Sonntag, 10. September 2017
Abends in der Stadt
Vor ein paar Tagen telefonierte ich mit einem Freund. Ich, Bewohner einer westdeutschen Großstadt, kam gerade vom Sport und meinte: "Es ist ja ein Ding, wie gerammelt voll die Straßencafés abends um neun noch sind, wie viele Leute mitten in der Woche um diese Zeit noch die Zeit und das Geld haben, überteuerte Geränke zu sich zu nehmen." - Er, Bewohner einer ostdeutschen Kleinstadt, erwiderte: "Ich komm oft um diese Zeit erst von der Arbeit. Nur Ausländer auf der Straße. Bedrückend." Und dann wechselte er das Thema, wohl wissend, dass ich nicht Ausländer bedrückend finde, nur die Verhältnisse, die sie durch ihr Erscheinen umso sichtbarer machen.
Irgendein berühmter Mensch hat mal gesagt, die Kultur eines Landes bemesse sich an der Kultur ihrer Kleinstädte.

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OT
In den 70-er Jahren sagte ein US-Amerikanischer Investor über die Österreicher:

"Sie sind gut angezogen, jedenfalls besser als die Amerikaner. Sie sitzen im Restaurant und im Kaffeehaus herum, obwohl sie so wenig verdienen, dass es zum Leben zu wenig ist...." Er konnte sich nicht erklären, wie wir das anstellen. Mittlerweile sind wir auch so wohlhabend, wie die Hauptmasse der US-Amerikaner.

Nur - Kultur haben wir noch immer keine! Es stört uns, dass ein eingewanderter Bosniake und Muslim in Graz mehr als 100 Leute überfahren und 3 davon getötet hat. Gut - er war verrückt - das haben 2 von 3 Psychiatern festgestellt - die Geschworenen haben ihn trotzdem zu Lebenslanger Haft verurteilt.

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Nun, dass ein Verrückter störend wirken kann, insbesondere wenn er Menschen tötet, das kann man nachvollziehen (das Gerichtsurteil allerdings weniger). Und die Hamburger würden garantiert nicht in den Cafés rumsitzen, wenn sie sich das nicht locker leisten könnten. (Ohne Geld in Cafès rumzusitzen, das hat dagegen schon wieder was. Vielleicht sollte man das den Bürgern von Brandenburg empfehlen.)

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Dann wäre da wenigstens mal was los. Ich war vor fünf Jahren mal in Brandenburg an der Havel. Dass die Stadt rund 72.500 Einwohner haben soll, hat man da aber nicht gemerkt. Kaum ein Mensch auf der Straße, dabei war das Wetter gut.

Im April 2017 lebten übrigens rund 1.600 Flüchtlinge in der Stadt, 450 mehr als im Jahr zuvor. Wobei viele von den 450 aus dem Landkreis Potsdam-Mittelmark zugezogen sein sollen, berichtete die Märkische Allgemeine Zeitung.

1.600 Flüchtlinge bei 72.500 Einwohnern ergibt eine Ausländerquote von 2,2 Prozent.

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Na ...
... die Rechnung ist aber falsch, denn es werden ja vorher schon Ausländer dort gelebt haben, also ist es 2,2 + x Prozent.

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Der Ausländeranteil ist dort nach wie vor sehr gering. Laut amtlicher Statistik lag der Ausländeranteil in Brandenburg 2015 bei insgesamt 3 Prozent.

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Ich fand eben noch aktuellere Zahlen. Laut amtlicher Statistik zählte Brandenburg zum 31. Dezember 2016 insgesamt 71.973 Einwohner, davon waren 3.064 "Nichtdeutsche" - darunter fallen aber auch sämtliche EU-Bürger dort. Das ergibt eine Ausländerquote von insgesamt 4,25 Prozent. Ist trotzdem total niedrig.*

Ich vermute mal, der Freund von Herrn damals findet auch nicht den Anblick der EU-Bürger auf den Straßen bedrückend, sondern den Anblick derer, die aufgrund ihres Teints oder/und ihrer Kleidung sofort als Fremde zu erkennen sind. In den Gemeinschaftsunterkünften ist es oft beengt und langweilig, klar gehen die Leute dann lieber in der Stadt spazieren, besonders im Sommer.

Vielleicht wohnt jener Freund aber auch in Hohenstücken, dort wurden ab 1972 diese WBS 70-Blöcke gebaut (Plattenbau, fünf Stockwerke), es war in den ersten Jahren der begehrteste Wohnort der Stadt. Unter anderem gehörte die Unterkunftsabteilung der NVA Potsdam zu den Trägern und Vermietern.

Laut Statistik leben da heute 8.127 Menschen, von denen 1.062 Ausländer sind. Möglicherweise konzentrieren sich dort die Gemeinschaftsunterkünfte - oder aber es standen viele Wohnungen leer, die dann an Flüchtlinge, die vom BAMF schon eine befristete Bleibeerlaubnis bekamen, vermietet wurden. Hohenstücken kommt demnach - als einziger Stadtteil - auf eine Ausländerquote von 13,0 Prozent.** Der Beigeordnete für Kultur, Jugend, Soziales und Gesundheit mitsamt der entsprechenden Abteilung der Stadtverwaltung hat dort aber auch seinen Sitz.

* Zum Vergleich: Die Stadt Rüsselsheim am Main zählte am 31.12.2015 insgesamt 65.075 Einwohner, davon 16.619 Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, ergibt eine Ausländerquote von 25,54 Prozent.

