Montag, 30. April 2012
Heute: Eine sentimentale Erinnerung
Heute mal wieder eine Geschichte von damals, denn manchmal blitzt im Alltag irgendeine Assoziation auf und führt einen zurück – und mich komischerweise fast immer in dieselbe Zeit, in die Mitte der achtziger Jahre.
Ich war Soldat und verbrachte die Sonntage gelangweilt auf dem blau-weiß karierten Bett, bevorzugte Lektüre: „neues leben“, die Bravo der DDR. Da verliebte ich mich – da andere Objekte nicht verfügbar waren - in eines der Mädchen aus so einem Heft, in ihre Lippen, ihre sehnsüchtigen Gedichte, ihren träumerischen Blick. Es war eine Förderpreisträgerin des FDJ-Poetenseminars.



Ihr zu schreiben, verbot sich natürlich, denn sie war in meinen Augen „berühmt“ und „DDR“, ich war ein Nichts und von meinen Vorgesetzten auch schon als Tunichtgut identifiziert. Ich schrieb ihr trotzdem, unter falschem Namen. „Ernst Kuhlbitter“ nannte ich mich, meinem sentimentalen Selbstverständnis folgend. Die Sensation war, dass – ein paar Wochen später, ich musste als „Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst“ in der Poststelle am Eingang der Kaserne die fehlerhaft adressierten, unzustellbaren Briefe durchsehen, ob da nicht was für unsere Einheit dabei war – dass da tatsächlich ein Brief für „Soldat Ernst Kuhlbitter“ lagerte. Sie schrieb mir wirklich nett zurück.
Die Freude dauerte nicht lange. Es gab eine Schrankkontrolle, der Brief wurde beschlagnahmt und ich des Diebstahls fremder Briefe bezichtigt. An eine Aufklärung des Irrtums dachten weder ich noch meine Vorgesetzten; es kam auch nicht darauf an, die Vorgänge überschlugen sich ohnehin. Nur dass ich mir über alldem die Adresse nicht richtig gemerkt hatte! Ich vergaß bzw. versuchte zu verdrängen. Aber als ich ein paar Monate später in einer richtigen Literaturzeitschrift ein paar Gedichte von ihr las, voller kryptischer Metaphern und Gestalten, und eine davon nannte sie „den einsamen Soldaten“ , da fühlte ich mich gemeint und schöpfte wieder Hoffnung.
Es ergab sich, dass ich bald darauf – ich war inzwischen unehrenhaft entlassen – beruflich in ihrer Stadt zu tun hatte. Ich durchforstete den Stadtplan, und als ich ihren Straßennamen las, erkannte ich ihn natürlich wieder. Kurz darauf stand ich vor ihrem Haus in der Vorstadt. Die Eltern öffneten. Ich erzählte irgendeine erfundene Geschichte und sie wunderten sich, dass ich von ihrer Hochzeit nichts gehört hatte. Sie gaben mir ihre Adresse in Berlin mit.
Ich war zerschmettert. Las immer wieder ihren neuen, ausländisch klingenden Familiennamen. Ich verfasste ein Gedicht des Inhalts, dass der böse Ausländer sie mir geraubt hätte, und heftete es an einen Baum in ihrem Viertel in Berlin. Bis vor ihre Haustür wagte ich mich nicht. Sondern beschloss für mich, dass diese Berliner Szene-Typen mich nicht interessieren. Dass das sowieso alles Stasitypen sind, wie mein Vater auch immer meinte. Verliebte mich stattdessen in ein Mädchen mit ebensolchen sinnlichen Lippen, einer ebensolchen süßen Mädchennase, nur hatte die keinen Ausländer zum Heiraten, sie stellte einen Ausreiseantrag. Es ergriff eben jede(r) den Strohhalm, der zu kriegen war. Ich blieb wieder allein.
Und warum mir das heute wieder einfällt? Weil ich heute müßig und allein zu Hause rumsaß, schon am Vormittag im Fernsehen rumzappte und natürlich bei einem Interview mit einer dieser Ex-DDR-Dissidenten hängen blieb. Als ich das dann schnell im Internet nachrecherchieren wollte, stieß ich unvermutet auf den Namen des einst verhassten Ausländers. Und musste feststellen, dass er wohl ziemlich privilegiert, aber alles andere als ein Stasityp gewesen ist. Obwohl auch er zusammen mit zusammen mit seiner Frau, eben ihr, so eine Underground-Zeitschrift rausgegeben hat damals in der DDR. Ist schon ganz in Ordnung, was die beiden gemacht haben. Auch wenn es schmerzt zu sehen, wie sie spannende Zeiten erlebten in den späten Achtzigern, während ich und alle, die ich kannte, in Frust und Illusion und Chaos fast ertranken.
Eigentlich wäre es jetzt Zeit, von diesen Erinnerungen Abschied zu nehmen. Sich ein eigenes Leben zu gestalten, so wie die beiden es schon damals taten. Die Bodenhaftung hätte ich inzwischen, nur ... das Fliegen hab ich verlernt.

