Donnerstag, 17. Februar 2022
Zwei Bücher
damals, 23:25h
die ich mir zu Weihnachten gewünscht hatte: Zunächst mal "Die Rache ist mein" von Marie Ndiaye. Den Namen der Autorin hatte ich schon länger auf dem Schirm, und als jetzt die Feuilletons berichteten, dass sie einen richtigen Thriller mit Kriminalfall geschrieben hat, dachte ich, das könnte es doch sein, endlich auch mal Ndiyae zu lesen.
Das Buch war sehr spannend, es war brilliant geschrieben und es störte auch gar nicht, dass der Kriminalfall (es geht um eine Frau, die ihre Kinder tötete, um sich aus ihrer Ehe zu befreien) sich bald nur als ein beinahe nebensächlicher Anlass, in diesem Fall kann man sogar sagen: Trigger, herausstellte, um in die inneren Abgründe der Protagonistin, einer Anwältin, einzutauchen. Ein Buch, das einen fesselt: aufregend, überraschend, geradezu irre. Letzteres war allerdings auch der Punkt, der mich nach anfänglicher Faszination dann allmählich immer weiter auf Distanz gehen ließ: Die ganze Geschichte wird aus der Sicht der Protagonistin erzählt, die ständig lügt, und zwar nicht aus strategischen, sondern aus neurotischen Gründen - auch sich selbst belügt sie in einem fort. Das nervt. Natürlich kennen wir das alle: Verdrängungen, Lebenslügen, innere Abgründe - wer hat das nicht in sich? Aber in dieser Dichte, dieses Ausreden- und Lügengespinst, das war schon schwer auszuhalten.
Vielleicht ist das für kriminalistisch geschulte Leser, die Lügen schneller und mit mehr Spaß auf die Spur kommen, ein Vergnügen - mich hat es gequält. Ich bin solchen Personen zwar auch im echten Leben schon begegnet, mit einer war ich sogar einige Zeit lang befreundet, aber im echten Leben ist es irgendwie einfacher, da kann man sich darauf einstellen, indem man Tatsachenaussagen der betreffenden Person immer erstmal dahingestellt sein lässt und nur von Herz zu Herz kommuniziert. Aber in dem Roman, da musste ich ja jede freche, abstruse Lüge von vorn bis hinten durchlesen, sonst hätte ich den Handlungsfaden verloren, und ich wollte schon wissen, wie es ausgeht. Doch am Ende gabs realistischerweise keine Auflösung und nur so ein halbes Happyend, sodass ich das Buch mit einem blöden Gefühl der Antipathie verließ. Schade um so viel vergeudete Sprachkunst und erzählerische Rafinesse.
Was für ein Labsal war dagegen mein nächstes Wunschbuch, "Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin! Wodin ist Romanschriftstellerin, das Buch wirkt auch wie ein Roman - es ist aber ein Sachbuch: Wodin forscht darin nach ihren familiären Wurzeln, nach der Biografie ihrer Mutter, von der sie fast nichts wusste. Denn diese Mutter hat sich mit nicht einmal 40 Jahren umgebracht, als Wodin noch ein Kind war, nachdem sie etliche Katastrophen des Jahrhunderts - Bürgerkrieg, Stalinzeit und deutsche Besatzung in der Ukraine, Zwangsarbeit und Nachkriegselend als Displaced Person in Deutschland - erlitten hatte. Wodin schreibt darüber in einer schönen, aber einfachen Sprache, deren Wucht sich aus den Inhalten, aus der Authentizität des Gesagten, speist.
Diese Authentizität geht so weit, dass das Buch je nach den zugrunde liegenden Quellen unterschiedliche stilistische Färbungen annimmt. Da ist zunächst das Hirn der Autorin selbst: ihr Bericht von der Suche, ihre Erinnerungen an die Kindheit, an ihre Mutter. Diese Passagen berühren natürlich am meisten, sie sind am persönlichsten.
Ein großer Teil des Buches fußt auf dem Lebensbericht von Wodins Tante, der älteren Schwester ihrer Mutter, die als alte Frau Erinnerungen an ihre Jugend, insbesondere die Jahre als Gulag-Häftling am berüchtigten Belomor-Kanal, verfasste, Jahre, in denen ihr ihre erzählerische Phantasie mitunter das Leben rettete. Diese Passagen wirken in Wodins Buch ein bisschen opernhaft, und ganz sicher ist das der Mentalität ihrer Tante zu verdanken.
Über die Mutter als Zwangsarbeiterin hat Wodin keinerlei biografische Angaben, sie muss sich auf entsprechende deutsche Forschungsliteratur stützen, entsprechend wird es hier ein bisschen spröde, manchmal moralisierend.
Und damit will ich gar nichts gegen die Quellen sagen, die außerordentlich glaubhaft und aufschlussreich sind. Es sind einfach unterschiedliche Techniken, die passierten monströsen Verbrechen überhaupt erzählbar, aussprechbar zu machen: indem man einen tragischen Lebensroman daraus macht wie die russische Tante - oder indem man sie als trockenen Faktenbericht mit moralischen Dekorationen darbietet wie die deutschen Forscher. Und als dritte Lesart kommt noch das Zeugnis der Autorin selbst dazu: das Leid ihres Lebens mit den riesigen biografischen Leerstellen, auch das eine Folge der Verbrechen.
