Dienstag, 4. April 2017
Saaleck
Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören die Ausflüge zur Rudelsburg, zwei oder drei waren es, die wir Geschwister mit den Großeltern unternahmen.

Die Großeltern wohnten in Leuna, und weil Großvater ein ehemaliger Leuna-Werker war, durften wir vom Werksbahnhof abfahren. Der Fußmarsch durch das Werk zum Bahnhof, vorbei an grauen Werkhallen, aus denen es dröhnte, unter Rohrbrücken hindurch und zu Füßen der dampfenden Kühltürme – das war schon die erste Attraktion. Später in Kösen gab es eine Fähre über die Saale und danach einen stundenlangen Aufstieg am auf dieser Seite felsigen, waldigen Saaleufer. Am Ende oben: die Rudelsburg, eine malerische Ruine mit Biertischen und Faßbrause im Burghof und einem wunderbaren Ausblick über das Saaletal.

„An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn ...“ stand an einer Tafel geschrieben. Zur Seite hin gab es nämlich noch eine zweite Burg, eigentlich nur noch zwei Türme: Saaleck. Die Auskunft, dort sei geschlossen, da könne man nicht hin, ließ mich immer etwas unbefriedigt.
Aber als ich letztes Jahr auf unserer Wohnmobiltour unbedingt auch die Rudelsburg sehen wollte, da ergab es sich. Den Wohnmobilstellplatz in Kösen, den fanden wir irgendwie nicht und landeten in dem Dörfchen Saaleck, wo ein geschäftstüchtiger Einheimischer ehemaliges LPG-Gelände erworben und dem Tourismus erschlossen hatte; allerdings wurde dies nicht angenommen (die einzigen Touristen außer uns waren Fahrradtouristen entlang der Saale), sein Projekt lebte von polnischen Fremdarbeitern, die dort auf Dauer kampierten.

Also, wir stiegen hinauf zur Burg Saaleck und besichtigten die kleine Ausstellung. Und dort erfuhr ich, dass sich in den zwanziger Jahren die Rathenau-Mörder dort versteckt hatten. Ich war perplex: Warum wusste ich das nicht? Und beim Wiederabstieg fiel uns ein besonderes, jetzt teilweise verfallenes Anwesen auf, über das ich mit meiner Frau in Streit geriet: War das jetzt ein Hotel und frühes 20. Jahrhundert oder ein herrschaftliches Anwesen aus dem frühen 19.? Ich war ja für Ersteres. Die Auflösung gab uns kurz darauf mein Vater: Das waren die „Saalecker Werkstätten“ des formal modernen, ideologisch rechts-außen Architekten Paul Schultze-Naumburg, also hatte ich mit dem frühen 20. Jahrhundert schon Recht gehabt, auch wenn das kein Hotel war im engeren Sinne.
Denn ein Treffpunkt war Saaleck schon in den 20er Jahren, das wurde mir jetzt klar, als ich in der Krabbelkiste des Antiquariats, an der ich nach der Arbeit in Ottensen immer vorbeikomme, ein Buch über die Rathenau-Mörder fand (Martin Sabrow: Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999), das zwar wissenschaftlich spröde (keine Gefahr, bei Übermüdung abends im Bett zu lesen), aber sehr sachlich und genau die damaligen Verhältnisse darstellte.
Und jetzt versteh ich auch meine eigene Familiengeschichte besser: Über die Geschichte meines Vaters und seiner Leunaer Familie, da weiß ich sehr viel. Die waren immer schon SPD, im Wohnzimmer meiner Eltern hängt eine Reliquie, ein mit roten Fahnen umsticktes August-Bebel-Foto, ein Werk meiner Urgroßmutter.
Über die Familie meiner Mutter, die eher kleinbürgerlich-rechts zu verorten ist, weiß ich weniger. Aber als ich über die Bürgersöhne las, deren Eltern, in der Kaiserzeit kaisertreu und wohlhabend geworden, Anfang der 20er und insbesondere 1923 verarmten, und die dann Rechtsterroristen wurden, da war mir klar: Da ist meine Oma doch die zugehörige Bürgertochter. Ich erinnerte mich daran, dass sie erst beim Wandervogel war und dann Lehrerin lernte und anschließend auf einem thüringischen Gutshof die Kinder der Herrschaft erzog. Sie hatte eine Affäre mit dem Verwalter, mit dem sie morgens immer ausritt. Aber als sie dann neben dem Verwalter zu Pferde blieb, als dieser die Dienerschaft antreten ließ, da wurde es der Herrschaft zu bunt und die beiden wurden entlassen. Der Verwalter trollte sich und meine Oma musste zu ihren Eltern zurück, die sie panisch schnell verheirateten, da die Verarmung von 1923 nahte (was ja nun im 20. Jahrhundert nicht unbedingt mehr ein Grund war).
Als ich meine Mutter darauf ansprach, gab sie mir Recht: Ja, die Ereignisse von Saaleck hätten meine Oma schockiert, sie habe sich doch diesen Leuten zugehörig gefühlt, und nun stellte sich heraus, dass es Mörder sind; Mörder des Außenministers. Das habe sie beschämt. Nach der Nothochzeit mit meinem Opa führte sie die Hochzeitsreise dennoch nach Kösen, zu Rudelsburg und Saaleck.

