Donnerstag, 23. April 2020
Der Schriftstellername als Markenname und wie man verantwortungsvoll damit umgeht
Ich lese gerade "Die Nickel Boys" von Colson Whitehead, einen Dokumentarroman über eine Besserungsanstalt in den USA der 1960er Jahre. Literarisch find ich es eher bescheiden: diese sprunghaften Wechsel der Perspektive, der Sprachebene, die Zeitsprünge bei gleichzeitig sehr einfachem Handlungsfaden - das wirkt auf mich ruppig, ohne kraftvoll zu sein. Historisch natürlich interessant - und erschütternd, was die Fakten betrifft.

In der Danksagung am Ende lese ich, dass der Roman auf mehreren veröffentlichten Zeitzeugenberichten fußt, der Autor hat daraus dann eine Geschichte gemacht. Eine Agentur hat diese Geschichte an einen Verlag vermittelt, wo ein Lektor den Text in eine Form brachte, die weltweit vermarktet werden kann. Und nun sitze ich hier, auf der anderen Seite des Erdballs, und lese Dinge, die gut zu wissen sind, von denen ich anders aber nie erfahren hätte, denn dazu hätte ich nach ihnen suchen müssen.

Nun frage ich mich aber, wieso nur einer der vielen Mitarbeiter, nämlich der so genannte Autor, diesem Gemeinschaftsprodukt seinen Namen gibt. Sein Anteil, das Entwickeln eines Plots aus vorhandenem Material, scheint mir sicherlich bedeutend, aber doch nicht so bedeutend, dass man es sein Werk nennen könnte.

Ein kurzer Blick ins Internet zeigt aber, dass diese Markierung dennoch berechtigt ist: Der Mann hat einen berühmten Namen, sein Name ist eine Marke, und die Leute kaufen nunmal Markenprodukte. Und es ist sehr ehrenwert, wenn ein solcher Mann seinen Marken-Namen nutzt, um Dinge, die bekannt sein müssen, auch bekannt zu machen.

Und deshalb werde ich sein Buch zuende lesen, auch wenn das jetzt nicht so genussreich ist und die benannten Dinge mich auch relativ wenig angehen: Die wirklich bewegende Danksagung, in der der Autor sein Anliegen, seine Quellen, seine Mitarbeiter mit solcher Offenheit würdigt, die hat mich überzeugt.

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Freitag, 10. April 2020
"Solidarität ist keine Einbahnstraße"
das hielt mir ein Don-Alphonso-Kommentator entgegen, als ich so blöd war, dort das Thema Solidarität anzusprechen. Eigentlich gut, denn so wurde mir mal bewusst, wie bescheuert dieser Satz eigentlich ist, den ich auch andernorts schon gehört und bisher kritiklos und ohne Weiteres Nachdenken hingenommen hatte.

Natürlich ist Solidarität eine Einbahnstraße - anderfalls wäre sie ja ein Tauschgeschäft. Ich meine, nichts gegen Tauschgeschäfte, wo sie sinnvoll sind, aber als Ersatz für Solidarität taugen sie nun wirklich nicht: Solidarität gibt es da, wo sich mehrere eine Verantwortung teilen und dann eben derjenige, der es tun kann, das Notwendige tut, und die Konsequenzen dieses Tuns (gut, nennen wir sie "Kosten", schließlich leben wir in einer neoliberalen Welt, wo alles auf Heller und Pfennig ausgerechnet wird) dann wieder alle gemeinsam tragen.

Na ja, solidarisches Handeln ist vielen nicht mehr geläufig - oder, wie Oliver Kalkhofe das neulich so schön ausdrückte (zum Thema Eurobonds): "Helfen ist eine schöne Sache, nur wenn man dabei kein Geld verdienen kann, macht das auch keinen Spaß mehr."

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Montag, 23. März 2020
Manchmal ist es sinnvoll, einen Film mit 25 Jahren Verspätung zu sehen …
… denn damals, Anfang der Neunziger, hätte ich das so klar wahrscheinlich nicht kapiert.

Jetzt brachte 3sat „Weiblich, ledig, jung, sucht ...“ um 23.15 Uhr, und da ich dank Coronona-Krise und Wochenende eher zu viel als zu wenig geschlafen hatte, dachte ich, das kann ich mir mal erlauben, nachdem ich ihn Jahrzehnte lang verpasst habe.

Am Anfang dachte ich noch, das liegt halt an dem inzwischen veralteten Mode- und Schönheitsideal, dass die Hauptdarstellerin und Identifikationsfigur Bridget Fonda viel weniger sexy wirkte als ihr zeitlos femininer Gegenpart Jennifer Jason Leigh als Verkörperung des Bösen.

Aber dann wird es sehr bald klar, dass das einen Sinn hat: Die Hauptfigur ist eine androgyne flotte attraktive Karrierefrau, die die Zähne zusammenbeißt und sich in der Männerwelt behauptet, ihr Lover ein laxes, liebes Weichei, das sich auf den Privilegien des Männlichseins ausruht. Herzenswärme findet sie nicht bei ihm, sondern bei ihrem schwulen Nachbarn. Ihr Arbeitgeber ist ein sexistisches A*loch, das ihre Freiberuflichkeit für sexuelle Ausbeutung zu missbrauchen versucht. So weit, so realistisch.

