Freitag, 23. November 2018
So war das, Teil 6
Es war eine sternklare Nacht, eine Nacht, in der die Sterne so stark leuchteten, dass ihnen auch die Lichter der Stadt nichts anhaben konnten. Merseburg ist nicht groß, es gab keine Gebäude, die unser Mietshaus nennenswert überragt hätten. Umso hässlicher, umso kleinlicher erschien mir das gelbliche Lampenlicht, das von überall her den Himmel anfraß. Ich musste an Kerstins abfälligen Satz über Merseburg und über mich denken. Sie hatte Recht, das sah ich jetzt. Natürlich waren wir schon öfter hier auf dem Dach gewesen, bei Sonnenschein, im Sommer, und hatten Picknicks zelebriert. Das war gar nicht lang her, und wir hatten das cool und witzig gefunden, aber jetzt, im Kalten und im Dunkeln, wurde mir klar, dass es so nicht geht, jetzt nicht mehr.

Da rumpelte es hinter mir, ich fuhr herum. Ein dunkler Haarschopf erschien in der Luke. Aber nicht der von Kerstin, wie ich im ersten Moment dachte. Es war ein anderes Mädchen, jemand Fremdes, ihr folgten Johanna und einige Männer. Von unten waren laute, fröhliche Stimmen zu hören, auch die von Knut. Offenbar hatte man die Leiter entdeckt. Ich ließ sie alle hochkommen, dann stieg ich selbst nach unten.

Die Wohnung war jetzt fast leer, nur zwei Grüppchen saßen noch herum. In der Küche redete ein schmaler Student auf Eva ein: Er befragte sie tatsächlich, wie das sei mit dem Sex, so als dicke, große Frau. Sie antwortete ernst, zunächst. Als er das Thema vertiefen wollte, kanzelte sie ihn grob ab.

Ich mischte mich gar nicht ein, ich verließ die Wohnung und das Haus. Als ich auf die Straße trat, sah ich Kerstin an der nächsten Straßenecke in Richtung Stadt verschwinden. Eigentlich wollte ich in die andere Richtung, hinunter zum Neumarkt. Ich zögerte einen Moment, dann lief ich ihr nach.

Kerstin machte sich ein Spiel draus, das war klar. Sie verschwand immer so hinter einer Straßenecke, dass ich nachkommen konnte, ohne zu rennen. Denn rennen ging nicht, natürlich. Ich musste es anders schaffen. Nach ein paar Ecken fiel mir ein Schleichweg ein. Ich bog ab und kurz darauf stand ich, in der Parkanlage am Teich, wieder vor ihr. „Was willst du?“, fragte Kerstin. „Das war ein schönes Spiel“, sagte ich. Und sie: „Ich spiele nicht.“ Wir ließen es dabei bewenden, es war auch nicht wichtig. Kerstin wollte erzählen. Wir gingen am Wasser entlang und sie erklärte mir, warum sie in Merseburg gelandet war. Sie machte eine lange Erzählung daraus, mit einem schön gedehnten Spannungsbogen, und in vier, fünf kurzen Sätzen zwischendurch fragte sie, wie das bei mir ist. Mich erschreckte, wie gut sie mich mit den paar kurzen Fragen erkannte: Jede meiner Antworten fühlte sich ungewollt wie ein Treffer an. Wir standen noch lange vor ihrem Wohnheim, dann war irgendwann klar: Es ist alles gesagt. Aber wie konnte man sich jetzt trennen, nach dem, was gesagt war? „Es muss jetzt nicht mit Küssen enden.“, sagte Kerstin. „Schade“, sagte ich. Wir nahmen uns in den Arm, dann ging jeder seiner Wege.

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