Sonntag, 18. November 2018
So war das, Teil 1
Immer, wenn ich in Leuna bin und meine alte Mutter besuche, die immer noch dort wohnt, dann gehe ich auch einmal auch den Berg runter durch das alte Rössen zur Saale. Ich schlendere ein bisschen am Ufer entlang oder ich nehme die Fußgängerbrücke auf die andre Seite, vorzugsweise im Herbst und Winter, wenn niemand sonst dort unterwegs ist. Meine Gedanken tauchen ein in die Vergangenheit. Aber es ist eigentlich nie die Kindheit, an die ich denke. Es sind die Jahre danach, die ersten Jahre meines Erwachsenseins, die gleichzeitig die letzten der DDR waren. Und ich frage mich, was damals so verkehrt war: die DDR oder ich selber.

Äußerlich sah alles gut aus, ich wohnte in Merseburg und hielt mein Leben für schön, entspannt und ereignislos. Die Arbeit als Betreuer in einer kirchlichen Behinderteneinrichtung gefiel mir und die enge, aber vielzimmrige Dachgeschosswohnung teilte ich mit Erik, einem Chemiestudenten. Ich, als Werktätiger, hatte einen Mietvertrag, und Erik brachte immer Studentinnen mit, die es in den Wohnheimen nicht aushielten. Zum Abendbrot waren wir selten allein.

Am meisten mochten wir Johanna. Sie hatte mit unserer Hilfe eine Wohnung gefunden, zwei winzig kleine Zimmer im Hinterhaus mit Klo übern Hof. Das würde heute keiner mehr zu schätzen wissen, aber es war ein Palast im Vergleich zu dem Wohnheimbett im Plattenbau, das ihr zugestanden hätte. Als ich Johanna das erste Mal sah, hätte ich sie noch nicht einmal für eine Studentin gehalten. Sie sah nicht nach jemandem aus, der künftig in diesem Land etwas werden sollte, mit ihren schwarzen Sachen und roten Haaren. Sie hatte etwas Existenzialistisches, etwas, das eher uns zustand oder besser: mir, denn auch Erik pflegte ja offenbar diese Zwischenexistenz, halb ein zukünftiger Kader der Deutschen Demokratischen Republik und doch halb einer von uns. Wir begegneten Johanna, als sie unseren Hof durchschnüffelte, auf der Suche nach leerstehendem Wohnraum. Erik lud sie gleich zum Abendbrot ein, nicht viel später fand sich auch die kleine Wohnung für sie.

Trotzdem kam Johanna noch oft zum Abendbrot bei uns vorbei, das war ja nicht weit – sie wohnte jetzt direkt an der Sixtikirche, wir zwei Straßen weiter. Bei Tee und Käsebroten diskutierten wir Beziehungsprobleme. „Wenn ich zu einer Frau einfach nur charmant sein will“, sagte ich, „dann glaubt sie gleich, ich wäre scharf auf sie, und fährt die Krallen aus.“ – „Mir geht’s nicht besser“, konterte Erik, „Wenn ich auf eine Frau scharf bin, denkt die nur: Ach, der ist ja charmant, und geht ihrer Wege.“ Johanna lächelte, sie nahm die Huldigung an. Dann gingen wir gemeinsam aus – soweit das in Merseburg möglich war. Wochentags landeten wir gewöhnlich im „Haus des Handwerks“, wo es gratis Schmalzbrote gab zum Bier. Johanna aß sich satt davon, während wir unsere Halb-Liter-Humpen schwenkten und die Männer markierten. So ging es viele Abende. Nur freitags gab es eine Alternative, da öffnete um zehn die „Heavy-Disco“. Schon eine Viertelstunde vor Beginn drängelte sich alles am Eingang. Und wir drängelten mit.

Man kann nicht direkt sagen, dass wir das Zielpublikum dieser Diskothek dargestellt hätten, es ging dort eher rau zu. Vielleicht passte ich noch am ehesten in die Heavy-Disco – ich mochte Musik mit harten Gitarrenriffs und liebte es, headbangend allein zu tanzen. Johanna warf mir einmal vor, das wäre doch nur eine Attitüde, ich sei zu zart, zu schmal, zu klug für diese Musik. Sie täuschte sich, ich fühlte mich wirklich wohl und zuhause dort. Dass sie das nicht liebten, das war mir schon klar, sie bevorzugten Wave und Postpunk, halt so konstruierte Sachen mit komplizierten Texten, für die man gut Englisch können musste, mit artifiziell verzerrten Gitarren und nicht richtig tanzbar. In die Heavy-Disco kamen sie nur, weil es dort lockerer zuging als bei den Hochschulpartys, und es war auch der einzige Ort in Merseburg, der so lange nach Mitternacht geöffnet hatte. Ich war froh über Erik und Johanna, so war ich nicht ganz allein unter den Proleten, wir drei waren schon ein Team, wenn wir hier auftraten, und als solches wurden wir auch wahrgenommen. Mir war das recht.

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Oh fein, ein Fortsetzungsroman. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Morgen?