Der eigentliche Thriller-Plot stellt dieser Figur nun eine neue Mitbewohnerin zur Seite, die ganz offensichtlich ihre verdrängte Weiblichkeit verkörpert: Indem diese spielerisch-flirtend im Nebenbei den Lover um den Finger wickelt, demonstriert sie dessen Wankelmütigkeit; indem sie knallhart den Arbeitgeber bedroht, verweist sie dessen Herrschaftsallüren in die Schranken.

Dann passiert, was passieren muss: die bedrohliche Weiblichkeit wird gefährlich, wird zum Monster. Zuerst schlägt sie den schwulen Freund k.o., dann verführt (eine völlig unglaubhafte Szene, so verführbar ist selbst der schwächste Mann nicht) und tötet sie den Lover und bedroht die gefesselte Hauptfigur mit dem Tod. Der sexistische Arbeitgeber kommt zu Hilfe, ist aber zu schwach und wird erschlagen. Endlich erwacht der schwule Freund und greift ein – das Blatt beginnt sich zu wenden. Die Hauptfigur küsst das Monster und stoppt es dadurch, endlich kann sie die mörderische Weiblichkeit im Heizungskeller zur Strecke bringen.

Ach, es ist traurig, wie Hollywood die Ideologien prägt, die sich bis heute als progressiv und unabhängig gebärden: Identifikationsfigur ist die Geschäftsfrau die ihre Weiblichkeit verleugnet, ihr natürlicher Verbündeter der schwule Mann. Heteromänner sind im Bett willkommen, aber als Partner ahnungslos und unbrauchbar, Macho-Chefs immerhin etwas verlässlicher, in der Not aber auch zu schwach. Der Hauptfeind der emanzipierten Frau sind die Ansprüche ihrer verdrängten Weiblichkeit, die in Notwehr erschlagen gehören.

Wollen wir („wir“ darf ich sagen, da Drehbuch wie Regie männlichen Hirnen entsprungen sind) diese Ideologie nicht langsam hinter uns lassen?

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Donnerstag, 12. März 2020
Kurze Notiz: „Die rechtschaffenen Mörder“
Das ist mir auch schon lange nicht mehr passiert: dass ich in einem Rutsch in zwei Ferientagen einen Roman verschlungen habe. Ich kannte Ingo Schulze (ich habe bisher einen Roman und einen Erzählungsband von ihm gelesen) bisher als sympathischen, so halb guten Autor: unprätentiös, treffend in der Beschreibung, klar in der Haltung, manchmal ein bisschen banal oder sogar ein bisschen spießig. Jetzt erscheinen überall Besprechungen zu seinem neuen Roman, die mich sehr neugierig machten – ich holte ihn mir und war begeistert.

Inhaltlich gehts um die Biographie eines Antiquars, zu DDR-Zeiten widerständig, nach der Wende erfolglos, endlich Gefallen findend an rechten Provokationen, eine schräge Heldenfigur, die (obwohl sich von Anfang an kleine Boshaftigkeiten finden) im Verlaufe des Romans immer weiter demontiert wird, und einen Kriminalfall gibts der Spannung halber auch noch.

Was alle schrieben, machte mich neugierig: die Konstruktion des Romans in drei Teilen, wobei der zweite Teil den ersten widerruft und der dritte den zweiten. Irgendein Rezensent meinte, der einzige Fehler sei, dass der zweite Teil so kurz und der dritte noch kürzer sei und vermutete, dem Autor sei „der Atem ausgegangen“. Dabei muss das doch so sein: Die auf die langwierige Eingangserzählung folgende Desillusionierung muss natürlich kürzer sein als diese selbst – wie langweilig wäre eine Entzauberung, die umständlicher daher kommt als der vorherige Zauber?! Usw.

Der Autor setzt übrigens noch eins drauf: Er legt dem Leser nahe, den Widerruf des Widerrufs, mit dem das Buch endet, seinerseits zu widerrufen. Denn die Erzählerin des dritten Teils glaubt am Ende zu wissen, wer der Mörder ist, obwohl deutliche Texthinweise noch eine ganz andere Tätergruppe infrage kommen lassen (das Buch heißt ja auch „Die rechtschaffenen Mörder“ im Plural): nicht den knorrigen Antiquar mit seiner Rechtsaußen-Rhetorik, nicht den angepassten Biedermann von Schriftsteller, sondern die Gruppe junger Rechtsradikaler, die nun wirklich ein Motiv hätte. Fast könnte man meinen, dass sich der Autor Schulze hier über die Wessis lustig macht, die in ihrem Entsetzen über die rechtsradikale Rhetorik die tatsächlichen rechtsradikalen Gewalttaten übersehen.

… aber ich schweife schon wieder ins Politische ab, dabei macht das Literarische doch viel mehr Spaß. Der ZEIT-Rezensent fand die ganze Geschichte „überdeterminiert“ und „konstruiert“. Zu Recht. Aber das fand ich gerade gut daran. Dass Ingo Schulze kein Vollblut-Erzähler ist – zu ambitioniert, zu kopflastig – hatte ich schon erwähnt. Aber diesmal treibt er die Konstruktion so weit, dass sie richtig intelligent wird: Er überdeterminiert, damit er genug Material zum Spielen hat. Und genug zum Nachdenken gibt uns das Buch wirklich.

