Donnerstag, 2. Juni 2011
Im Falladahaus, 4. und letzter Teil
Der Tag war ziemlich anstrengend gewesen, endlose Diskussionen mit der Zwölften, die ihre Klausuren für viel intelligenter hielten als sie waren (ich meine, wenn ich sie im Unterricht zum Diskutieren ermutige, heißt das nicht, dass bei der Klausur die bloße Laberei ausreicht, um sieben Punkte zu bekommen), und am Nachmittag das gleiche Spiel mit den Kollegen: Welches Schulbuch für die neuen achten Klassen angeschafft werden soll, schien für einige eine Frage der ganz persönlichen Ehre zu sein. Ich äußerte mich nicht, auch als man nachfragte. Es war fast erleichternd, beide Seiten zu enttäuschen. Tendenziell hatte ich natürlich Präferenzen, aber ich sah es ja, wie sie mich anstarrten, wohin ich mich nun ordne; ich hatte keine Lust, bekennender Konservativer zu werden. Damit ich dann von Herrn Müller zum legendären Zigarrenabend eingeladen würde, na ich danke!
Mir blieb danach grade noch eine Stunde am Fluss, eine Stunde mich auszulüften, mit nichts als Krähen in meiner Nähe. Wenn man von dem Entenpärchen absah, das am andern Ufer einen Ehestreit ausfocht. Auf dem Rückweg aß ich eine Bratwurst an der kleinen Imbissbude am Markt, dann ging ich hoch in die Wohnung und zog mich um. Gerade war ich fertig – ich hatte den Schlüssel schon in der Hand und wollte nach der Wohnungstür greifen – da hörte ich, wie Jordans gegenüber ihre Wohnung abschlossen und hinuntergingen. Ich drehte noch einmal um und wartete fünf Minuten ab, am Fenster stehend, und sah in den Hof hinunter, der schon ganz im Schatten lag. Dann kam ich nach.
Wie nachher alles gekommen ist, weiß ich auch nicht mehr so genau. Jedenfalls hatte Minski plötzlich eine Flasche Korn zur Hand und erklärte: „Nichts gegen Österreich, aber von diesem Tomaschekschen Likör hab ich jetzt genug.“ Herr Jordan, dem die Gesänge seiner Frau mit den beiden Untermietern schon lange auf die Nerven gingen, stimmte lauthals zu. Wir drei stießen an, versanken noch mehr in unseren Sofakissen und begannen einen Privatdisput ganz ohne Rücksicht auf die beiden Schwulen, die mit Frau Jordan am Flügel Varianten von „Ihr Kinderlein, kommet“ durchprobierten. Für uns war Ende November entschieden noch kein Advent, und auch Herr Jordan kam aus sich heraus. Dass er Wolfgang heiße, erklärte er mir atemlos, und dann wollte er, dass wir Brüderschaft trinken. Warum er mich plötzlich anschrie, weiß ich nicht. Hatten ihn meine gelegentlichen Seitenblicke auf seine Frau gereizt, die ja nichts weiter waren als eine freundliche Antwort auf deren offensichtlichen Kontrollblicke nach uns Männern, oder war es eher die fröhliche Vertrautheit, mit der ich Herrn Minski weiterhin „Herr Minski“ nannte, so dass er einfach merken musste, dass ich ihn dagegen nun gerade nicht ins Herz schließen konnte, Brüderschaft hin oder her?
Mir war das peinlich, wie er sich in mich verbiss; er schlug mich gar nicht, es war mehr wie ein wütendes Krallen an meinen Sachen, d. h. ein paar Sekunden nur, dann sprang seine Frau hinzu. Er stieß sie weg, und „Sven!“ schrie er Minski an „Sven, gib mir die Flasche! Die können mich alle mal ...“ Er setzte an und nahm ein paar große Schlucke von dem Schnaps zu sich, nicht ohne dabei wilde und stolze Blicke zu verschießen. Danach war es vorbei mit ihm, seine Frau musste ihn mit Minskis Hilfe nach oben bringen - „Lassen Sie mal, Herr P.!“ sagte Frau Jordan, als ich helfen wollte, und hatte sicher Recht, es handelte sich um eine Privatangelegenheit. Tomaschek und Winkler standen betreten neben dem Flügel.
