Donnerstag, 20. Januar 2022
Gedanken zum Ukraine-Konflikt
Es ist mit Vorsicht zu genießen, was ich hier schreibe, denn ich bin sauer wegen ganz anderer Sachen, und man weiß, wie peinlich das werden kann, wenn man seine Frust dann einfach auf das politsche Feld überträgt bzw. dahin abschiebt.

Andererseits hätte ich ohne meine schlechte Laune nie aufgeschrieben, was mir seit Tagen durch den Kopf geht, wenn ich morgens den Deutschlandfunk höre, nämlich Folgendes:

Ich finde es sehr merkwürdig, um nicht zu sagen übergriffig, wenn aus den Medienzentralen von NATO-Staaten sowie auch der NATO selbst immer wieder lamentiert wird, wie frech es wäre, russischerseits einen Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft zu fordern, denn die Ukraine sei ein souveräner Staat, der tun und lassen könne, was er will.

Letzteres Argument ist theoretisch richtig, nur: Es ist natürlich die Sache der Ukraine, diese Souveränität auch öffentlich zu bekunden, und wäre die Ukraine so souverän wie in dieser Überlegung angenommen, dann hätte sie auch kein Problem, ihre Position international zu Gehör zu bringen. Dass NATO-Staaten glauben, ihr erst dieses Gehör verschaffen zu müssen, zeigt schon, wie ernst sie es mit ihrer Souveränität nehmen: nämlich nicht sehr.

Würde die NATO die Ukraine als Partner auf Augenhöhe wahrnehmen, dann müsste die Botschaft völlig anders lauten: So sehr wir den Wunsch der Ukraine nach NATO-Mitgliedschaft verstehen können, so wenig können wir diesem entsprechen, da unser Ziel der Erhalt friedlicher Verhältnisse in Europa ist, das wir nicht durch unbedachte Neuaufnahmen gefährden dürfen.

Und noch heuchlerischer finde ich den Ruf nach "Defensivwaffen". Da frage ich als pazifistisch gesinnter Mensch schon, was das überhaupt sein soll. Wie "defensiv" soll das denn sein, wenn man Menschen tötet oder auch nur Häuser zerstört, um rein defensiv zu verhindern, dass der andere ebendies tut: Menschen töten, Häuser zerstören? (Da muss man sich schon sehr weit im geostrategischen Machtdenken verfangen haben, um ernsthaft auf solche Formulierungen zu kommen.)

Rein zufällig habe ich mich gestern durchs Fernsehprogramm gezappt und blieb - da es sonst nichts gab - an einer dieser Dokus über die Nazizeit hängen: Grundtenor war, dass der wirtschaftliche Aufschwung der 30er Jahre vor allem der Rüstungspolitik der Nazis geschuldet war - und mit dem 2. Weltkrieg kam dann bald die bittere Rechnung. Nun, da hat Deutschland wohl dazugelernt: Mindestens seit den 2000ern verdankt es seinen Wohlstand zunehmend der Rüstungsproduktion, nur ist es klug genug, die Kriege irgendwo weit weg, in Libyen, Afghanistan, Jemen etc., stattfinden zu lassen, sodass die eigenen Bürger von den Folgen verschont bleiben. Ist es jetzt schon so weit, dass wir auch in die unmittelbare Nachbarschaft unsere "Defensivwaffen" liefern müssen, nur um unseren Wohlstand zu sichern?

So, und als letztes, subjektivstes Lamento: Ich hab den Jens Stoltenberg, der mir vorher weiter kein Begriff war, vor zwei Wochen auf poenix reden hören - und war entsetzt: Das war billigste Kalte-Kriegs-Propaganda, was er da von sich gab, im Gestus und der Wortwhl nicht anders, als was die Warschauer-Pakt-Generäle in den 80ern hetzten!

Liebe Mitleser, glauben Sie den Rüstungslobbyisten und Geostrategen kein Wort - egal, ob sie aus Berlin, London, Washington oder Moskau hetzen!

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Die technische Unterscheidung zwischen Offensiv- und Defensivwaffen mag absurd erscheinen, sind ja alles Waffen. Es geht dabei zum Beispiel um Boden-Luft-Raketen aka Flugabwehrraketen, um notfalls Offensivwaffen wie Boden-Boden-Raketen abschießen zu können.