Es erinnert mich ein bisschen an einen kleinen Vortrag, den mir mein Dr.-Vater einst im Nebenbei zu Mörike und Heine gab (um Verständnis für meine Mörike-Liebe zu zeigen und seine Liebe zu Heine zu erklären): Mörikes Gedichte, so seine Einschätzung, seien immer authentisch, ehrlich, echt empfunden und daher öfter auch sentimental oder kitschig. Denn echte Gefühle sind nicht selten sentimental oder kitschig. Heine seien die eigenen Gefühle aber nur das Material, das er in seinen durchkonstruierten Gedichten genial in Szene setze. Und daher so große Kunstwerke. Natürlich sei an den behaupteten Gefühlen nichts echt. Und dennoch liege das Echte irgendwo noch spürbar zugrunde.

Und das tut es auch bei Schulzes Roman, trotz aller Verkopftheit.

… so, und nun hoffe ich, 1 – 2 Menschen angeregt zu haben, dieses Buch zu lesen. Und wenn sie es selbst nicht lesen wollen, empfehlen Sie es bitte wenigstens weiter ...

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Samstag, 7. März 2020
Schattenseiten von individueller Freiheit und Frauenemanzipation und wie man sie aufhellen kann
Dieser Tage sollte man erwarten, dass in Blogs Stellungnahmen zu aktuellen Problemen auftauchen – Gott sei Dank entbindet mich der Titel des meinigen von solchen Pflichten. Denn für so was bin ich zu langsam, immer noch fällt es mir schwer, nicht ständig mit den Fingern ins eigene Gesicht zu fahren (wie oft hab ich mir schon Herpes eingefangen auf diese Weise!). Grad vorgestern wurde mir das wieder bewusst, als ich bei einer solchen Geste leichten Desinfektionsgeruch verspürte – offenbar war irgendjemand in der Innenstadt, wo ich herkam, vernünftiger gewesen.

Und was die aktuelle Flüchtlingsproblematik anbetrifft, bin ich auch noch nicht sicher, was und wie ich denken soll. Ist es nun peinlich oder in pragmatischem Sinne als „immerhin“ zu bewerten, dass es eine gezielte Provokation durch Erdogan braucht, um das schon länger andauernde Flüchtlingselend auf den griechischen Inseln ins allgemeine Bewusstsein zu rufen? Und soll man jetzt froh sein, dass einige Politiker einiger EU-Staaten wenigstens über eventuelle kleinliche Linderungen verhandeln, nachdem Großzügigkeit seit Jahren in immer weitere Ferne rückt? Ich weiß nicht …

Deshalb rede ich lieber über damals, und zwar lese ich gerade darüber, ob und wie vor hundert Jahren Revolution und Diktatur die Familienverhältnisse in Europa beeinflusst haben. Auch was damals darüber gedacht wurde. Mir fällt auf, dass die Progressiven damals (in Russland, in Spanien, …) Ideen entwickelten, die erst lange Zeit später, nämlich heute, allgemeine Wirklichkeit werden: dass Kinderkriegen immer eine bewusste Entscheidung der Eltern sein soll und Familienplanung und Abtreibung normale Instrumente zu dieser Entscheidung, dass die freie Wahl des Sexualpartners ein hoher Wert ist, dem gegenüber die Idee einer lebenslang monogamen Liebespartnerschaft im Zweifelsfall zurückzustehen hat, dass Kinder frühzeitig auch außerhalb der Kernfamilie erzogen werden sollten , …

Besonders interessant sind dabei (wie bei jeglichen Ideen) die Schattenseiten der gewünschten Entwicklungen. Der Autor Paul Ginsborg nennt hier z. B. das Problem des Liebeskummers, mit dem damalige Revolutionäre ziemlich naiv umgingen, sofern sie es überhaupt bemerkten. Nun, ich finde das grundsätzlich gar nicht so schlimm: Wo es mehr Glück (durch sexuelle Freiheit) gibt, gibt es natürlich auch mehr Unglück, alles in der Welt hat seinen Preis. Solche Selbstverständlichkeit zu ignorieren gibt nur reaktionären Spinnern wie Houellebeque (ich hoffe, ich schätze ihn mit dieser Formulierung richtig ein, ich kann mich nicht überwinden ihn direkt zu lesen) Raum für ihre Misanthropien. (Problematisch bleibt natürlich der notwendige Ausgleich zwischen denen mit mehr und denen mit weniger Glück. Aber dazu später mehr.)

Noch bedenkenswerter finde ich den zweiten Aspekt: Es findet sich da – ich lese grade über die spanischen Anarchisten - eine Vorliebe für „Eugenik und bewusste Familienplanung mit der Absicht, … gesunden und schönen Nachwuchs hervorzubringen“, so eine Resolution von 1936. Auch wenn damit natürlich in erster Linie Verhütung und Abtreibung gemeint sind, tun solche Formulierungen schon weh. Wir Nachgeborenen denken da natürlich an Hitlers Rasse-Experimente. Aber ich denke auch an heutige Gepflogenheiten wie den Trisomie21-Test.