Danach haben wir noch zu dritt bei Minski gesessen. Ich war zum ersten Mal in seiner Wohnung, ich erinnere mich an die tief hängende Lampe über seinem Küchentisch und die drei Gläser darunter. An hektische Armbewegungen mit einer Zigarette. Minski kicherte nur. Mich irritierte, wie vertraut Frau Jordan mit den Gegebenheiten schien, aber gleichzeitig machte es mich auch froh. Endlich schien die Dreiergruppe harmonisch. Jedenfalls winkte uns der Hausmeister noch nach, als wir gegen Morgen zu zweit nach oben wankten. Auch Frau Jordan war weich gestimmt, ich weiß noch, dass sie offenbar nichts dagegen hatte, als ich sie zu mir herein bat; auch an den weinroten Body kann ich mich erinnern, mit dem sie dann mit dem Rücken zu mir auf dem Bett lag. Und an ihre seltsam starre Haltung, als meine Hand sich zaghaft über ihren Bauch bewegte und auf ihrer Brust festwuchs. Lange lag sie dort, auf diesem wunderbar runden Stück Fleisch, und wie heute fühl ich es noch, wie sie mich plötzlich ansah und wie sie langsam zu mir hinüberkroch.
Als ich mit fürchterlichen Kopfschmerzen aufwachte, war sie fort, und es war Zeit, zur Schule zu gehen. Gott sei Dank war es Samstag, und ich hatte nur die luschige Zwölfte zu dirigieren, deren Mehrheit die Freitagnächte tanzend im „Metropol“ zu verbringen pflegte und mit denen ich samstags ohnehin immer nur ein paar simple Quellentexte durchlutschte.
Greifswald habe ich nicht verlassen, auch das Falladahaus nicht. Natürlich kommt es zu verlegenen Gesten, wenn ich Herrn Jordan begegne, und auch zu den Hausmusikabenden wurde ich bisher nicht wieder eingeladen. Aber was heißt das? Klar, wenn diese Geschichte von Theodor Storm wäre, würde der Erzähler jetzt vermelden, dass ich nie geheiratet hätte und mein Lebtag ein kauziges Original dieser norddeutschen Kleinstadt geblieben wäre. Aber es ist ja nicht so. Noch bin ich jung, und wer weiß, was passiert.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 1. Juni 2011
Im Falladahaus, Teil 3
Zwei Tage später – ich war wieder mit dem Müll unterwegs – blieb ich im Flur stehen. Irgendetwas war anders. Aber natürlich: das Abendlicht. Das eine Flurfenster ging nach Westen, und es war ja die Stunde vor dem Sonnenuntergang. Ich setzte den Mülleimer ab und ging zum Fenster. Die Sonne war schon fast hinter den Dächern verschwunden, die Himmelsfarbe wechselte von flirrendem Blau allmählich zu Rot. Ich lehnte mich ins Fenster und sah nach draußen. Da hörte ich Frau Jordan die Treppe hochkommen. Erst wollte ich zu meinem Mülleimer eilen, aber dann blieb ich im Fenster lehnen. Es war schon gut so. Ich drehte mich auch nicht um, als ich hörte, dass sie hinter mir stehen blieb. „Guten Abend, Herr P.!“ sagte sie, und ich spürte, dass sie es nicht dabei bewenden lassen wollte. Da drehte ich mich doch zu ihr, versuchte einige Floskeln über den Mülleimer und die Hausordnung, aber das schien sie nicht zu interessieren. Frau Jordan wollte mir von dem Hausmusikabend am letzten Dienstag erzählen. Ich sah in ihr Gesicht, während sie redete, es schien beinahe orange im Schein der Abendsonne. Es schien mir auch, dass sie mich im Gegenlicht nicht richtig erkennen konnte, jedenfalls kniff sie ihre Augen zusammen und sah suchend umher. „Frau Jordan“, sagte ich, „das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mir davon erzählen, Herr Tomaschek hat auch mir auch schon angeboten, einmal dabei zu sein. Aber bitte seien Sie nicht böse, ich bin doch so unmusikalisch.“. Da machte sie einen Schritt nach vorn und legte mir die Hand auf den Unterarm. „Sie müssen doch gar nicht singen, wenn Sie nicht wollen, Herr P.! Aber es ist so unheimlich, wie Sie immer so stumm an uns vorhuschen. Wir machen uns einfach Sorgen.“ Was sollte ich dazu sagen? Nun half es ja nichts mehr – ich musste beim nächsten Mal auch erscheinen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 31. Mai 2011
