigen - ein halbes Dutzend unserer Mittänzer hatte den Weg schon vor uns gefunden. Aber wir waren die einzigen, die ihre Beute gleich auf dem Rückweg verspeisten, auf der Saalebrücke. "Komisches Brückchen", meinte Kerstin, "komisches Städtchen. Hast du eine Ahnung, was wir hier verloren haben?" - "Ich komm von hier, ich gehör hier her. Bin wohl ein komisches Männchen." - "Das bist du tatsächlich. Ich frag mich wirklich, was du hier verloren hast. Nicht nur, was ich hier verloren hab, frag ich." - "Lass uns gehen." - "Ja, lass uns gehen."
Da klingelte es, Johanna kam vorbei, es war Abendbrotszeit. Sofort war klar, dass Johanna Knut nicht mochte, und da Erik Johanna mochte, gab es Streit, noch bevor die Kartoffeln gar waren. "Das ist doch Quatsch, was willst du denn tun?" griff sie Knut an. Der konterte: "Natürlich: Du hast einen Studienplatz zu verlieren, du kannst natürlich nichts tun." - "Moment:", Erik versuchte zu schlichten, "Mit Studienplatz oder so nicht hat das nichts zu tun. Johanna meint einfach, dass es noch nicht einmal einen Raum gibt, wo sich genug Leute spitzelfrei versammeln könnten, und dass es ansonsten eine Kamikaze-Aktion einzelner wäre." - "Ich kenne mehrere Pfarrer hier in Merseburg, die uns Räume zur Verfügung stellen würden.", trumpfte Knut auf und damit hatte er mich - und Erik auch, "Woher denn das?", versuchte Johanna noch zu nörgeln, aber mit einem Mal war klar, was zu tun ist. Johanna ging nach Hause, aber wir entwarfen einen Plan. Plötzlich ging alles wie von selbst.
Knut blieb in Merseburg und zwei Wochen später traf sich in den Räumen der Neumarkt-Gemeinde zum ersten Mal ein "Friedenskreis", freitags, zur Feierabendzeit. Aber fast niemand kam, außer Erik und mir nur ein paar Leute von der Jungen Gemeinde, eifrige, unbedarfte junge Menschen, die zu jedem Arbeitskreis gingen, den die Gemeinde anbot. Knut war sauer. "Diese christlichen Schäfchen gehen mir auf den Zeiger! Immer wollen sie Kompromiss, immer nur die ganz kleine Lösung in der Gemeinde, am besten organisiert und behütet von ihrem Pfarrer. Die begreifen doch gar nicht, was los ist. Dass es jetzt drauf ankommt. Mensch, dieser Staat ist am Kippen, wer jetzt eingreift, der kann was erreichen! Wo bleiben eigentlich eure Studenten?!" - "Das ist das Leben, Knut - freitags fahren die Studenten nach Hause. Oder sie gehen tanzen." Damit hatte Erik leider Recht. "Warum probierst du es nicht mittwochs?", warf ich ein. Aber Knut wollte nicht. Oder er hatte anderes im Kopf. Am Wochenende fuhr er jedenfalls nach Berlin und kam erstmal nicht wieder.
Für uns bedeutete das, dass wieder Ruhe einkehrte, dass Johanna wieder auftauchte und dass wir freitags wieder in die Heavy-Disco gingen. Ich erinnere mich an einen dieser Freitage. Johanna brachte zum Abendbrot Kerstin mit, die mir schon im Straßenbild aufgefallen war: eine schmale, sehr blasse, sehr Dunkelhaarige, aber alles andere als ein Gruftie, eher ungelenk als cool, ganz das Gegenstück zu der attraktiven Johanna. Kerstin sagte nicht viel, manchmal warf sie einen kleinen Witz ein. Später in der Disco tanzte sie viel. Anders als Johanna, nicht elegant, sondern hölzern, marionettenhaft, selbstironisch. Ich saß lang am Rand und sah zu. Auf einmal merkte ich, dass Erik und Johanna verschwunden waren. "Tja", sagte Kerstin nur, als sie wieder neben mir stand, "die haben wir wohl verloren." Sie sah mir in die Augen, es hatte etwas von einem plumpen Anmachversuch. Dann lachte sie, und im nächsten Moment war sie wieder auf der Tanzfläche. Ich folgte ihr.
Um halb fünf morgens schloss die Heavydisco ihre Pforten. Kerstin und ich gingen runter zum Neumarkt. Das war nicht nächsten Weges, aber wir kannten die Backstube, die dort an der Hintertür frische Brötchen verkaufte. Wir waren nicht die einzigen - ein halbes Dutzend unserer Mittänzer hatte den Weg schon vor uns gefunden. Aber wir waren die einzigen, die ihre Beute gleich auf dem Rückweg verspeisten, auf der Saalebrücke. "Komisches Brückchen", meinte Kerstin, "komisches Städtchen. Hast du eine Ahnung, was wir hier verloren haben?" - "Ich komm von hier, ich gehör hier her. Bin wohl ein komisches Männchen." - "Das bist du tatsächlich. Ich frag mich wirklich, was du hier verloren hast. Nicht nur, was ich hier verloren hab, frag ich." - "Lass uns gehen." - "Ja, lass uns gehen."
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