Auch sonst ist an der heutigen Freiheit manches fragwürdig: die späte Mutter- und Vaterschaft zum Beispiel. Kenn ich aus eigener Erfahrung. Wieso soll eine Mutter rechtzeitig dem Ruf ihres Körpers folgen und schwanger werden, wenn die Lebensverhältnisse für ein Kind noch gar nicht passen? Weshalb soll sie auf ihren Teil des Kuchens (ich rede hier nicht von „Karriere“, sondern von ganz normaler Berufslaufbahn, ohne deren zumindest zeitweise Unterbrechung mit entsprechenden Nachteilen es nunmal nicht geht) verzichten für das Kind?

Also macht man es dann so wie meine Kollegin, die einen Monat nach ihrer Verbeamtung schwanger wurde und drei Tage nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit in die nächste ging. Ich frag mich nur, ob die arme Frau mit dem Kalender in der Hand Sex hatte.

Und ich denke an den ganzen anderen Wahnsinn: sich Kinder zu organisieren über Leihmutterschaft oder (etwas weniger schlimm) sich gleich ein fertiges Kind zu besorgen aus einem Dritte-Welt-Land. Usw.

Und hier ist der große Unterschied zu den Ideen von vor hundert Jahren: Wenn man damals von der Familie wegwollte, dann in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. Und die Idee, ein Kind in die Kollektivbetreuung zu geben, verband sich mit der Erwartung, dass es ihm dort vielleicht sogar besser geht. Die Idee der Familienplanung meinte die Freiheit der Frau, ob sie sich der existenziell heftigen Erfahrung des Gebärens aussetzen will oder vielleicht auf eine ganz andere, kinderlose Weise ein sinnvolles Leben in der Gemeinschaft führen – und nicht: ob man sich ein Kind finanziell leisten kann …

... ich merke schon, ich gerate in nicht beweisbare Idealisierung alter Zeiten. Dennoch fällt mir auf, dass die einst progressiven Ideen heute mit einem großen Egoismus gelebt werden, der nicht nur persönlich hässlich ist (Sie kennen alle diese Eltern, die Ihr Kind als zielgerichtet zu führendes Projekt ihres persönlichen Ehrgeizes managen) und den Ideen ihren ursprünglichen Freiheitsimpuls raubt, sondern der vor allem schwach macht. Wer nur privat für sein Ego vor sich hinmurkelt, wird die sozialen Errungenschaften, die seine Vorfahren solidarisch erzwungen haben, nicht halten können.

Dafür müssen viele zusammenhalten und sind die jeweils Stärkeren den weniger Starken verpflichtet: Eltern den Kindern (auch wenn sie unterschiedliche Vorstellungen vom Leben haben), glücklich Liebende den Unglücklichen, erfolgreiche Facharbeiter den Arbeitsmigranten (aus dem östlichen Deutschland, dem östlichen Europa, Afghanistan oder dem nördlichen Afrika).

Und insofern sind wir dem aus dem Elend in Afghanistan Entflohenen, der jetzt in Griechenland oder gar noch auf der anderen Seite des Zauns festsitzt, mehr verpflichtet als dem Arbeitgebervertreter, der jetzt nach Corona-Hilfen schreit (denn der kommt auch ohne uns klar).

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Mittwoch, 19. Februar 2020
„Gundermann“ - nun endlich die eigentliche Filmkritik
Da mag ich als Ostdeutscher voreingenommen sein, aber ich fand schon, dass „Gundermann“ große Kunst ist – im Gegensatz zum „Leben der Anderen“.

Der Film ist ja ein Biopic – es geht um das Leben des ostdeutschen Liedermachers Gerhard Gundermann. Und da, wie in solchen Filmen üblich, ein Star gefeiert werden soll, fragte ich mich schon, wie Dresen die Stasi-Spitzelei da einbauen will – und war dann beeindruckt von dem Mut, mit dem er das Problem angeht: Es stellt es in dem Mittelpunkt des Films und erzählt dann, ausgehend von der Stasi-Sache, überhaupt vom Leben dieses Mannes, auch von seinen liebenswerten Seiten, und zwar in stetem Wechsel zwischen 70er- und 90er-Jahre-Szenen, also zwischen während und danach. So entsteht ein rundes, differenziertes, ausgesprochen authentisches Bild.

Entsprechend setzt die Handlung damit ein, wie Gundermann in den 90ern einen Freund besucht, um ihm zu beichten, dass er ihn bespitzelt hat. Er verhält sich dabei linkisch, hilflos und ein bisschen bockig, eine Entschuldigung kriegt er nicht raus, angeblich weil er sich an nichts Konkretes erinnern könne (als ob es irgendeine Rolle spielte, was er nun genau gemeldet hat). Auf der Rückfahrt mit dem Auto hält er an, um einen sterbenden Igel von der Straße zu retten, er verwahrt ihn vorläufig in einem Brotkorb, den er im Kofferraum liegen hat. Zu Hause stellt er den Korb mit dem Verblutenden auf den Küchentisch und fängt an, die Küche zu verwüsten, auf der Suche nach der Obstschale, die ihm einst die Stasi als Dank geschenkt hat – er hofft, sie könne seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. So findet ihn seine Frau: im Chaos zwischen Schüsseln und Töpfen, und dazwischen eine blutige Igelleiche.

