Freitag, 16. November 2012
Internet-Lektüre-Bericht: Wie wird eine Theorie über den Reichstagsbrand zur „Verschwörungstheorie“?
Als ich 1990 im Westen ein Geschichtsstudium begann, erfuhr ich zu meiner Verblüffung, dass die Täterschaft der Nazis in Bezug auf den Reichstagsbrand wohl doch nicht selbstverständlich sei, ja, dass es sogar möglich sei, der damals am Tatort gefasste von der Lubbe habe den Reichstag mtihilfe seines kommunistischen Parteibuchs und einiger Kohlenanzünder ganz allein in Flammen aufgehen lassen. Nun, ich nahm das erstmal hin – es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich etwas ziemlich Unwahrscheinliches später dennoch als wahr erweist. Und wenn der mainstream einer Wissenschaft das für nicht unwahrscheinlich hält, dann muss es ja zumindest einige gewichtige Aspekte geben, die dafür sprechen.
Diese Aspekte gibt es tatsächlich, ich hab sie gestern nachgelesen, als ich (aus ganz anderen Gründen) mal zu diesem Thema nachgoogelte. Allerdings liegt das Gewicht der betreffenden Argumente, wie ich z. B. hier nachlesen konnte, weniger in deren Logik und Überzeugungskraft als in der Autorität der Instanzen, die sie vorgetragen haben: ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin und ein führender deutscher Geschichtsprofessor.
Es war nämlich so: 1946 benannte ein ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter die Täter, den SA-Funktionär Hans-Georg Gewehr und seine Truppe, und beschrieb den Tathergang. Da Gewehr inzwischen einen falschen Namen angenommen hatte und untergetaucht war, auch keine Akten greifbar und die entscheidenden Zeugen tot waren, ließ sich natürlich nichts davon beweisen. Bewegung in die Geschichte kam erst ein paar Jahre später, als der Wind sich gedreht hatte: Hans-Georg Gewehr lebte wieder unter seinem bürgerlichen Namen – als Bauunternehmer und Leiter eines Ingenieursbüros, ohne je Ingenieur gewesen zu sein (diese Sorte Firmengründer kenne ich auch aus der EX-DDR, wo jeder nennenswerte Funktionär von seiner Seilschaft eine GmbH bekam, kürzlich ist wenigstens mal einer der dreistesten davon vor Gericht gelandet, nachdem er diese Scheußlichkeit jahrelang an den neuen Staat vermieten konnte). Nun bekräftigte also ein niedersächsischer Verfassungsschützer als Hobby-Historiker die schon von den Nazis vertretene These von der Täterschaft van der Lubbes. Ein ehemaliger SS-Mann und in der Bundesrepublik hoch angesehener Wirtschaftskriminologe vermittelte seinen Text an den SPIEGEL, wo er 1959/60 als Serie erschien. Kurze Zeit darauf bestätigte der berühmte Historiker Hans Mommsen diese Einzeltäterthese und verhinderte die Veröffentlichung eines Gutachtens, das die Fehler in dem Text nachwies. So erlangte die seltsame These von der Alleintäterschaft van der Lubbes endgültig den Status kanonischen Wissens, und alles, was dagegen sprach, gilt seither als Verschwörungstheorie. Z.B. bei zum.de, der Wissensplattform für Lehrer, wo behauptet wird, nichts Genaues wisse man nicht, und als einziger Beleg ein Text des SPIEGEL aus dem Jahr 2008 verlinkt wird, der die SS-Thesen von 1960 unverändert weiter reproduziert. Während Wikipedia die Kontroverse umfangreich und wertfrei darstellt.
Fazit: Wenn du etwas über die Geschichte lernen willst, schau nicht in den SPIEGEL! Auch dein Geschichtslehrbuch wird dir vermutlich nicht weiterhelfen. Guck lieber ganz normal bei Wikipedia nach und folge den dort verzeichneten Links oder googel ein bisschen umher.
Und Verschwörungstheorien sind immer die Überlegungen der Leute, die ihre Ideen zwar auch nicht letztgültig beweisen können, denen es aber vor allem nicht gelungen ist, genügend wichtige Autoritäten um sich zu scharen, um ihr Gedankengebäude als Wahrheit verkaufen zu können.

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