Auf Satellitenbildern sieht man eine ganze Menge, nicht nur, wo es drei Monate später die nächste Hungerkatastrophe geben wird, sondern auch größere Truppenverlegungen.

Ich kann die Ängste und Sorgen der Ukrainer nachvollziehen. Sie nicht?

Auch Litauen kritisiert das hohe Aufgebot an russischen Truppen und Waffen in Belarus für das mehrwöchige russisch-belarussische Militärmanöver scharf.

Was die deutschen Rüstungsexporte angeht, so waren die während des Kalten Krieges in den 1980ern auch schon hoch (siehe Grafik).

wäre die Ukraine so souverän wie in dieser Überlegung angenommen, dann hätte sie auch kein Problem, ihre Position international zu Gehör zu bringen

Dieses Argument verstehe ich nicht so ganz, erläutern Sie das bitte nochmals?

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Vielen Dank für die Grafik, die mir zeigte, wie schnell ich offenbar auf das subjektive Gefühl reinfalle, dass aktuell alles immer schlimmer wird - nein, es ist schon viele Jahrzehnte lang so schlimm. Vielleicht hab ich mir früher mehr Illusionen darüber gemacht, aber jedenfalls kann man nicht von einer deutlichen Veränderung zum noch Schlechteren sprechen ...

Und das mit den Defensivwaffen, ja, das ist mir schon klar, dass und warum man manche Waffen so bezeichnen kann. Aber es ist ein bisschen, wie wenn man seinen Ökostrom von RWE bezieht: Die einzelnen Waffen mögen zu Angriffshandlungen ungeeignet sein, dennoch erlauben sie es der sie besitzenden Armee, militärisch erfolgreicher zu agieren, auch wenn sie einen Angriff im Sinn hat.

Was wiederum die Ängste und Sorgen der Ukrainer betrifft, die kann ich sehr gut verstehen - immerhin herrscht in einem Teil des Landes faktisch Krieg, sodass sie hautnah spüren, was bei einer weiteren Eskalation droht. Und genau das ist es, worum es gehen muss, will man der ukrainischen Bevölkerung beistehen: eine Ausweitung dieses Krieges um jeden Preis zu verhindern.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die derzeitige russische Regierung keineswegs auf militärische Expansion (wie etwa damals in Afghanistan) aus ist, jedoch keine Skrupel hat, blutige militärische Konflikte zu befeuern (wie in Syrien) oder gar selbst auszulösen (wie im Donbass). Es ist halt eine Regierung mit Großmachtanspruch, die ihre wirtschaftliche Schwäche mit geschickter Propaganda, geschickten militärischen Aggressionen auszugleichen versucht.

Insofern sind wir uns sicher einig. Was aber die NATO betrifft: Wenn sie ihren Auftrag ernst nimmt, nämlich ihren Mitgliedsstaaten den Frieden zu sichern, dann kann sie gar kein Interesse an einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine haben, denn das würde unweigerlich zu einer Ausweitung des Donbass-Krieges führen und so ihre osteuropäischen Mitgliedsstaaten akut gefährden. Ganz anders die Ukraine: Natürlich hat sie ein Interesse an einer NATO-Mitgliedschaft - denn sie befindet sich schon im Krieg und könnte die Unterstützung eines internationalen Militärbündnisses nur zu gut gebrauchen.

Merkwürdig finde ich, dass ich (so jedenfalls stellt es sich mir dar - oder liegt das nur daran, dass ich fast ausschließlich die Medien eines NATO-Mitgliedsstaates konsumiere?) dieses verständliche Interesse der ukrainischen Regierung fast ausschließlich aus Mündern von NATO-Politkern höre, die diesem Interesse skeptisch gegenüberstehen müssten. Müsste nicht, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, erstens die Ukraine lautstark nach der NATO rufen und zweitens die NATO dies ebenso lautstark ablehnen?