Im Falladahaus, Teil 2
So begann mein Leben als Angestellter des staatlichen Bildungswesens. Jeden Morgen um 10 vor Acht dieses Treppenhaus hinunter hasten, vorbei an der Blumenbank von Tomaschek und Winkler, vorbei an dem blinzelnden Herrn Minski, der immer mit einer Kehrschaufel oder einem Besen Spalier stand am Hoftor oder in der halbgeöffneten Tür seiner Erdgeschosswohnung. Schnell über die Straße, dann waren es nur noch hundert Meter bis zur Goethestraße, wo sich der Berufsverkehr drängte und mit laut vorbeidonnernden LKWs das gegenüberliegende Schultor verdeckte. Mittags denselben Weg zurück – jetzt war Minski nie zu sehen, ja und dann die endlosen Nachmittage, die Blicke von den Klausuren auf nach den Wolken im Fenster, die kurzen Begegnungen mit Frau Jordan, wenn ich den Mülleimer rausbrachte und sie plötzlich mit Einkaufstüten bepackt hinter einem der Schränke hervorkam, die einsamen Spaziergänge am Fluss – das war der einzige Ort, wo man keinem Schüler begegnete -, auf dem Rückweg der Einkauf bei Rewe, wo dienstags und donnerstags die hübsche Verkäuferin an der Schnellkasse saß, und alle drei Wochen Herr Tomaschek auf dem Treppenabsatz, das Vokabelheftchen für die Treppenhausreinigung in der Hand: „Sie sind dran, Herr P.! Denken Sie doch bitte diesmal auch an die Fensterbänke!“
Einmal aber sah ich Herrn Tomaschek ohne sein Heftchen am Treppenabsatz stehen, als ich aus der Stadt kam. „Ach, Herr P.“, sagte er, „Haben sie einen Moment Zeit. Darf ich Sie kurz herein bitten?“ Ehe ich mich versah, stand ich im Wohnzimmer von Tomaschek und Winkler, und die beiden Männer drängten mich mit verlegenen Gesten auf eine Couchgarnitur, die von Kissen und bunten Wolldecken überwuchert war. Die Nachmittagssonne schien mir direkt ins Gesicht. Winkler, ein langer, dünner Mensch mit einem kleinen, schon ergrauten Schnurrbärtchen, öffnete die Glastüren eines Schrankes und holte Likörgläser hervor. Dann saßen wir alle, und die beiden redeten auf mich ein: Auf die gute Nachbarschaft und ich solle nicht böse sein, wenn anlässlich der Treppenhausreinigung mal ein scharfes Wort gefallen sei, das meine doch niemand so. Und manchmal finde Hausmusik bei ihnen statt – Herr Winkler spiele Geige, Frau Jordan Klavier und die anderen sängen, manchmal sogar Herr Minski (das möchte ich hören, dachte ich, und unterdrückte das Grinsen). Ob ich nicht auch kommen möchte. Ob ich Musik liebe. Ob ich Frau Jordan nie durch die Wand gehört hätte, wenn sie nachmittags übt. „Doch, natürlich. Jeden Tag. Sie spielt sehr schön.“ Dieser Satz war offenbar ein Fehler: Die beiden Männer wurden gemütlich. Tomaschek lehnte sich zurück und begann von einem Bach-Konzert im Dom zu berichten. Winkler zupfte an seiner Fliege. Ich sagte nichts. Plötzlich war ich ein Gefangener, saß fest in einer tiefen Couch und hatte ein geschliffenes Likörglas in der Hand, gefüllt mit einer Flüssigkeit, die doch recht verdächtig roch. Jetzt hieß es, sich geschickt zu verhalten. Einen unauffälligen Abgang zu finden. Ich erklärte mit gespieltem Bedauern, dass ich kein Instrument spiele. Dass ich auch bei den Bach-Tagen im Dom nicht gewesen sei. Dass ich nicht singen könne. Die irritierten Gesichter der beiden signalisierten, dass ich auf dem richtigen Weg war. Es gelang mir, zu einer Entschuldigung anzusetzen, die den Weg zu Tür freimachte. Eine Minute später war ich wieder im Treppenhaus. Ging hoch ins Dachgeschoss und verschwand hinter den Schränken im Dunkel; ich machte kein Licht an, ich fand das Schlüsselloch auch so.