** Zum Vergleich: Im Rüsselsheimer Stadtteil Dicker Busch (westdeutsches Äquivalent zum Plattenbau, siehe verlinkte Postkarte) wohnen 9.423 Leute, davon haben 3.232 keinen deutschen Pass - das ist eine Ausländerquote von 34,3 Prozent.

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Ich muss zugeben, dass ich - da sieht man die Unsicherheit in diesen Dingen - ein bisschen fiktionalisiert habe, da mir beim Schreiben plötzlich bange um die Identität meines Freundes wurde: Es handelt sich bei seinem Wohnort nicht um Brandenburg an der Havel, sondern um eine andere Kleinstadt in Brandenburg mit vergleichbaren Verhältnissen in puncto Ausländeranteil.

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Wie auch immer, mich erinnert das ein wenig an Dikussionen nach der Euro-Umstellung über die gefühlte Inflation. Die offzielle Teuerungsrate, basierend auf irgendwelchen abstrakten Warenkorb-Analysen, deckte sich kein bisschen mit dem Erleben beim täglichen Einkauf oder beim abendlichen Essengehen. So ist das auch mit dem gefühlten Ausländeranteil. Wenn man in meinem früheren Wohnviertel in MA nur anhand des Straßenbilds geschätzt hätte, wäre man sicher weit über 70 Prozent Ausländeranteil gelandet, aber laut Einwohnermeldeamt waren es damals weniger als 50 Prozent.

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Insofern macht es nicht wirklich einen Unterschied. :-) Es wird wahrscheinlich auch eine schrumpfende Stadt sein, die durch die Zuweisung von Flüchtlingen wieder einige Einwohner mehr zählt.

Schade, dass man dort überwiegend mit Angst und Ablehnung reagiert. Für die ortsansässigen Vereine, die bestimmt wie überall in Ost und West überaltert sind, wäre das auch eine Gelegenheit, neue Mitglieder zu gewinnen. Das würde auch beim Deutschlernen und der Integration helfen.

Der CDU-Bürgermeisrter von Hettstedt in Sachsen-Anhalt sieht es mit Sorge, dass die Flüchtlinge nicht dauerhaft dort bleiben wollen - er würde die gern zum Wohle der Stadt dauerhaft ansässig machen, um beispielsweise die Wasserpreise stabil halten zu können oder die Kitas und Schulen nicht schließen zu müssen.

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@ mark: Ausländer ist hierzulande, wer nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat, das Aussehen spielt dabei keine Rolle. Etliche der "gefühlten Ausländer" auf den Straßen jenes Stadtviertels dürften Deutsche gewesen sein, in Mannheim geboren und aufgewachsen.

Die Ausländerquoten in ostdeutschen Städten sind jedoch meilenweit entfernt von denen in westdeutschen Städten.

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"und man sieht nur die im Dunkeln, die im Lichte sieht man nicht"
... eigentlich wollte ich gar nicht auf die Ausländerproblematik eingehen. Die Abneigung gegen Ausländer in brandenburgischen Kleinstädten ist doch nur das Symptom für ein ganz anderes Problem: Es macht keinen Spaß ud ist stressreich, in derart vergessenen Orten zu wohnen. Und da könnte durchaus ein Zusammenhang mit den übervölkerten, überteuerten Straßencafés von Ottensen bestehen (jetzt mal bewusst vage formuliert).

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Inwieweit ist es stressreicher, in einer brandenburgischen Kleinstadt zu wohnen als in Hamburg? Dort sind ja nun auch nicht alle Leute so wohlhabend, dass sie immerzu in überteuerten Straßencafés abhängen können.

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Ich meinte weniger die Armut (die ist vermutlich nicht verbreiteter als in Hamburg) als die drückende Stimmung und gegenseitige Missgunst, den fehlenden Nahverkehr, die fehlenden Cafés, Freizeitangebote,...

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Die gegenseitige Missgunst fördert nicht gerade kreative Ideen für Alternativen. In westdeutschen Kleinstädten ist es mit dem öffentlichen Nahverkehr meistens auch nicht so weit her. Kann man in Brandenburg nicht gut Rad fahren?

Freizeitangebote hat es vor 30 Jahren vermutlich mehr gegeben, wenn auch - gerade für Kinder und Jugendliche - entsprechend gelenkt, aber gab es dort auch mehr Cafés ["Sie werden platziert"]? Und gab es in der DDR denn keine Langeweile?

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Ich bin nicht sicher. Ich vermute, dass es daran liegt, dass kreative Köpfe, flexible Leute früher in der DDR weniger Möglichkeiten hatten, solche Orte zu verlassen und dann eben da blieben und so, ohne dies zu wollen, für ein besseres Klima sorgten.

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Da ist sicherlich etwas dran.

Im Westen gibt es allerdings auch Landflucht, eine Cousine von mir hatte mit dem Thema Regionalentwicklung einige Jahre zu tun. Es gibt eine Deutsche Vernetzungsstelle Ländliche Räume, Diplom-Arbeiten und auch sonst reichlich Literatur sowie Tagungen. Die Bosch-Stiftung legte sogar eigens ein Programm namens Neulandgewinner exklusiv für Ostdeutschland auf. Die Schader-Stiftung beschäftigt sich hingegen auch mit Migration und Integration im ländlichen Raum, aber ich vermute, dafür interessiert man sich in ostdeutschen Kleinstädten nicht so sehr.

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