Dienstag, 31. Mai 2016
„...überall ist Matrial“
Im Frühjahr 1990, als wir Ostdeutschen langsam begriffen, was sich verändert, wenn die Welt sich öffnet, da sagte M., Kunstwissenschaftsstudentin, ihr Freund war bildender Künstler: „Das ist furchtbar: Es gibt ja so viele Geschichten, so viele Bilder, so viele Kunstwerke – das ergibt überhaupt keinen Sinn, noch irgendwie kreativ sein zu wollen. Es ist sowieso schon von allem zu viel da.“ Ich antwortete: "Das ist doch Quatsch. Was kümmern dich die Geschichten der anderen?" Aber insgeheim pflichtete ich ihr bei. Nachdem es im Osten darauf angekommen war, Bücher, Lesestoff überhaupt in die Hand zu bekommen (sei es ein Roman von Solschenyzin oder auch nur Kafka oder sogar bloß einfach ein Lehrbuch aus der Bibliothek, das zwanzig andere Studenten auch grad haben wollten), gab es jetzt einfach zu viel an Information und obendrein konnte man alles für wenig Geld kopieren. Als mir zum ersten Mal ein solcher Stapel mit Kopien aus diversen Büchern runterfiel und ich ihn nicht mehr geordnet bekam, da verstand ich auf einmal die Überzeugung der Postmodernen, dass inhaltlicher Sinn keine Rolle spiele.
Es war etwa in derselben Zeit, dass ich die Musik von Rio Reiser kennenlernte: Es gab da eine Party am Großneumarkt anlässlich der ersten freien Kommunalwahlen in der DDR, deren Ergebnis hier in Hamburg niemand verstand außer mir. Da sang Rio Reiser. Mich beeindruckte vor allem eine Zeile, die mir bis heute die treffendste Beschreibung der alten Bundesrepublik ist: „Wände aus Beton und Stahl, überall ist Matrial.“
Und mit der Digitalisierung ist es noch schlimmer geworden: Am Wochenende hatte meine Frau Geburtstag, und da wir beide k.o. und arbeitsüberlastet sind grade, wünschte sie sich nichts als ein Kuchenessen im Freien. Als also das Wetter wider Erwarten schön wurde, ging sie nach unten und fragte D., die Erdgeschossmieterin, ob wir da ein paar Stunden sitzen können. Na klar. D. setzte sich auf eine Kaffeetassenlänge dazu, es gab eine Torte vom Bäcker und dann kam noch unser Lieblingsnachbarpärchen und ein Paar aus dem Freundeskreis. Die Sonne schien und die diversen Kinder fanden trotz sehr unterschiedlichen Alters einen harmonischen Spielmodus. Eigentlich wunderbar.
Nur ich erlag der Versuchung, alles fotografisch dokumentieren zu wollen. Ich löschte zwar noch abends diszipliniert 30 der 50 wahllos getätigten Schnappschüsse, aber jetzt lagern also immer noch wieder 20 neue Dateien auf der Festplatte. Zwei oder drei bräuchte man. In Papier. Und wer nimmt sich die Zeit, die auszuwählen, auszudrucken?
Bei der Arbeit dasselbe: Wir haben da eine schwere, kraftraubende Aufgabe und weder die Mitarbeiter noch die Vorgesetzten wissen schon genau, ob und wie das alles funktionieren wird. Also holt man sich Hilfe und vernetzt sich, wie man das halt so macht in Westdeutschland: Täglich werd ich überschüttet mit Links und PDFs und Literaturhinweisen, von denen sicher viele sinnvoll sind. Aber wie, wann das alles lesen? Und vor allem: Mein Versuch, mir einen Überblick zu verschaffen, er führt nur dazu, noch mehr ins Schwimmen zu geraten, noch mehr den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Überfülle an Material macht die panische Angst, es nicht zu schaffen, nur noch größer, anstatt sie zu lindern. Wirklich etwas schaffen tue ich nur in den Momenten, in denen es mir gelingt, das Material zu vergessen, einfach ohne nachzudenken produktiv zu sein, zu arbeiten, als käme es nur auf mich an.
Ob es den anderen auch so geht? Ich weiß es nicht. Ich bin über fünfzig und in der Probezeit, also halt ich schön meine Klappe. Und sehne mich nach Ruhe, nach weniger Material, nach Bodenhaftung.
„Genug ist nicht genug“? Nein! Es ist zu viel.

P.S. Das Internet belehrt mich, dass ich den Ton-Steine-Scherben -Text ganz falsch verstanden habe (richtig soll es heißen: "müde alles Material") - nun, es hört eben jeder, was er glaubt.

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