Das ist ein genialer Einstieg: Er illustriert auf drastische Weise das Gefühlschaos der Leute, die ihr Herz in der DDR an die halbtote Idee des Realsozialismus gehängt hatten (wobei die Vorsilbe „real-“ schon das Sterbende, Verblutende andeutet) und bis zum Schluss nicht von ihr lassen wollten. Und in der verzweifelten Suche Gundermanns nach den Inhalten seiner Spitzelberichte zeigt sich die Unmöglichkeit, das Problem rational-dialektisch-argumentativ wegzudiskutieren: Er hat seine Freunde verraten – wie weit und womit konkret, ist angesichts dieser Tatsache eher nebensächlich. Gundermann fasst das später im Film in den in seiner entwaffnenden Ehrlichkeit wunderbaren Satz: „Ich glaub mir mein Leben nicht.“

Wer ihm sein Leben glaubt, das sind Stieler und Dresen, die im Nachhinein gelassener und genauer hinschauen können. Sie zeigen in wenigen prägnanten Szenen sein Vater-Problem, in dem das Motiv des Verrats schon angelegt ist – die Stasi findet später das im ganz Kleinen schon vorhandene Böse in Gundermann und bringt es zum Blühen (so wie gute gesellschaftliche Verhältnisse dasselbe Böse verkümmern und sterben lassen könnten). Sie zeigen, mit welcher idiotischen Verbissenheit Gundermann sein Herz an die realsozialistischen Mythen hängt, die die Machthaber selbst nicht mehr ernst nehmen: Er verpflichtet sich freiwillig zur Armee (sogar, wie ich bei wikipedia nachlas, als Politoffizier, also dem anrüchigsten Teil dieser anrüchigen NVA), wird aber aufgrund seines Querulantentums bald wieder hinausgeworfen; er klammert sich an seinen Job als Baggerfahrer (auch so ein DDR-Mythos: die Braunkohle wird uns retten und Baggerfahrer sind noch echte Kerle), obwohl er schon als Liedermacher erfolgreich und von der DDR-Obrigkeit akzeptiert ist. Und beim Besuch der Obrigkeit vor Ort beginnt er mit dem Parteifunktionär zu diskutieren, was natürlich in Pöbeleien endet, denn mit autoritären Herrschern lässt sich nicht diskutieren (was alle außer Gundermann schon begriffen haben).

Und sie zeigen, wie organisch die Stasi diesem DDR-Leben eingeschrieben ist: eine großartige Szene, wie Gundermann da allein auf seiner Gitarre spielt und dann kommt die Stimme des Stasi-Offiziers aus dem Off, aus dem Dunkel und bewegt ihn ihn zur Zusammenarbeit, noch lange bevor er später die offizielle Verpflichtungserklärung unterschreibt - Gundermanns Band bekommt die West-Auftrittsgenehmigung, im Gegenzug soll er einen Schleuser zwecks Festnahme in die DDR locken. Dass er dabei mitmacht (auch wenn er den Lock-Versuch aufgrund seiner Naivität verpatzt), gilt dann als Probe für die spätere feste Zusammenarbeit.

Gezeigt wird auch die Enge der DDR: Gundermann kommt endlich mit dem Schwarm seiner Jugend zusammen – deren Ehe zerbricht, und dann tauschen die beiden Männer einfach die Wohnungen! Gundermann zieht ins Reihenhaus, der frisch geschiedene Ehemann in Gundermanns Ein-Zimmer-Wohnung im Plattenbau. Beim wechselseitigen Umzug begegnen sich die beiden auf der Straße und wechseln gequält ein paar Worte. Das konnt ich beim Zugucken kaum aushalten, diese Enge. Aber so war es wohl.

Sie sehen also: Dresen spart mal wieder nicht mit schmerzhaft hässlichen Szenen, wenn sie nur wahrhaftig sind. Unecht wird es nur dort, wo es „schön“ wird: in der erwähnten kitschigen Schlusszene zum Beispiel. Oder wenn Dresen versucht, Gundermanns Zerrissenheit etwas Schönheit abzugewinnen, indem er ihm eine angepasste Ossi als kitschiges Negativbild gegenüberstellt: Eine Journalistin befragt ihn empört zu der Stasi-Sache, er kontert: „Du hast doch damals auch alles mitgemacht.“ - „Ja, aber ich schäm mich dafür.“ Diese Journalistin trägt übrigens Minirock und fährt ein rotes Kabrio. Lust, Leidenschaft oder öffentlich sichtbare Gefühle (wie Scham), na, die sind eben grundsätzlich negativ für Dresen - Sprödig-, Bockig-, Ehrlichkeit dagegen positiv. Wenn man diese fragwürdige Dresen-Grundkonstante hinnehmen kann, dann kann man auch das Positive an „Gundermann“ genießen: den differenzierten, authentischen, ehrlichen Blick auf ein untergegangenes Land, das alles andere als ehrlich war.