An meinem Arbeitstisch am Fenster ließ ich erst mal den Computer hochfahren. Er piepste, und ich setzte mich an meine Unterrichtsvorbereitungen. Das war gut, wieder so im Vertrauten zu sein. Welche Quellen eignen sich für meinen zwölfer Grundkurs, wo muss ich vorsichtig sein. Ich war schnell bei den richtigen Ideen, hatte aber keine Lust, sie genauer durchzudenken, wie es ein Anfänger ja wohl muss. Vielleicht hätte ich nicht so abweisend gegen Tomaschek und Winkler sein sollen, immerhin war ich neu in diesem Haus und wusste nichts über die Gepflogenheiten zwischen den Mietern. Na ja. Auf einmal war es schon ganz dunkel, ich hatte gar nicht gemerkt, wie lang ich in den leeren Himmel gestarrt hatte. Ich weiß nicht, was plötzlich los war, die Gören gingen mir so was von auf den Nerv, wieso sollte ich denen noch mundgerechte Quellen vorlegen. Ich ging zum Kühlschrank und machte mir ein Bier auf.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 30. Mai 2011
Im Falladahaus, Teil 1
Jetzt hatte das Warten ein Ende, und zwar ganz schnell: Vor zehn Tagen der Anruf von der Bezirksregierung, letzte Woche das Telefonat mit dem Schuldirektor. Ich war sofort einverstanden gewesen: nach so vielen Jahren eine feste Stelle! Greifswald kannte ich eigentlich nicht, einmal vor Jahren war ich im Urlaub da gewesen. Und ich mochte die Ostsee. Warum nicht dorthin ziehen. Ich telefonierte mit einem Wohnungsmakler, machte mit dem Schuldirektor einen Termin aus, und dann fuhr ich hin. Am Vormittag wollte mir der Direktor meinen neuen Arbeitsort zeigen: den Kartenraum, das Lehrerzimmer, die Computer mit Internetanschluss. Die hohe, absurd hässliche Fassade aus rotem Backstein stehe unter Denkmalschutz, erklärte er mir stolz, als wir über den baumlosen Schulhof zur Turnhalle rüberliefen. Auch die war aus rotem Backstein, darüber ein Dach mit blaugrauer Teerpappe, das in der Sonne glitzerte.
Ich aß in einem Café am Markt, um 14 Uhr war mein nächster Termin. Ein Herr Minski werde mich erwarten, hatte der Makler gesagt, von ihm könne ich sofort die Schlüssel empfangen, sollte mir die Wohnung zusagen. Es war ein hell verputztes Eckhaus aus dem 19. Jahrhundert, mit mächtigen Stuckornamenten, das sich reicher gab, als es war. Eine schwarze Steintafel zwischen zwei Fenstern des Hochparterres meldete stolz, dies sei das Geburtshaus des Dichters Rudolf Dietzen, auch genannt Hans Fallada. ‚Der Trinker’, schoss es mir durch den Kopf, ‚Wer einmal aus dem Blechnapf frisst’ – na, dann mal vorwärts.’ Der Hauseingang befand sich an der Seite, bei der Hofeinfahrt, ein hölzerner Vorbau, fast eine Art Veranda mit einer kleinen Freitreppe. Da stand Herr Minski und winkte mir schon von weitem zu. Dann eilte er auf mich zu und gab mir die Hand. „Herr P.?“ Sein linkes Auge zwinkerte nervös.
„Sie werden sehen“, sagte er, als wir die Treppe raufstiegen, vorbei an uralten, gerahmten Farbfotos von Rhein und Mosel und einer offensichtlich penibel gepflegten Blumenbank, „ ..... hier sind alle ein bisschen schrullig. Sie werden gar nicht auffallen. Tomaschek und Winkler im ersten Stock – die tun bloß so ordentlich; na, und ganz oben wohnen nach vorne raus die Jordans – er ist ja selten da, und sie – auch meistens irgendwie abwesend.“ Er kicherte. „Die andere Wohnung ist die, die frei ist.“ Wir waren inzwischen im Dachgeschoss angelangt, Ein dunkler Flur mit zwei winzigen Fenstern an den Giebelseiten und drei oder vier riesigen Schränken. Ich sah mich noch verwundert um, da war Herr Minski schon vorausgehuscht und öffnete im Hintergrund eine Tür. „Ihre Wohnung ist ein wenig verwinkelt. Ich hoffe, sie gefällt Ihnen trotzdem.“

... link (0 Kommentare)   ... comment


<