Samstag, 7. März 2020
Schattenseiten von individueller Freiheit und Frauenemanzipation und wie man sie aufhellen kann
Dieser Tage sollte man erwarten, dass in Blogs Stellungnahmen zu aktuellen Problemen auftauchen – Gott sei Dank entbindet mich der Titel des meinigen von solchen Pflichten. Denn für so was bin ich zu langsam, immer noch fällt es mir schwer, nicht ständig mit den Fingern ins eigene Gesicht zu fahren (wie oft hab ich mir schon Herpes eingefangen auf diese Weise!). Grad vorgestern wurde mir das wieder bewusst, als ich bei einer solchen Geste leichten Desinfektionsgeruch verspürte – offenbar war irgendjemand in der Innenstadt, wo ich herkam, vernünftiger gewesen.

Und was die aktuelle Flüchtlingsproblematik anbetrifft, bin ich auch noch nicht sicher, was und wie ich denken soll. Ist es nun peinlich oder in pragmatischem Sinne als „immerhin“ zu bewerten, dass es eine gezielte Provokation durch Erdogan braucht, um das schon länger andauernde Flüchtlingselend auf den griechischen Inseln ins allgemeine Bewusstsein zu rufen? Und soll man jetzt froh sein, dass einige Politiker einiger EU-Staaten wenigstens über eventuelle kleinliche Linderungen verhandeln, nachdem Großzügigkeit seit Jahren in immer weitere Ferne rückt? Ich weiß nicht …

Deshalb rede ich lieber über damals, und zwar lese ich gerade darüber, ob und wie vor hundert Jahren Revolution und Diktatur die Familienverhältnisse in Europa beeinflusst haben. Auch was damals darüber gedacht wurde. Mir fällt auf, dass die Progressiven damals (in Russland, in Spanien, …) Ideen entwickelten, die erst lange Zeit später, nämlich heute, allgemeine Wirklichkeit werden: dass Kinderkriegen immer eine bewusste Entscheidung der Eltern sein soll und Familienplanung und Abtreibung normale Instrumente zu dieser Entscheidung, dass die freie Wahl des Sexualpartners ein hoher Wert ist, dem gegenüber die Idee einer lebenslang monogamen Liebespartnerschaft im Zweifelsfall zurückzustehen hat, dass Kinder frühzeitig auch außerhalb der Kernfamilie erzogen werden sollten , …

Besonders interessant sind dabei (wie bei jeglichen Ideen) die Schattenseiten der gewünschten Entwicklungen. Der Autor Paul Ginsborg nennt hier z. B. das Problem des Liebeskummers, mit dem damalige Revolutionäre ziemlich naiv umgingen, sofern sie es überhaupt bemerkten. Nun, ich finde das grundsätzlich gar nicht so schlimm: Wo es mehr Glück (durch sexuelle Freiheit) gibt, gibt es natürlich auch mehr Unglück, alles in der Welt hat seinen Preis. Solche Selbstverständlichkeit zu ignorieren gibt nur reaktionären Spinnern wie Houellebeque (ich hoffe, ich schätze ihn mit dieser Formulierung richtig ein, ich kann mich nicht überwinden ihn direkt zu lesen) Raum für ihre Misanthropien. (Problematisch bleibt natürlich der notwendige Ausgleich zwischen denen mit mehr und denen mit weniger Glück. Aber dazu später mehr.)

Noch bedenkenswerter finde ich den zweiten Aspekt: Es findet sich da – ich lese grade über die spanischen Anarchisten - eine Vorliebe für „Eugenik und bewusste Familienplanung mit der Absicht, … gesunden und schönen Nachwuchs hervorzubringen“, so eine Resolution von 1936. Auch wenn damit natürlich in erster Linie Verhütung und Abtreibung gemeint sind, tun solche Formulierungen schon weh. Wir Nachgeborenen denken da natürlich an Hitlers Rasse-Experimente. Aber ich denke auch an heutige Gepflogenheiten wie den Trisomie21-Test.

Auch sonst ist an der heutigen Freiheit manches fragwürdig: die späte Mutter- und Vaterschaft zum Beispiel. Kenn ich aus eigener Erfahrung. Wieso soll eine Mutter rechtzeitig dem Ruf ihres Körpers folgen und schwanger werden, wenn die Lebensverhältnisse für ein Kind noch gar nicht passen? Weshalb soll sie auf ihren Teil des Kuchens (ich rede hier nicht von „Karriere“, sondern von ganz normaler Berufslaufbahn, ohne deren zumindest zeitweise Unterbrechung mit entsprechenden Nachteilen es nunmal nicht geht) verzichten für das Kind?

Also macht man es dann so wie meine Kollegin, die einen Monat nach ihrer Verbeamtung schwanger wurde und drei Tage nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit in die nächste ging. Ich frag mich nur, ob die arme Frau mit dem Kalender in der Hand Sex hatte.

Und ich denke an den ganzen anderen Wahnsinn: sich Kinder zu organisieren über Leihmutterschaft oder (etwas weniger schlimm) sich gleich ein fertiges Kind zu besorgen aus einem Dritte-Welt-Land. Usw.

Und hier ist der große Unterschied zu den Ideen von vor hundert Jahren: Wenn man damals von der Familie wegwollte, dann in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. Und die Idee, ein Kind in die Kollektivbetreuung zu geben, verband sich mit der Erwartung, dass es ihm dort vielleicht sogar besser geht. Die Idee der Familienplanung meinte die Freiheit der Frau, ob sie sich der existenziell heftigen Erfahrung des Gebärens aussetzen will oder vielleicht auf eine ganz andere, kinderlose Weise ein sinnvolles Leben in der Gemeinschaft führen – und nicht: ob man sich ein Kind finanziell leisten kann …

... ich merke schon, ich gerate in nicht beweisbare Idealisierung alter Zeiten. Dennoch fällt mir auf, dass die einst progressiven Ideen heute mit einem großen Egoismus gelebt werden, der nicht nur persönlich hässlich ist (Sie kennen alle diese Eltern, die Ihr Kind als zielgerichtet zu führendes Projekt ihres persönlichen Ehrgeizes managen) und den Ideen ihren ursprünglichen Freiheitsimpuls raubt, sondern der vor allem schwach macht. Wer nur privat für sein Ego vor sich hinmurkelt, wird die sozialen Errungenschaften, die seine Vorfahren solidarisch erzwungen haben, nicht halten können.

Dafür müssen viele zusammenhalten und sind die jeweils Stärkeren den weniger Starken verpflichtet: Eltern den Kindern (auch wenn sie unterschiedliche Vorstellungen vom Leben haben), glücklich Liebende den Unglücklichen, erfolgreiche Facharbeiter den Arbeitsmigranten (aus dem östlichen Deutschland, dem östlichen Europa, Afghanistan oder dem nördlichen Afrika).

Und insofern sind wir dem aus dem Elend in Afghanistan Entflohenen, der jetzt in Griechenland oder gar noch auf der anderen Seite des Zauns festsitzt, mehr verpflichtet als dem Arbeitgebervertreter, der jetzt nach Corona-Hilfen schreit (denn der kommt auch ohne uns klar).

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