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Donnerstag, 8. November 2007
"An die Grenze" - Teil 5: Zum Abschluss ein paar Fotos
So, ich beende die DDR-Erinnerungs-Gruselserie mit ein paar Fotos aus dem Jahr 1995, als die Russen abzogen und auch besagtes Stadtviertel wieder der Öffentlichkeit zugänglich wurde. Sie sind durch Scannerprobleme leider etwas verfremdet, was ich aber gar nicht schlecht finde, da durch die falsche Belichtung alles noch düstererer aussieht. Deutlich zu erkennen ist, dass man Villen zu Gefängnissen umgearbeitet hat.







Man könnte jetzt sagen, das ist Schnee von gestern. Die Russen sind lange weg. Die Villen wurden restauriert und gehören jetzt wieder denen, die Geld haben. Das Thema DDR ist gut für Gruselgeschichten – hier in meinem Blog wie im ZDF oder bei der Oscar-Verleihung.
Aber einer von denen, die damals von Potsdam aus Bösewichter zu Tode hetzten, regiert jetzt in Moskau. Er jagt immer noch „Terroristen“ (so nennt man die Bösen heute) und versteht sich gut mit Terroristenjägern anderer Provenienz. Aber auch Tschetschenen, Afghanen und Iraker essen von Tellern. Dieses nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kann dieser Text vielleicht helfen.