Diese Vielfalt im Umgang mit dem Geschehenen macht die Größe des Buches aus. Ganz das Gegenstück zum irrwitzig in sich selbst Gefangenen von "Die Rache ist mein": wahrhaftig, differenziert, direkt - eine seltene, wohltuende Mischung.
Das Buch war sehr spannend, es war brilliant geschrieben und es störte auch gar nicht, dass der Kriminalfall (es geht um eine Frau, die ihre Kinder tötete, um sich aus ihrer Ehe zu befreien) sich bald nur als ein beinahe nebensächlicher Anlass, in diesem Fall kann man sogar sagen: Trigger, herausstellte, um in die inneren Abgründe der Protagonistin, einer Anwältin, einzutauchen. Ein Buch, das einen fesselt: aufregend, überraschend, geradezu irre. Letzteres war allerdings auch der Punkt, der mich nach anfänglicher Faszination dann allmählich immer weiter auf Distanz gehen ließ: Die ganze Geschichte wird aus der Sicht der Protagonistin erzählt, die ständig lügt, und zwar nicht aus strategischen, sondern aus neurotischen Gründen - auch sich selbst belügt sie in einem fort. Das nervt. Natürlich kennen wir das alle: Verdrängungen, Lebenslügen, innere Abgründe - wer hat das nicht in sich? Aber in dieser Dichte, dieses Ausreden- und Lügengespinst, das war schon schwer auszuhalten.
Vielleicht ist das für kriminalistisch geschulte Leser, die Lügen schneller und mit mehr Spaß auf die Spur kommen, ein Vergnügen - mich hat es gequält. Ich bin solchen Personen zwar auch im echten Leben schon begegnet, mit einer war ich sogar einige Zeit lang befreundet, aber im echten Leben ist es irgendwie einfacher, da kann man sich darauf einstellen, indem man Tatsachenaussagen der betreffenden Person immer erstmal dahingestellt sein lässt und nur von Herz zu Herz kommuniziert. Aber in dem Roman, da musste ich ja jede freche, abstruse Lüge von vorn bis hinten durchlesen, sonst hätte ich den Handlungsfaden verloren, und ich wollte schon wissen, wie es ausgeht. Doch am Ende gabs realistischerweise keine Auflösung und nur so ein halbes Happyend, sodass ich das Buch mit einem blöden Gefühl der Antipathie verließ. Schade um so viel vergeudete Sprachkunst und erzählerische Rafinesse.
Was für ein Labsal war dagegen mein nächstes Wunschbuch, "Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin! Wodin ist Romanschriftstellerin, das Buch wirkt auch wie ein Roman - es ist aber ein Sachbuch: Wodin forscht darin nach ihren familiären Wurzeln, nach der Biografie ihrer Mutter, von der sie fast nichts wusste. Denn diese Mutter hat sich mit nicht einmal 40 Jahren umgebracht, als Wodin noch ein Kind war, nachdem sie etliche Katastrophen des Jahrhunderts - Bürgerkrieg, Stalinzeit und deutsche Besatzung in der Ukraine, Zwangsarbeit und Nachkriegselend als Displaced Person in Deutschland - erlitten hatte. Wodin schreibt darüber in einer schönen, aber einfachen Sprache, deren Wucht sich aus den Inhalten, aus der Authentizität des Gesagten, speist.
Diese Authentizität geht so weit, dass das Buch je nach den zugrunde liegenden Quellen unterschiedliche stilistische Färbungen annimmt. Da ist zunächst das Hirn der Autorin selbst: ihr Bericht von der Suche, ihre Erinnerungen an die Kindheit, an ihre Mutter. Diese Passagen berühren natürlich am meisten, sie sind am persönlichsten.
Ein großer Teil des Buches fußt auf dem Lebensbericht von Wodins Tante, der älteren Schwester ihrer Mutter, die als alte Frau Erinnerungen an ihre Jugend, insbesondere die Jahre als Gulag-Häftling am berüchtigten Belomor-Kanal, verfasste, Jahre, in denen ihr ihre erzählerische Phantasie mitunter das Leben rettete. Diese Passagen wirken in Wodins Buch ein bisschen opernhaft, und ganz sicher ist das der Mentalität ihrer Tante zu verdanken.
Über die Mutter als Zwangsarbeiterin hat Wodin keinerlei biografische Angaben, sie muss sich auf entsprechende deutsche Forschungsliteratur stützen, entsprechend wird es hier ein bisschen spröde, manchmal moralisierend.
Und damit will ich gar nichts gegen die Quellen sagen, die außerordentlich glaubhaft und aufschlussreich sind. Es sind einfach unterschiedliche Techniken, die passierten monströsen Verbrechen überhaupt erzählbar, aussprechbar zu machen: indem man einen tragischen Lebensroman daraus macht wie die russische Tante - oder indem man sie als trockenen Faktenbericht mit moralischen Dekorationen darbietet wie die deutschen Forscher. Und als dritte Lesart kommt noch das Zeugnis der Autorin selbst dazu: das Leid ihres Lebens mit den riesigen biografischen Leerstellen, auch das eine Folge der Verbrechen.
Diese Vielfalt im Umgang mit dem Geschehenen macht die Größe des Buches aus. Ganz das Gegenstück zum irrwitzig in sich selbst Gefangenen von "Die Rache ist mein": wahrhaftig, differenziert, direkt - eine seltene, wohltuende Mischung.
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