Samstag, 20. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 7
Es warf sie in den Sitz zurück, aus dem sie gerade aufgestanden war, um sich noch einen Kaffee zu holen, so heftig bremste der Zug. Verdutzt blieb sie sitzen. Der Zug kam zum Stehen, natürlich war es irgendwo auf freier Strecke. Sie sah aus dem Fenster: das totale Nichts. Eine riesige Wiese, fast bis zum Horizont. Elektrodraht und eine leere Badewanne schienen auf die Nutzung als Weide zu deuten, aber Kühe waren keine zu sehen. Parallel zur Bahn zogen sich die Spuren eines Fahrwegs, der irgendwo rechts von der Bahnstrecke abbog und auf die Ansiedlung im Hintergrund zulief.
Neubukow? Wismar? Schon die Erinnerung an die Namen dieser Käffer ließ in Elke den Ärger wieder aufsteigen. Hoffentlich war es wenigstens schon Grevesmühlen gewesen, dessen heruntergekommenen Bahnhof sie vorhin durchfahren hatten. Nur keine Verspätung jetzt! Sie wollte unbedingt vor den anderen Gästen bei Klara sein. Und natürlich wollte sie raus aus Mecklenburg. Aber Schimpfen nutzte natürlich gar nichts. Betont ruhig stand Elke auf und holte sich jetzt doch noch einen Kaffee.
Aber als sie ihn ausgetrunken hatte und immer noch nichts passiert war, ließ sich die Unruhe nicht weiter unterdrücken. Auch an den Nachbartischen begann man zu tuscheln. Schließlich ließ sich nicht mehr verbergen, dass draußen irgendetwas vorging. Mehrfach waren schon Menschen am Zug auf und ab gegangen. Jetzt sah Elke einen älteren Mann in einer glänzenden Lederjacke neben der Badewanne stehen, der mit wichtiger Miene in sein Handy sprach. Offenbar ein Polizist. Jedenfalls irgendein Offizieller, sie kannte die Typen. Plötzlich erkannte sie auch die Stadt: Es war die Silhouette von Wismar. Elke war oft dort gewesen, damals, als diese Lederjackenträger noch das Sagen gehabt hatten. Na ja. Der Handy-Mann jedenfalls hatte inzwischen Verstärkung bekommen, sie standen jetzt zu zweit an der Kuhtränke und schienen irgendwelche Pläne zu entwickeln. Währenddessen stieg um Elke herum im Speisewagen der Geräuschpegel, Flüche auf die Bundesbahn wurden laut, man begann sich gegenseitig mit Berichten wilder Eisenbahn-Abenteuer zu traktieren.
Endlich erschien der Schaffner. Man konnte seinem Gesicht ansehen, dass er den Wagen am liebsten wortlos durchquert hätte, obwohl er wusste, dass das unmöglich war. Er begegnete den Fragern mit ausweichenden Floskeln, murmelte irgendwas von „Personenschaden“ und „längerer Wartezeit“ und vermied es, konkrete Aussagen über Verspätungen und Anschlusszüge zu machen. Als er weiterging, schwoll der Lärm sofort wieder an. Mehrere laute Männerstimmen überboten sich in der Deutung des Gehörten: „Ein Selbstmörder! ... Das kann Stunden dauern! ... Also, das hab ich erst vor zwei Monaten ... ja, aber erst muss die Spurensicherung ...“
Auch in Elke überschlugen sich die Gedanken. Sie begriff, dass sie heute nicht mehr nach Hamburg kommen würde – oder erst sehr, sehr spät. Ihr ganzer Plan war hinfällig. Gleichzeitig brachte sie aber auch dieser Vorfall hier ziemlich durcheinander. Immerhin war da grade ein Mensch gestorben. Was bedeutete da im Vergleich noch ihre Sommerparty? Jedenfalls fand sie es ziemlich unwürdig, wie die Leute um sie herum reagierten. Dieses Gemecker und wichtigtuerische Gerede, während man brav abwartete. Und als dann die offizielle Lautsprecherdurchsage kam und auch nicht mehr zu melden hatte als der Schaffner mit seinem verkniffenen Gerede vom Personenschaden, da wurde sie richtig wütend. Am liebsten hätte sie ihre Sachen geschnappt und wäre einfach ausgestiegen. Aber wohin? Draußen war inzwischen alles voll Polizei. Und dahinter eine Kuhwiese und die Türme von Wismar. Da fuhr heute sicher kein Bus mehr nach Rostock. Elke sehnte sich plötzlich heftig nach ihrer Wohnung. Hamburg spielte überhaupt keine Rolle mehr. Sie musste jetzt einfach durchhalten, bis das hier überstanden war.
Der Selbstmörder allerdings, der hatte auch nicht durchgehalten. Der hat wirklich Mut bewiesen, dachte sie, denn sie sah es plötzlich bildlich vor sich, wie er am Bahndamm gehockt haben musste. Und dann sie sah sich selbst neben diesem Michael im Café hocken, der nichts von ihr wollte. Das war unwürdig! Wenn sie ihm heute wieder begegnet wäre bei Klaras Party, dann hätte sich die Peinlichkeit nur wiederholt, dann hätte sie wieder so neben ihm gehockt, reglos wie ein Kaninchen. Und das wollte sie nicht mehr, einfach so hocken bleiben, da war sich Elke auf einmal ganz sicher. Sie stand auf, nahm ihre Sachen und ging.
Es gab ein knirschendes Geräusch, als sie vom Trittbrett auf das Schotterbett des Bahndamms sprang. Ein paar Beamte blickten verwundert auf und starrten sie an. Aber dann sahen sie auch schnell wieder weg. Auch Elke sah niemanden an. Sie ging einfach an den Leuten vorbei, sie folgte dem Fahrweg, der auf die Stadt im Hintergrund zulief. Natürlich hatte sie furchtbare Angst, angehalten zu werden, nach ihrem Ausweis gefragt zu werden und was sie denn vorhätte. Aber nichts dergleichen geschah.
Sie passierte einen Streifenwagen und das Fahrzeug eines Beerdigungsinstituts, die sich vor den Augen der Zugpassagiere hinter einer kleinen Baumgruppe versteckt hatten. Beide unbemannt und mit offenen Türen. Dann lief sie den Feldweg entlang, bis er zwischen Gärten in eine kleine Straße mündete, die auch vereinzelt Wohnhäuser aufzuweisen hatte: die Gartenstraße. Natürlich wusste sie, wo sie war. Sie musste jetzt nur noch zehn Minuten hier die Straße runter, über den kleinen Platz an der Georgskirche und dann nur noch ein paar Meter am Kanal entlang.

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