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"An die Grenze" - Teil 4: Exkurs über Deserteure
Merkwürdig berührt hat mich in dem Film die Szene, wo der Deserteur zwei Grenzer erschießt. Das erschien mir ganz unglaubwürdig. Aber mein Gefühl trog: Das hat es wirklich gegeben. 1975 erschoss der NVA-Deserteur Werner Weinhold bei seiner Flucht zwei Grenzer. Als ich das im Internet nachrecherchierte, löste der Name „Weinhold“ löst in mir ein quälendes Gefühl aus. Es fühlte sich an wie irgendeine dieser Lügen, irgendwas von dem Blödsinn, mit dem damals alle, auch die Kinder (ich war 1975 neun), überschüttet wurden. Ungefähr sowas Ätzendes wie heute die Werbung. Nur kann eben Werbung mitunter richtige Informationen enthalten.
Weshalb ich bei der Szene unruhig und ärgerlich wurde, ist, weil ich beim Erscheinen des Deserteurs anderes assoziiert habe als den Werner Weinhold, der gemeint war. Ich dachte sofort an einen russischen Deserteur. (In Wirklichkeit ist nur einer der Grenzsoldaten-Erschießer ein Russe gewesen). Denn die Geschichten von diesen Verzweifelten waren die Gruselgeschichten meiner Kindheit.
Wir hatten sehr viele Russen in Potsdam, wo ich aufgewachsen bin. Zwischen meinem Zuhause und dem der meisten Spielkameraden war ein ganzes Stadtviertel, ein einst prächtiges Villenviertel, durch Zäune und Mauern abgetrennt und mit Wachtürmen versehen: Militärgericht und KGB-Zentrale der sowjetischen Truppen in Deutschland. Manchmal hörte man, dass wieder einer abgehauen sei. Ich stellte mir diese Menschen irgendwie wie wilde Tiere vor – wer sonst begibt sich, in der Regel unter der Anwendung von roher Gewalt, auf einen Weg, der mit 99%-iger Sicherheit innerhalb weniger Tage mit dem Tod endet? Einmal wurde ein leerstehendes Haus zwischen dem Russenviertel und der Grenze nach Westberlin (Entfernung ca. 2 km) in Brand geschossen, weil sich dort einer versteckt hatte. Und einmal stand auf der Seite 2 im „Neuen Deutschland“ unter „Innenpolitik“ folgende kryptische Nachricht: „Zwischenfall am Schkeuditzer Kreuz - Im Zuge der Verfolgung eines Rechtsbrecher wurden im Bereich des Schkeuditzer Autobahnkreuzes durch Angehörige der sowjetischen Truppen Warnschüsse abgefeuert. Um die Verkehrssicherheit nicht zu gefährden, wurde der gesamte Autobahnabschnitt für den Verkehr gesperrt.“
Als ich etwa fünfzehn, gab es große Aufregung. Ein Deserteur, von dem schon gemunkelt worden war, hatte sich offenbar ein paar Tage in der Datsche von der Familie meines Schulfreunds S. versteckt. Natürlich zog das umfangreiche Nachforschungen durch die „Organe“ nach sich. Ein paar Tage später hörte man, er sei tot. Wir bestürmten S. zu erzählen, wie denn nun alles gewesen sei. Ich glaube, es wurde auch ein durchschossener Metallzaunpfahl besichtigt (oder bauscht das meine erinnernde Phantasie auf?). Sicher weiß ich noch, dass S. vor allem eine Beobachtung bewegte: „Er hat das Geschirr abgewaschen.“ Offenbar war das also doch kein sibirisches Waldmonster ...

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Sonntag, 4. November 2007
"An die Grenze" - Teil 3: Unter Grenzern
Das soll nicht heißen, dass mein Vater ein Oppositioneller gewesen wäre. Auch er spielte seine Rolle im System und versuchte, für seinen Sohn eine möglichst ehrenvolle (also auch ideologieferne) Karriere anzuschieben – wie es auch der Vater im Film tat und mit ihm vermutlich ziemlich viele Väter dieser Welt. Am Beginn einer solchen Karriere stand der richtige Studienplatz. Als der meinige „hintenrum“ organisiert wurde, erreichte meinen Vater die inoffizielle Information: „Also, freiwillig zum Reserveoffizier müsste er sich schon melden, wenn er schon nicht drei Jahre zur Armee geht.“ Ich tat wie geheißen. Als ich später aus Schule und Elternhaus entlassen wurde, nämlich direkt in die Armee, erübrigte sich diese Verpflichtung, da die Staatsmacht meine Sympathie für „Staatsfeinde“ (Originalton Oberstleutnant Knaf)) erkannte und dankend auf meine Bereitschaft mitzumachen verzichtete (vgl. Armeezeit, Teil 21).
Was das alles mit den Grenzern zu tun hat? Ganz einfach: Als ich später doch noch studieren durfte, musste ich wie jeder Student für einen Monat als Reservist zur Armee. Alle meine Kommilitonen waren Reserveoffiziere und kamen in eine andere Einheit. Ich fand mich wieder in einer Einheit, die fast nur aus ehemaligen Grenzern bestand – denn die wurden aus irgendwelchen Gründen nie Reserveoffiziere. Unter den Kameraden meiner Stube war übrigens kein einziger begeisterter Anhänger des DDR-Systems (von denen es doch in jeder Schulklasse immerhin 2 – 3 gab), alle waren brave, ordentliche, rechtschaffene Menschen.
Als abends Erinnerungen an den Postendienst ausgetauscht wurden, erzählte einer: „Eines Abends wurde urplötzlich der ganze Dienstplan umgeschmissen. Wir kriegten frei, und Stasi-Truppen zogen auf. In der Nacht gab es einen erfolgreichen Grenzdurchbruch ... da haben die sicher einen Spion rübergeschleust ...“ – „Weißt du was“, erwiderte ein anderer, „genau dasselbe ist bei uns auch mal passiert. Da hab ich nie mir was gedacht dabei ...“
Es ist schon richtig, dass Grenzsoldaten, wenn sie erstmal da standen im Postenbereich, so ziemlich in der Zwickmühle waren – in einer „No-win“-Situation, wie Kolditz sagte. Eine Wahlmöglichkeit hatten sie aber immer noch: Sie konnten die Augen offen halten und begreifen, was geschah – oder ohne nachzudenken das Ganze über sich ergehen lassen. Was im äußersten Fall auch hieß, wie befohlen einen Menschen zu erschießen.

