Mittwoch, 21. November 2018
So war das, Teil 4
Ich nahm ihm das nicht krumm. Ein paar Tage später fuhr auch ich mit ihm mit der Straßenbahn, in die andere Richtung, nach Leuna, in meine Heimatstadt. Ich hatte Knut von einem Zeitungskiosk erzählt, der vielleicht bereit wäre, halboffizielles Schriftgut auszulegen. Ich kannte den Kiosk aus meiner Kindheit, mein Großvater hatte dort immer den „Eulenspiegel“ gekauft; den jetzigen Betreiber kannte ich auch, einen einfachen, ehrlichen Menschen, der sicher kein großer DDR-Fan war und vielleicht bereit, in seinem Laden ein paar Kirchenblätter auszulegen.

Also fuhren wir hin. Hinter Merseburg führt die Strecke kilometerweit durch Vorstadtkuddelmuddel, wir hatten Zeit zum Reden. Ich erzählte von Leuna, von meinen Eltern, von der Bäckerei unten im Haus, dem Eisladen und dem Waldbad auf der andern Saaleseite. "Richtiges Kleinstadtidyll", meinte Knut. - "Na ja, wie man's nimmt. Als Kind sieht man ja alles von der positiven Seite. Ich könnte auch von der Flugasche erzählen, die mein Großvater als Ehrenamtlicher von den Parkbänken fegte - völlig sinnlos, weil sie gleich wieder dreckig waren, oder von den Schlieren auf der Saale in allen Regenbogenfarben, die fand ich als Kind so schön. Oder wie mein Vater plötzlich verschwand, als ich 14 war." - "Klingt ja mysteriös." - "Nein, ganz normale Ehescheidung. Die beiden hatten sich ja nichts mehr zu sagen, seit ich denken kann. Ich hatte das immer normal gefunden. Aber dass er dann einfach wegging und gar keinen Kontakt mehr wollte, auch zu mir nicht ..." Wir schwiegen. "Und wie ist das bei dir?", fragte ich dann. "Bist du ein richtiger Berliner?" - "Straußberger, streng genommen. Mein Alter wohnt immer noch da, er arbeitet beim Oberkommando. Meine Mutter ist irgendwann wieder nach Berlin gezogen. Ich auch, als ich 18 war. Aber nicht zu ihr." Er kicherte. "Ja, seitdem bin ich ein richtiger Berliner. Aber jetzt ... im Moment find es total spannend hier in der Provinz." Knut schwieg und sah aus dem Fenster. "Habt ihr eigentlich auch Bonanza geguckt?", fragte er dann. Ich antwortete nicht Natürlich hatten wir, aber ich mochte mich jetzt nicht sentimental verbrüdern, das passte nicht.

Aber mit dem Zeitungskiosk, das wurde ein Flop. Wir durften nichts auslegen, der Betreiber hatte seine Vorschriften. Er guckte mich schief an, als ich mit meinem Anliegen kam, und Knut guckte mich auch schief an, weil nichts klappte, wie ichs versprochen hatte. Es war einfach nur peinlich. Wir trabten wieder ab. Auf der Rückfahrt regte sich Knut auf: "Ich versteh nicht, was der hatte. Das ist doch alles total harmlos. Infobrief von der Sixtigemeinde! Da kann nun wirklich keiner was gegen haben. Wenn nicht mal das geht bei euch! Weißt du, wenn es wenigstens der Infobrief von der Umweltbibliothek gewesen wäre oder ... Moment mal." Er kramte in seiner Tasche und zog eine Broschüre hervor. "Was hätte der Mann denn gesagt, wenn ich damit gekommen wäre?" Er hatte tatsächlich einen "Grenzfall" in der Hand, das berühmt-berüchtigte Blatt der Opposition aus Berlin. Das kannte ich bisher nur vom Hörensagen. Und aus dem Westfernsehen. Ich sah mich instinktiv um, aber natürlich: Es war niemand weiter im Straßenbahnwagen, sonst hätte Knut das nicht hier in der Öffentlichkeit ... "Hab ich von Ralph Hirsch. Lies es dir einfach mal durch und gibs mir morgen zurück."

"Knut", sagte ich, als die Straßenbahn nach Ewigkeiten wieder durch Merseburger Stadtgebiet zuckelte, "lass uns noch ein Bier trinken gehen im Haus des Handwerks." Ich wollte ihm wenigstens irgendwas anbieten, wenn das mit Leuna schon so danebengegangen war. Seine Anbiederfloskel mit "total spannend in der Provinz" – auf meine Weise nahm ich sie auf.

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