Samstag, 18. Juni 2022
Ein Zitat
Die familiäre Situation erfordert es, dass ich wieder öfter übers Wochenende bei den Eltern bin. Ich übernachte dann im ehemaligen Kinderzimmer, das schon vor Jahrzehnten zum Gästezimmer mutierte und in das im Lauf der Jahre die Massen der jeweils weniger relevanten Bücher eingelagert wurden, die in der elterlichen Bibliothek von Wichtigerem verdrängt wurden. Überproportional vertreten: Schriften aus dem aufklärerischen Zeitalter. Vor dem Einschlafen greif ich mir dann oft einen Band heraus, neulich hab ich mir sogar ein Zitat rausfotografiert, das ich außerordentlich treffend fand, ich weiß leider nicht mehr, von wem es ist.



Nun, der Tag, von dem hier die Rede ist, der geht offensichtlich dem Ende entgegen, eigentlich sind sich alle einig, dass dunklere Zeiten anbrechen. Aber wenn dem so ist, dann sind die europäischen Intellektuellen (denen ich mich als akademisch Ausgebildeter auch zurechne) für die Zukunft eher schlecht ausgerüstet mit ihrer rationalen Faktenfinderei und Religionsverachtung.

Ein gutes Beispiel: der Roman "Dunkelblum" von Eva Menasse, den ich heute Morgen zuende las. Das Buch umkreist die Schrecken der nationalsozialistischen Vergangenheit mit prächtiger Sprachkunst, mit herrlichem Wortwitz und elegantem Spiel mit der Mundart sowie mit außerordentlich geschickt eingesetzten Andeutungen, aber letztlich wie die Katze den heißen Brei. Die Erzählstimme des Buchs reflektiert das sogar: Es ist die Rede von einem "tief eingewurzelten Misstrauen ... gegen Geschichten, die gut ausgehen" sowie auch davon, wie die Einheimischen den regionalen Jungnazi "verspotteten und in seinem Furor lächerlich machten", ihm "insgeheim jedoch recht" gaben. Aus dieser Tradition kann sich auch das Buch selbst nicht lösen: Die Starken sind in ihm mächtig und furchteinflößend, die Schwachen hilf- und orientierungslos und gern auch ein bisschen debil, und auf das Volk blickt der Text mit einer teils mitleidigen, teils gleichgültigen Arroganz, wie sie eben nicht nur den Nazis, sondern auch den gebildeten Aufgeklärten eigen ist. Und aus dieser Arroganz entspringt die Hilflosigkeit, mit der die Wahrheitssucher und Sympathieträger des Romans auf die Nazis starren.

Das Schönste an diesem ebenso klugen wie unsympathischen Roman: dass er das alles selber weiß. Er endet damit, dass die Figur des Grünen (aus der aufgeklärten Sicht des Buches natürlich nicht gerade ein Sympathieträger) in der örtlichen Kirche Schutz sucht und angesichts des Altarbildes zu der Überzeugung gelangt, dass die im Roman ausgebliebene Aufklärung der Verbrechen unausweichlich kommen wird, wenn es nur gelingt, sich nicht auf die Teufel zu fixieren und sie gerade dadurch teuflisch zu machen. Wie Recht er hat!

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