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Mittwoch, 31. Oktober 2007
"An die Grenze" - Teil 2: Gerüchte – Angst machende und Mut machende
Leider hat Kolditz dieses Stichwort vom Militärknast in Schwedt nur im Interview mit Kerner gebracht, im Film kommt es nicht vor – schade, es wäre ein schöner Anlass gewesen zu zeigen, wie das System Grenze funktionierte, wie man Unschuldige dazu brachte, Unschuldige zu erschießen: indem man nämlich junge Menschen durch Angst in die Unmenschlichkeit trieb.
Auch ich (als normaler NVA-Soldat) kannte die Erzählung von „Schwedt“. Wir stellten uns das Militärgefängnis vor wie die Hölle. Ob es das war, weiß ich nicht – vermutlich ja. Ich weiß nur, dass die Androhung von „Schwedt“ immer das letzte Argument der Offiziere war. Das zog immer – und veranlasste uns zur Ausführung jeglichen Befehls.
Übrigens gibt es auch eine andere Erzählung als die von Schwedt. Als mir der Grenzdienst drohte, ist sie mir begegnet. Ich hatte als Oberschüler die übliche „freiwillige“ Verpflichtung zum dreijährigen Unteroffiziersdienst (stat1,5 Jahre als Soldat) verweigert und mich nicht getraut, nun auch noch den Grenzdienst zu verweigern (was mancher Mitschüler sich traute). Prompt wurde ich bei der Musterung nochmals ausdrücklich gefragt, ob ich bereit wäre, zur Grenze zu gehen. Ich sagte „ja“ und begann zu zittern. Später erzählten mir Freunde, man könne auch noch nach dem Einziehen zu den Grenzsoldaten den Schießbefehl verweigern – und würde dann eben nicht zum Postendienst eingeteilt. Es soll einen jungen Mann gegeben haben, der bei den Grenztruppen einfach Koch wurde, weil er sich während der Grundausbildung entsprechend geäußert hatte. Vielleicht stimmt auch diese Geschichte, ebenso wie die Gerüchte über Schwedt. Sie hat mir damals viel Mut gemacht.
Ach, und warum ich dann doch nicht zur Grenze gezogen wurde, stellte sich erst nach der Wende heraus: Das Wehrkreiskommando machte bei den für die Grenzer vorgesehenen jungen Männern eine Regelanfrage bei der Stasi. Da in dieser Zeit gerade ein „Operativer Vorgang“ (Bespitzelungsmaßnahme) gegen meinen Vater lief, blieb ich verschont.

