Mittwoch, 2. November 2022
Zum Teufel mit der Berufsorientierung!
Heute einmal ein Zwischenruf aus meiner beruflichen Nische, dem Unterricht für zugewanderte Jugendliche. Gestern ging es um die B2-Prüfung, die Deutschkenntnisse auf mittlerem Sprachniveau nachweist. Die Prüfung, von der es früher hieß, sie befähige dazu, sich problemlos im deutschen Berufsalltag zu bewegen (jetzt in Zeiten des Fachkräftemangels sehen das aber viele Firmen nicht mehr so eng). Bei uns machen das in der Regel die Schüler, die einen MSA (entspricht dem früheren Realschulabschluss, umfasst aber nur die Kernfächer Deutsch, Mathe, Englisch, Sachkunde/Politik, Berufsorientierung) anstreben.

Und wie immer, wenn es um die B2-Prüfung geht, wird unter den Lehrern wieder das gleiche Thema diskutiert: die fehlende Allgemeinbildung. Die Prüflinge müssen zu einem vorgegebenen Thema miteinander diskutieren, um zu beweisen, dass sie dazu in der Lage sind. Von vielen dieser Themen haben sie aber keine Ahnung, die über einen Small Talk auf Sprachanfängerniveau hinausgeht.

Das muss man sich mal vorstellen! Wir vergeben Schulabschlüsse an Menschen, die nicht (oder nur ganz rudimentär) wissen, welche Tiere und Pflanzen es in Deutschland gibt, was das Wetter damit zu tun hat, wie Strom hergestellt wird oder die Lebensmittel, die sie essen, was eine Patientenverfügung ist usw. Neulich sagte ein Berufsschüler, also jemand, der schon eine Stufe weiter ist, in der Ausbildung: "Ach, es gibt in Deutschland noch Häuser mit Holzfußboden?"

Gut, sie können quadratische Gleichungen und ein bisschen Englisch; sie wissen, welche Sozialabgaben es gibt, wie man einen Ausbildungsplatz findet und wie man sich dem Chef gegenüber verhält - kurz: sie funktionieren. Aber sie wissen nichts von der Welt, in der sie leben. Zum Teufel mit der Berufsorientierung!

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Nun, das Phänomen dürfte uns bekannt sein. Auch in der medialen Öffentlichkeit wird gern sprachlich geschickt diskutiert, z.B. über Corona, mit Quellen und Beispielen und Argumenten, wie mans in der Schule gelernt hat, nur am Hintergrundwissen, am Überblick über die Gesamtlage, da fehlt es häufig.

Ich halt mich ja (von meinen bewusst und ausdrücklich laienhaften Äußerungen zur Politik abgesehen) meist raus aus diesen virtuellen Diskussionen. Nur im Fall des NSU hab ich das mal länger und genauer verfolgt, und da hab ich mit der Zeit mitgekriegt, dass man die Betrüger oft geradezu an ihrer vor sich hergetragenen Sachlichkeit erkennen konnte: Die penibel Detailfakten auflistenden Klein-klein-Argumentierer führten in der Regel irgendetwas Unausgesprochenes im Schilde.

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