Von der Erzählform her, passt die Geschichte prima in ein Blog - und das Gute daran ist, die Leserschaft kann auch mal nachfragen. Ich, zum Beispiel, frage mich gerade, welche Bands angesichts der 60:40-Regel in einer Heavy-Disco gespielt wurden.

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Ja, morgen gehts weiter. Und im Jahr 1988, in dem die Geschichte spielt, ging es natürlich nicht ohne City, Silly und Karussell ab, aber die die 60:40-Regel wurde doch nicht mehr besonders ernsthaft eingehalten, eigentlich gar nicht. Feeling B oder Renft wurden natürlich nicht gespielt. Und aus dem Westen eher Altmodisches, 70er-Zeugs: Joe Cocker, ACDC, Black Sabbath, ...

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Gut, dass ich gefragt habe, denn diese Bands hätte ich nicht unter "Heavy" einsortiert. Ich assoziiere damit eher Bands wie Metallica, Iron Maiden oder Judas Priest oder eben solche Klassiker wie Led Zeppelin, Black Sabbath, AC/DC oder Motörhead.

Wir woll'n immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne ...

Nachtrag: Ah, ich sehe, Sie haben Ihren Kommentar noch ergänzt. Also doch AC/DC und Black Sabbath. :-)

Lief eigentlich auch Musik von russischen Bands wie etwa Aquarium, Alisa, Zoopark oder Kino?

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Nein, russische Bands keinesfalls. Es gab auch in der DDR 1-2 Heavy-Metal-Bands, eine hab ich mal auf einem Festival erlebt (erinnere aber den Namen nicht mehr), sowas verirrte sich aber nicht auf Tanzveranstaltungen in der Provinz, das hat man sich alles sehr gesittet vorzustellen. Wie gesagt: Wo schon eine Öffnungszeit bis nach Mitternacht den Geruch des Unangepassten hat ...

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Lief keine russische Musik, weil die Platten auch schlecht zu bekommen waren oder weil sie per definitionem unintessant war, da sie aus dem Staat des großen sozialistischen Bruders kam?

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Definitiv letzteres.

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Nachvollziehbar. Dabei hörten die Musiker dort ebenfalls West-Mucke - was man bei einigen Bands oder/und Songs auch deutlich hört. Ich fand das immer ganz amüsant, die Vorbilder herauszuhören. Kino, die Band von Viktor Tsoi mochte ich gern. Falls Sie die Gelegenheit haben, sich den Film Leto anzuschauen, lassen Sie sich die nicht entgehen (unbedingt die russische Originalfassung mit Untertiteln, die Synchronstimmen aus dem deutschen Trailer klingen einfach nicht so gut wie im Original).

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Am meisten mochten wir Johanna. Sie hatte mit unserer Hilfe eine Wohnung gefunden, zwei winzig kleine Zimmer im Hinterhaus mit Klo übern Hof. Das würde heute keiner mehr zu schätzen wissen, aber es war ein Palast im Vergleich zu dem Wohnheimbett im Plattenbau, das ihr zugestanden hätte. (...) Wir begegneten Johanna, als sie unseren Hof durchschnüffelte, auf der Suche nach leerstehendem Wohnraum. Erik lud sie gleich zum Abendbrot ein, nicht viel später fand sich auch die kleine Wohnung für sie.

In diesen paar Sätzen stecken Szenen für ein ganzes Kapitel, das ich gern gelesen hätte. In meiner Phantasie ist es schon dunkel, weil Johanna rausfinden will, wo kein Licht brennt. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, es könnte ja auch im Sommer gewesen sein, da ist es abends lange hell. Ich frage mich, wer wen zuerst anspricht.

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Dazu eine Szene aus meinem tatsächlichen Leben, die ich dabei unbewusst im Hinterkopf hatte: Ich wohnte als Student mit einer Kommilitonin schwarz. Eines Nachmittags durchstöberten wir offensichtlich leer stehende Häuser, um uns Möbel zu besorgen. (Leerstand ermittelten wir anhand staubiger Scheiben in Fenstern ohne - oder mit stark zerrissenen - Gardinen.) Dann, während wir ein altes Sofa abtransportierten, plötzlich Schritte im Treppenhaus. Wohnt hier doch jemand? Dann stellt sich heraus, dass wir den Bewohner kennen - es ist ein Physikstudent aus unserem Jahrgang. Er hat ein paar Tage vorher eine Wohnung im ersten Stock besetzt und erzählt uns, dass auch ein legaler Mieter, ein alter Mann, noch oben im Hause wohnt. "Aber das Sofa könnt ihr natürlich mitnehmen." So ungefähr kann man sich die Atmosphäre vorstellen.

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Wie lief das denn mit Strom und Wasser? Ich vermute, beides funktionierte in den leerstehenden Wohnungen noch, oder?

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Strom, Wasser, Gas liefen in den Wohnungen noch. Manchmal (so auch in unserem Fall) gelang es sogar, die Adresse ohne Mietvertrag polizeilich anzumelden, was den Zugang zu verbilligter Kohle (Studententarif) bedeutete.

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