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Mittwoch, 31. Oktober 2007
"An die Grenze" - Teil1: Dramaturgie kontra Authentizität
Aus gegebenem Anlass noch mal das DDR-Thema. Gestern Abend kam „An die Grenze“, ein Fernsehfilm als Innenansicht der DDR-Grenztruppen. Das wollt ich natürlich sehen, aber dann war doch das Abendessen wichtiger, ich schaltete den Recorder ein und war erst in der zweiten Hälfte des Films mit dabei und fand das alles ziemlich blöd.
Aber wie es so ist mit den Themen, die einen umtreiben: Es ließ mir keine Ruhe, die für heute Morgen geplante Schreibtischarbeit blieb liegen und ich sah im Internet nach. Konnte kaum glauben, dass der Drehbuchautor (Stefan Kolditz) tatsächlich Zeitzeuge gewesen sein sollte. Ich schaltete spontan den Recorder an und sah noch mal von Anfang an. Und tatsächlich, da war sie, die Authentizität: die Naivität des Haupthelden, die rüden, coolen Sprüche der Eks (Entlassungskandidaten) und das hilflose Herumgebrülle und die noch hilfloseren ideologischen Floskeln der Offiziere. Den Kompaniechef hab ich direkt wiedererkannt – auch meiner war so ein Militärspießer, der mit engstirniger Professionalität und kindlicher Begeisterung sein absurdes Handwerk betrieb, als ginge es darum, ein Fenster zu zimmern.
Schlecht wurde der Film erst, als die Handlung richtig einsetzte und die eisernen Gesetze der Dramaturgie die Wahrhaftigkeit verdrängten. Eine Liebesgeschichte musste natürlich her, natürlich muss die Frau am Ende untreu sein (Frauen sind ja als Verkörperung der Leidenschaft per se untreue Wesen), und zum Schluss kommt es zum Showdown zwischen den männlichen Gegenspielern. Das ist nun mal so, seitdem es Western gibt, und natürlich gewinnt der Gute, weil er treue Freunde hat.
Aber vermutlich ging es ja auch gar nicht um diese triviale Handlung – sondern darum, dass ein ehemaliger Grenzsoldat in vielen kleinen Details seine Vergangenheit rechtfertigt. Das ist sein gutes Recht, und die gelieferten Argumente sind überwiegend stichhaltig. Es ist sicher richtig, dass die Grenzsoldaten möglichst in die Beine schießen und nur im Notfall töten sollten. Ohne Zweifel ist auch richtig, dass auch Grenzsoldaten von Grenzverletzern erschossen wurden. Und vermutlich stimmt es auch, dass Grenzsoldaten, die im Fall des Falles nachweislich nicht von der Schusswaffe Gebrauch machten, „Schwedt“ drohte.