Meine Mutter, ihre Tochter, hatte dann ihre Gründe, auf die andere Seite, die kommunistische, zu wechseln. Auch da wurde sie bitter enttäuscht. Aber wenn sie jetzt manchmal melancholisch anmerkt, die Kommunisten hätten eben damals, in den 20ern, mannhaft zupacken und die Herrschaft an sich reißen müssen, da spüre ich in ihren linken Träumen die viel älteren, nicht viel anders lautenden Wünsche ihrer rechtsgerichteten Mutter und der Ihrigen.

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Sehr spannend,
wie sich an dieser Örtlichkeit die großen Geschichtsläufe mit Ihrer Familiengeschichte vermengen, danke fürs Teilen.

Linke, Kommunisten gar, müsste ich in meiner Familiengeschichte mit der Laterne in der Hand suchen, der deutsche Teil sind größtenteils erzkatholische Bauern gewesen, die nie etwas anderes gewählt haben als Zentrum oder CDU - mit Ausnahme von Onkel Leo, dem Dorfnazi, der auch später immer noch die einzige NPD-Stimme in Dorf abgab und da auch nie einen Hehl daraus machte. Auf der ukrainischen Seite meines Vaters wird es nicht viel anders ausgesehen haben.

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Diese Geschichte teile ich gern - weil ich es selbst spannend finde. In meiner Familie wird halt die linke Tradition (die sicher da ist und wichtig ist) etwas überbetont. Als ich jetzt über die Rechten in den 20ern las und von deren Ideen und Thesen, da hörte ich plötzlich geradezu meine Mutter (die immer schon zu radikalen Ideen neigte) sprechen und merkte, wie aus meiner Mutter meine Oma (die ich selbst nicht erinnere - sie starb, als ich 3 war) spricht.
Wir haben eine Wandervogel-Laute im Familienbesitz, die bekam ich in die Hand gedrückt, als ich mit vierzehn den Wunsch äußerte, Gitarre zu lernen. In so schrägen Details äußern sich die verschwiegenen Famileintraditionen. Dagegen scheint Ihre Familie ja ziemlich bodenständig zu sein.

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Kann man sagen. Oder zynischer ausgedrückt, man stand aus falschen Gründen zufällig auf der richtigen Seite. Meine Großmutter, die als Kind noch das Kaiserreich erlebt hatte, hielt Hitler für den Antichristen und setzte es durch, dass meine Mutter und ihre Geschwister nicht zu HJ und BDM gehen mussten, weil der Vater Kriegsversehrter aus dem Ersten Weltkrieg war und die Kinder auf dem Hof helfen mussten.

Onkel Leo, dessen genaues Verwandschaftsverhältnis zu uns ich auf die Schnelle nicht zusammen bringe, war, man muss das leider sagen, der intelligenteste Mann im ganzen Dorf, und im Grunde war sein Eintritt in die Partei ein Versuch, gegen die dumpfen und bigotten Dörfler unter der Fuchtel des Pfaffen zu revoltieren. Also im Grunde mit einem richtigen und nachvollziehbaren Anliegen dann doch völlig falsch abgebogen.

Mein Vater, der offiziell den Status "Kriegsverschleppter" hatte, ist durchaus mehr oder weniger freilwillig mitgegangen, als die Deutschen in seinem Dorf Fremdarbeiter für die Landwirtschaft im Reich rekrutierten. Und wäre er ein paar Zentimeter größer gewesen, hätte es vielleicht auch für die Waffen-SS gereicht. Das mag man sich ja alles gar nicht ausdenken, denn in der ukrainischen Heimat meines Vaters gab es bestimmt schlimmeren Antisemitismus als im badisch-sibirischen Dorf meiner Mutter, wo man im Lebtag noch keinen Juden gesehen hatte.

So ist das dann oft, wenn man genauer hinguckt: Nicht aus guten Gründen stand man auf der richtigen Seite, Mama wäre heimlich gern zu den BDM-Verabstaltungen gegangen und Papa, der später gern den Pazifisten raushing, zur Waffen-SS.

Ich frage mich dann manchmal, was aus mir geworden wäre, wenn ich dort und damals aufgwachsen wäre. Vielleicht hätte ich mich Onkel Leo angeschlossen - oder andernfalls wäre ich aus Trotz vielleicht Kommunist geworden.

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Aus falschen Gründen auf der falschen Seite:
Das ist ja tatsächlich recht gegensätzlich, was da in Ihrer Familie lief (vielleicht ein bisschen der Gegensatz Stadt - Land?). NSDAP-Mitglieder wurden jedenfalls meine Großväter beide, aber sehr anders als Ihr Onkel: pragmatisch, es ging um den Job. Mein Opa mütterlicherseits, ein eher konservativ-unpolitischer Mann aus der Unterschicht, der 1923 meine unglückliche Bürgertochter-Oma ergattert hatte (worauf er sehr stolz war), war um 1930 wieder mal arbeitslos - für eine Stimmabgabe bei der Saarabstimmung plus NSDAP-Parteibuch bekam er einen recht guten Job in Zweibrücken. Noch schlimmer mein anderer Großvater: Er tauschte 1938 das 1933 irrelevant gewordene SPD- gegen das NSDAP-Parteibuch, um Finanzbeamter bleiben und seinen ganzen Stolz, sein Haus, abbezahlen zu können.
Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, sich zu fragen, was aus einem selbst unter solchen Umständen geworden wäre. Eher: welche Fehler der Vorfahren man nicht wiederholen möchte.
Insofern bin ich ganz froh, dass Sie nicht in die Verlegenheit kamen, aus Trotz Kommunist zu werden - es hätte Ihnen vermutlich nicht gestanden.

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