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„Gundermann“: Wie so oft bei Dresen - …
… ein großartiger Film mit fragwürdiger Aussage. Das ging mir schon so bei „Stilles Land“ (auch hier schon war übrigens Laila Stieler seine Drehbuchautorin), dass ich irritiert war, wie man eine so lächerliche Ossifigur in all ihrer Unbedarft- und Angepasstheit, in ihrer Feigheit als positiven Helden in den Mittelpunkt stellen kann (zumal ich mich in dieser Figur ziemlich wiederfand und alles, was ich an mir selber nicht mag, getreulich abgezeichnet). Noch viel mehr in seinem noch besseren Film „Halbe Treppe“, diesem flammenden Plädoyer gegen die Liebe und für das brav solidarische Aushalten im schmuddeligen Unterschichtenmilieu. Oder gar in „Die Polizistin“, der eine besonders unangenehme Art Ossi portraitiert – cool und ruppig und gleichzeitig labil-untertänig – und als Heldin feiert, ohne auch nur irgendetwas an ihr zu beschönigen.

„Gundermann“ also, ein Gegenfilm zum „Leben der Anderen“, wie Stieler und Dresen in Interviews betonten. In der Tat: „Das Leben der Anderen“ fragt nach den inneren Nöten des kleinen Stasi-Spitzels – und erzählt diese Geschichte in Form eines kitschigen Hollywood-Melodrams. „Natürlich ist das alles ganz falsch dargestellt“, meinte damals ein Freund, „aber ich find das gut: So verstehen es die Wessis wenigstens.“ Dresen stellt dieselbe Problematik ossi-kompatibel dar: In der Abschlusszene lässt er Gundermanns öffentliches Stasi-Geständnis nahtlos in eine Feier des Ossi-Wir-Gefühls münden. Das ist schon dreist: Die Mehrheit der Ostdeutschen hat nicht für den Geheimdienst gepitzelt, und selbst viele derjenigen, die dazu erpresst wurden, haben das als persönliche Schande, nicht wie Gundermann als Dienst an der guten Sache erlebt. Die Szene erweist die ganze Verlogenheit dieser Idee einer „ostdeutschen Identität“ (und es geschieht den Ex-Bonzen ganz recht, dass diese Lüge, die sie da erfunden haben, nun von den rechten Bonzen gekapert und in deren Sinne umgedreht wird).

Fortsetzung folgt …

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Freitag, 14. Februar 2020
Erwachsensein
Als ich 20 war, entsetzte mich die Aussage einer älteren Kollegin, die erzählte, sie habe auf den Rat einer Ärztin, eine Psychotherapie zu machen, verzichtet, um die schöne familiäre Situation und insbesondere die Beziehung zu ihrem Mann nicht zu gefährden. Mir war völlig unverständlich, wie sie das so ruhig sagen konnte und dass sie auch sonst keineswegs einen verzweifelten Eindruck machte.

Vor ein paar Tagen traf ich einen alten Bekannten nach Jahrzehnten wieder. Ich erinnere mich, wie er mich damals mal fragte, was in meiner Psychoanalyse denn so vorgehe - und wie er nur auf vage Andeutungen von mir erblasste: "Wenn ich anfangen würde, darüber nachzudenken ...!" Nun, unsere Wege trennten sich bald darauf, mich nervte auch seine Depressivität, sein Nicht-mit-sich-im-Reinen-Sein. Ich glaubte damals, Erwachsensein, das hätte irgendwas mit innerer Klarheit, mit Ehrlichkeit zu sich selber zu tun.

Ich traf ihn jetzt wieder, fand in in seiner Persönlichkeit unverändert, allerdings wesentlich gelassener, von Depression keine Spur mehr. Ob diese angenehme Haltung daher rührt, dass er irgendwelche inneren Probleme geklärt hat in der Zwischenzeit, weiß ich natürlich nicht, aber es machte nicht den Eindruck. Eher schien mir der Grund in den Annehmlichkeiten seiner familiären wie beruflichen Situation zu liegen.

Dieser Tage begegnete mir die aktuelle Platte von André Heller, dessen wunderschön prätentiöses, unerwachsenes Album "Verwunschen" ich sehr liebte, als ich selbst auch noch nicht erwachsen war. Jetzt, Jahrzehnte später, scheint mir Heller immer noch nichts begriffen zu haben - aber er trägt es mit so viel mehr Gelassenheit und Selbstbewusstsein vor.

Ich könnte noch mehr Beispiele nennen ... Erwachsensein, ist das vielleicht doch nichts anderes als dass man seine Lebenslügen stabilisiert und, wenn man geschickt ist und die Umstände es zulassen, zur Grundlage des persönlichen Erfolgs macht?

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Donnerstag, 30. Januar 2020
Gedächtnis und Gefühl
Ich bin immer voll Bewunderung, wenn Leute Bescheid wissen. Hier auf blogger.de z.B. mark793 oder arboretum, die kommen immer mit Informationen, die mir ganz neu sind – oder bei che, wenn dann bersarin wieder ausholt mit seinem Wissen, das find ich total spannend (während ich bersarins eigenes Blog uninteressant finde – offenbar braucht er den Widerspruch und den Dialog, um zur Hochform aufzulaufen). Die Leute müssen eine Fülle an Details im Kopf haben, das könnte ich mir nie merken.

Im Herbst hab ich zum Beispiel den Essayband „Das andere Ende der Geschichte“ von Philipp Ther gelesen, es ging da um die Veränderungen der westlichen Welt seit 1989, ein richtig kluges Buch, das ich regelrecht verschlungen habe. Und schon jetzt weiß ich nichts mehr davon, als dass das richtig gut ist und ich mal wieder nachblättern sollte.