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Dienstag, 22. Mai 2007
Armeezeit, Teil 21
Entlassen wurden die Soldaten unserer Einheit Ende April. Ich und einige andere mussten bleiben - wir hatten wir mehrere Tage Knast nachzudienen. Der Tag, als die anderen gingen, wurde uns Nachdienern schwer. Besonders schwer wurde er für mich, denn ich trat an diesem Tag eine zweite Arreststrafe an, wegen „Beleidigung eines Vorgesetzten“. Nicht wegen des OvDs übrigens – ich hatte im Eifer der Auseinandersetzung einen Unterleutnant „Knalltüte“ genannt und damit Gelächter bei umstehenden Stabsoffizieren ausgelöst. Mit einigen Kameraden ging ich nach vorn zum Kasernentor - sie verließen die Kaserne, ich musste abbiegen ins Wachgebäude und mich zum Antritt meiner Strafe melden.
Besser wurde es nachmittags, die anderen waren weg - und ich ein Häftling. Ich stand mit dem Besen auf einer Regimentsstraße und fegte, bewacht von irgendeinem Wachsoldaten. Andere kamen vorbei, erkannten mich und riefen: "Karin, was machst du denn schon wieder im Knast?!" Ich zuckte mit den Achseln und lächelte. Ich war jemand, ich war berühmt. Karin, der Aufsässige.
Fünf Tage später gingen Ulli Ost und die anderen. Nur der Melker und ich mussten weitere drei Tage bleiben. Wir hatten rein gar nichts mehr zu tun. Unsere Betten hatten wir an die bereits eingetroffenen Neuankömmlinge abgegeben. Die Unteroffiziere – das waren ja nun unsere nächsten Angehörigen – waren mit den „Glatten“ unterwegs und brachten ihnen das Marschieren bei. Ich erinnere mich an einen Vormittag, an dem ich mitgezählt habe: Die AMIGA-Schallplatte mit den Hits von Joe Cocker lief 14mal hintereinander.
Meine letzte verbotene Handlung war das Einkaufen einer Flasche Sekt im Regiments-Laden. Ich war richtig enttäuscht, dass die Aktion keinerlei Probleme bereitete – der Verkäufer kannte mein Schicksal ebenso wie die Vorgesetzten, es interessierte einfach niemanden, ob ein Nachdiener an seinem vorletzten Tag noch verbotenerweise Alkohol erwirbt, eine Handlung, die sonst nur Offizieren erlaubt war. Dann war der Tag heran und ich ging mit Hoppi – so hieß der Melker - zum Kasernentor. Es lief alles nach Plan: Im Treppenhaus schüttelten wir Dutzende von Händen; als wir die Regimentsstraße hinunterliefen zum Tor, winkte man uns aus den Unterkünften nach. Kurz vorm Tor verstreuten wir Papierschnipsel – wie es irgendeine Soldatensitte verlangte, an deren Inhalt ich mich nicht mehr erinnere. Draußen wurden die Sektflaschen geöffnet. So ähnlich wie Silvester, wo man ja auch oft neben sich steht und das Ritual einfach durchzieht.
Ich zog mit Hoppi noch durch Berlin, wir trafen uns mit irgendeinem der pünktlich Entlassenen und markierten eine Fröhlichkeit, die wir nicht empfanden. Als ich tief in der Nacht betrunken bei meinem Elternhaus eintraf, das immer noch dastand, als wäre ich nie fortgewesen, und dachte, dass ich mein altes Leben nun fortsetzen würde, war mir, als hätte ich mit der Armeeentlassung das Leben verloren – das Leid, aber auch das Leben.
Und so war ich beinahe dankbar, dass die Armee mich nicht vergaß, sondern noch nachträglich mein Verhalten honorierte: Einen Monat nach meiner Entlassung fuhr Oberstleutnant Knaf persönlich nach Leipzig an die Universität, um die Rücknahme meiner Studienzulassung anzuordnen. Offenbar hielt er mich doch nicht für einen formbaren jungen Menschen. Oberstleutnant Knaf hat meinen Stolz respektiert. Und Schriftsteller bin ich nie geworden.

ENDE

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Dienstag, 22. Mai 2007
Armeezeit, Teil 20
Und wann war dieser Wintertag, an dem ich wie so oft abends im Trainingsanzug über den Regimentsplatz huschte zur Telefonzelle, aber es wurde nichts aus dem Nach-Hause-Telefonieren? Irgendein Diensthabender gabelte mich auf und hinderte mich am Betreten der Telefonzelle: Es sei vom OvD (dem diensthabenden Offizier im Regimentsstab) ausdrücklich verboten worden, anders als in kompletter Dienstuniform die Gebäude zu verlassen oder zur Telefonzelle zu gehen. Ich glaubte ihm nicht, wollte ihm nicht glauben. Jeder ging jeden Abend im Trainingsanzug über die Regimentsstraße. Und an einem stockdunklen Winterabend konnte das doch wohl kaum irgendjemanden belästigen. Aber ich kam einfach nicht vorbei an diesem übereifrigen Feldwebel. Umzukehren und auf eine günstige Gelegenheit zu warten, verbot mir mein Stolz. Und die geforderte Dienstuniform anzuziehen war ganz unmöglich – ich hätte mich zum Gespött der ganzen Kompanie gemacht. Also lief ich in meiner Wut so, wie ich war, direkt in die Höhle des Löwen, zum OvD. Mit seinen eigenen Worten wollte ich es hören, ob ein erwachsener Mann so eine blödsinnige Anordnung treffen konnte. Aber er glotzte mich nur entgeistert an, offenbar sprachlos angesichts der Vermessenheit, dass so ein Wurm von Soldaten im Trainingsanzug vor ihn hinzutreten wagt. Als er sich gefasst hatte, sagte er nichts als „Weg!“ Und mir blieb nichts als einen unschuldigen UvD anzuschreien daheim auf unserm Flur und dann wütend meine Sachen durcheinander zu werfen.

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Sonntag, 20. Mai 2007
Armeezeit, Teil 19
Nicht sehr viel später wurde ich zwanzig Jahre alt. Es war ein ganz normaler Dezembertag. Kurz, kalt, dunkel, ereignislos. In meinem Tagebuch, das ich heimlich zettelchenweise nach Hause schickte, steht: "Zwar herrschte mein Lieblingswetter: unfreundlicher Wind mit Regen und Schnee, der auf der Haut schmolz." Weiter steht verzeichnet, dass ich mit einem Kameraden (im Zivilleben Melker und Heavy-Metal-Fan) und zwei leeren Sturmgepäck-Rucksäcken in den Postenbereich 1 lief - dorthin, wo ich zum ersten Mal diese Übergabemethode kennen gelernt hatte - aber irgendetwas lief schief; die vereinbarte Alkoholsendung traf nicht ein, und wir beide kehrten unter dem Gelächter der Zurückgebliebenen mit leerem Sturmgepäck in die Unterkunft zurück. Natürlich kam es so, dass später dennoch verschiedene Flaschen Schnaps auftauchten, dass ich betrunken am UvD-Tisch Shakespeare-Sonette vorlas, dass ich aus dem Fenster kotzte. Und dass ich am nächsten Morgen kein Bargeld mehr hatte.

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Mittwoch, 16. Mai 2007
Armeezeit, Teil 18
Nach einem dieser Wachdienste kehrte ich in die Einheit zurück und fand meine Kameraden in großer Aufgeregtheit vor. Es hatte in der vergangenen Nacht ein so genanntes "Vorkommnis" gegeben. Genaugenommen eigentlich gar kein Vorkommnis, sondern nur mal wieder eine aufgebauschte Phantasie übereifriger Vorgesetzter, dokumentiert in pflichtschuldigst übertriebenen Berichten. In Wirklichkeit war nichts anderes passiert, als was immer passiert: Man hatte sich betrunken. Dummerweise aber hatte an diesem Abend ein einfacher Soldat namens Nover den Posten des UvD innegehabt. Nover war mit uns zusammen eingezogen worden, jetzt sah er seine Chance, von einem vertretungsweisen zu einem richtigen Unteroffizier zu werden in den Augen der Vorgesetzten. So wurden aus den übermütigen und besoffenen Worten der Soldaten staatsfeindliche Äußerungen, und Unteroffizier Fisch, der ich weiß nicht welche Dienstfunktion gerade innehatte, Fisch, der fiese, schleimige Unteroffizier bestätigte Novers Berichte und damit hatten wir den Skandal. Ich sah mich berufen, diese Witzfiguren der Lächerlichkeit preisgegeben, die sie verdient hatten. Ich ging zu Knaf und sagte die Wahrheit. Der hörte zu und schwieg. Ob er mir Glauben schenkte, war nicht zu erkennen.
Die Bestrafung der Angeklagten jedenfalls ließ auf sich warten, offenbar musste man erst mal überlegen „dort oben“. Erst später, sehr viel später, als Gras über die Sache gewachsen war, bekam jeder der Delinquenten unschöne, aber angemessene drei Tage Arrest. Ich fühlte mich in meiner Wichtigkeit bestätigt. Ich war nicht mehr bei Nover, Rolf-Hans Müller und den anderen Abiturienten, ich stand endlich auf der richtigen Seite, und ich glaubte erfolgreich zu sein.

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