Oder ein Jahr davor „Erwachsenensprache“ von Robert Pfaller, das Buch hat mich, obwohl es klug ist, genervt wegen seiner Verachtung für Weicheier und Gutmenschen, also meinesgleichen, und dieses negative Gefühl hat mir immerhin geholfen, dass ich mir wenigstens einen der klugen Gedanken daraus gemerkt habe: dass nämlich die Anwendung überholter linker Denkweisen oft zur Stärkung des Neoliberalismus führt. Aber vielleicht hab ich mir das nur gemerkt, weil ich es im Alltag, wo ich wirklich lebe, öfter bestätigt gesehen habe.

Die intellektuelle Distanz zu den Fakten, die manche Leute, etwa die oben genannten Blogger, beflügelt, bei mir führt sie zu Gedächtnisverlust. Stattdessen krieg ich manchmal Komplimente dafür, wie viele Details aus Büchern und Filmen ich mir merken kann, irgendwelche ästhetischen und psychologischen Kleinigkeiten, die nun wiederum für andere unwichtig und ein Grund zum Vergessen sind, mich aber im Herzen mehr berühren als die großen Bewegungen der Weltgeschichte …

… sag ich jetzt mal aus Zwecken der Selbstbeweihräucherung (denn dafür sind Blogs ja da) – und hab auch ein aktuelles Beispiel dafür: Ein Freund erzählt mir kürzlich, dass sein Vater am Vortag gestorben ist. Ich frage ihn, wies ihm damit geht: „Ach, der hat uns doch schon lange nicht mehr erkannt. Mein Onkel meinte immer, wir sollen ihn öfter besuchen. Aber wozu? An Weihnachten war ich zuletzt da, da sagt ihm mein Onkel, dass heute Weihnachten ist, und da hat tatsächlich sein Gesicht noch einmal aufgeleuchtet. Aber sonst ...“ Das mag tragisch sein, dass Weihnachten bei ihm tiefer verankert ist als das Gesicht seines Sohnes, aber es ist völlig normal. Nur: Die weniger tief verankerten Sachen, die würd ich eben auch gern festhalten.

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Mittwoch, 22. Januar 2020
Vom Nutzen der Esoterik
Als das bei mir mit der Arthrose losging und ich noch nicht wusste, was das ist, diese grundlos auftauchenden und wieder verschwindenden Schmerzen in der Hand, da empfahl mir eine Kollegin ein antirheumatisches Öl von W*l*da, das mir zwar nicht half, aber so wunderbar roch, wie ich vorher noch nie etwas gerochen hatte.

Und jetzt laboriert meine Frau wieder an dieser rätselhaften Krankheit, die sie schon mehrfach in dieser Jahreszeit, immer so um Ende Dezember, Anfang Januar herum ereilt hat, die sich immer über Wochen hinzieht, mit diffusen Kopf- und Rückenschmerzen und an- und abschwellenden Schwächezuständen. Ihre Hausärztin schreibt sie immer brav krank, ohne ein tiefer gehendes Interesse an den Ursachen des Zustands zu entwickeln. Deshalb geht meine Frau gleichzeitig noch zu einer anderen Ärztin, so einer esoterischen, die das Ganze im Blick hat, von Vitaminmangelerscheinungen bis zu Verwerfungen in der Familiengeschichte ihrer Patientin, und von der meine Frau mit sorgfältig ausgependelten Kügelchen wiederkommt, die immer zunächst einmal die berühmte Erstverschlimmerung auslösen.

Langfristig wirken sich diese seltenen Besuche ungemein kräftigend aus, ich habe den Eindruck, dass sie ganze Psychotherapien ersetzen, an den konkreten aktuellen Beschwerden ändern sie kurzfristig nichts. Deshalb greift meine Frau in ihrer Ratlosigkeit und Verzweiflung zu allen Mitteln, die im Haushalt verfügbar sind und so heute zu meinem fast vergessenen Rheuma-Öl. Als ich im Einschlafen ihre Hand nahm, duftete das wieder so wunderbar, dass mir im Wegdämmern Hofmannsthal in den Sinn kam, die so wunderschöne und kluge Gedichtzeile, dass wir Menschen sind wie kleine Kinder, die den blassgoldenen Mond anstaunen, wie er durchs Geäst des Apfelbaums wandert – und dass wir gleichzeitig aber auch wie dieser Mond sind, so rätselhaft und schön.

Ich muss dann noch irgendwas in der Art geträumt haben, denn nach einer Stunde wachte ich auf, immer noch erfüllt von dem Glück, an diesem Rätsel Leben teilnehmen zu dürfen, dass ich aufstehen musste, das aufschreiben, auch wenn morgen um 6 wieder der Wecker klingelt und viel banale, hässliche Alltagsarbeit auf mich wartet.

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Sonntag, 12. Januar 2020
Glücklich mit Büchern


Das Schöne am Januar ist, dass nach der Geschenkorgie des Jahresendes (Geburtstag und Weihnachten) der Nachttisch wieder voller Bücher ist.

Angefangen hab ich mit „Flutgebiet“ von Malte Borsdorf – mein Vater hatte Lobendes darüber in der FAZ gelesen und inhaltlich geht es um die Hamburger Flut von 1962. Wahrscheinlich ist ihm nicht aufgefallen, dass das überschwängliche FAZ-Lob von einem DDR-Journalisten kommt, der es irgendwie in die FAZ geschafft hat. Denn das Buch ist genau so, wie es Ostalgie-Ossis (und offenbar nicht nur die) lieben: historisch korrekt und aufschlussreich, aber inhaltlich voller Platitüden, sprachlich ebenfalls korrekt, brav, kitschig bis zur völligen Langeweile. Erinnerte mich an die derzeit üblichen, kaum erträglichen historischen Fernsehfilme und Serien von „Weißensee“ bis „Charité“. Ich legte das Buch beiseite und werd es (da es mich inhaltlich interessiert) fertiglesen, wenn gar nichts mehr anderes zum Lesen auf dem Nachttisch liegt.

Sicher erfährt man bei Borsdorf einiges Interessante über das Leben in den 50er/60er Jahren im Hamburger Raum – aber wie viel farbiger, witziger, detailreicher und reflektierter liest sich das, wenn Frank Schulz von den Jugendjahren seines Vaters berichtet! Nachzulesen in einem Erzählungsband mit dem wunderschönen Titel „Anmut und Feigheit“. Hat mir meine Frau geschenkt, mit den Worten: „Das versteh ich nicht: Du liebst Frank Schulz und dann kennst du seine neueren Bücher nicht!“ Recht hat sie. Neben mäßig guten Texten gibt es in dem Band Perlen der Komik, etwa wenn eine „Schnurre“ so beginnt: „Als Busenfreundin kriegt frau ja so einiges zu hören. Die dollsten Dinger aber die Busenfreundin von Eva Schoff, heute bekanntlich erfolgreiche Filmproduzentin, einst jedoch berüchtigte Bacchantin, Hasardeurin und Femme fatale aus dem Schanzenviertel. Sie haben Sie mal kennengelernt? Wundert mich nicht. “ Da könnte ich mich schon kringeln vor Vergnügen. Und es wird noch komischer – und nirgends platt. Köstlich!

Von der Buchhändler-Schwägerin hab ich „Brüder“ von Jackie Thomae gekriegt, denn die kennt die Schnittmenge von Buchpreistiteln mit meinem Geschmack: Es geht um DDR und um Schwarze, nämlich zwei Brüder von DDR-Müttern mit einem schwarzen Vater. Die NZZ verriss das Buch wegen seiner Trivialitäten - ein typischer NZZ-Denkfehler: sachlich korrekt, aber ohne Gespür für die Zwischentöne, auf die es im Leben ankommt. Der Roman (ich hab ihn jetzt halb durch) ist auf amerikanische Weise rasant geschrieben, was natürlich nicht ohne Trivialitäten in der Handlungsführung abgeht. Großartig aber ist, wie treffsicher in kleinen Bemerkungen da Zeitkolorit skizziert wird. Im Klappentext steht, die Autorin hat vorher Sachbücher verfasst. Und fast les ich das auch wie ein Sachbuch: Man erfährt, wie es gewesen ist, wie im Sachbuch, nur mehr auf den Punkt (zumindest erkenne ich die Bereiche, die mir vertraut sind, und nehme an, dass mir Fremdes ebenso korrekt und detailgenau geschildert ist). Allein schon die Charakterisierung der beiden DDR-Mütter! Selten habe ich eine so exakte Darstellung typischer DDR-Charaktere gelesen, die überhaupt nichts Pauschalisierendes oder gar Diffamierendes hat. Oder dieser Satz über ein paar Typen, die Ende der 90er Jahre, eine halblegale Party-Gründung legalisieren müssen: „Fabian hatte seine Flipcharts herangezogen, die er neuerdings für Meetings verwendete. […] Flipcharts hatten eine Ausstrahlung von heißer Luft, andererseits schien heiße Luft im Moment einen beträchtlichen Marktwert zu haben.“ Kann man es besser sagen?

Aprpos Fachbücher: Von meinem politischen Bruder hab ich mir „Die geführte Familie“ von Paul Ginsborg gewünscht (ein Tipp aus Philipp Thers hervorragendem Buch „Das andere Ende der Geschichte“, da ich im Herbst las), eine Darstellung der Familienverhältnisse unter europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts: Spanien, Italien, Türkei, Deutschland, Sowjetunion. Da hab ich bisher nur ein bisschen Sowjetunion gelesen, dann hat es mir meine Frau weggeschnappt, die jetzt schon einige Stunden drin schmökert. Ich hab auf den wenigen Seiten bisher schon manches entdeckt: die Biographie von Alexandra Kollontai z. B. und ihr phänomenal modernes Familiengesetz aus der russischen Revolutionszeit. Oder Aspekte des russischen Bauernlebens im 19. Jahrhundert, die ich sofort wiedererkannte, da sie sich offenbar über die Kolchosen bis hin zu den LPGs vererbt haben … ach, man müsste reich oder krank oder arbeitslos sein und die Zeit haben, einfach ein paar Wochen lang nur zu lesen …

(Und, lieber schizophrenist, nehmen Sie mir den letzten Satz nicht übel, ich hab sie wohl kürzlich gelesen, die Kehrseite dieses Zeithabens, sie ist mir durchaus bekannt.)

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