Dass es nicht so ist, lässt mich jedenfalls daran zweifeln, dass die NATO die Ukraine als souveränen Partner ernst nimmt. (Und dass Russland dies ebenfalls nicht tut, hat es ja bereits genug bewiesen.)

(.. und gänzlich offtopic: Ich freue mich, mal wieder von Ihnen gehört zu haben - ich mache mir schon einige Zeit Sorgen angesichts Ihres verwaisten Blogs.)

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So, jetzt haben also die Russen ihre "Defensivwaffen" auf "Friedensmission" geschickt.

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Und noch heuchlerischer finde ich den Ruf nach "Defensivwaffen".

Sehen Sie das jetzt auch noch so?

Wenn man von zwei Nachbarländern aus mit Boden-Boden-Raketen beschossen - also mit Offensivwaffen angegriffen - wird, sind Defensivwaffen wie Boden-Luft-Raketen, um eben diese Raketen vor dem Einschlag in der Luft abzuschießen, schon ganz praktisch.

Nun gut, reden wir lieber darüber, was die hiesige Bevölkerung nun konkret tun kann:

Wie ich Menschen in der Ukraine jetzt helfen kann

Werden Sie auch spenden?

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Ob ich das noch so sehe? Ja. Auch wenn ich es jetzt nicht mehr so formulieren würde, weil es ziemlich unmoralisch wäre, angesichts des mörderischen Verbrechens, diesen Krieg anzufangen, immer noch nur auf die vergleichsweise lächerlich geringen Propaganda-Schummeleien der NATO zu starren. (Aber so ist das nunmal: Man sieht die Fehler der eigenen Chefs immer viel deutlicher als die von denen der Konkurrenzfirma, man erlebt die eigene Wohnung als dysfunktional eingerichtet, während sich die Freunde sauwohl in ihr fühlen, man findet die Nervigkeiten der eigenen Ehefrau immer besonders nervig, während man bei anderen Frauen darüber hinwegsieht - so auch in der Politik.)

Ich erinnere mich, dass ich mich in den letzten Jahrzehnten zweimal in akuten Krisensituationen empört und einen militärischen Eingriff der NATO befürwortet habe - beim Kosovokrieg und beim Sturz Ghaddafis - beide Male musste ich mich revidieren und habe mich für meine vorherige Meinung geschämt: weil der jeweilige Kriegseinsatz die Welt nicht verbessert hat, im Gegenteil. Daher versuche ich jetzt klüger zu sein. Es wird sich zeigen, ob ich wieder falsch liege.

Bei den Nachrichten heute jedenfalls blieb bei mir folgender Zusammenhang hängen: Deutschland will Russland eigentlich nicht aus Swift ausschließen, aber auf Drängen seiner Partner gibt es nach und liefert nun also Waffen an die Ukraine. Es versucht also, einen Fehler auszubügeln, indem es einen weiteren macht.

Ich wunderte mich auch, dass die Fernsehkommentare mehrfach von der Angst sprachen, Russland könne den Gashahn zudrehen. Müssten wir ihn nicht zudrehen? Für diesen Winter jedenfalls reichen die Gasvorräte in Deutschland, wird versichert - es dürfte dann doch kein Problem sein, sofort alle Gaslieferungen aus Russland zu stoppen, zumindest vorläufig.

Ich halte jegliches militärisches Agieren für falsch. Das kann Putin besser, in solche Sachen sollte man sich nicht reinziehen lassen. Man muss den Aggressor wirtschaftlich niederzwingen. Das ist sicher schmerzhaft für unsere Wirtschaft, und es ist eine viel langwierigere Sache. Aber anders geht es nicht.

Und ganz wichtig: Ja, ich bin entsetzt. Und im Nachhinein, wo man immer klüger ist, muss ich auch sagen: Während ich im Fall Georgien noch Verständnis für die russischen Sicherheitsinteressen hatte (auch wenn der Seperatisten-Trick damals schon unappetitlich war), war, wenn man ehrlich ist, schon mit der Besetzung der Krim die rote Linie überschritten, die nämlich, dass Russland als Staat direkt in ein anderes Land einmarschiert. Man hätte das sehen müssen, es war ein Fehler, dass ich in meinen Überlegungen darüber hinweggesehen habe.

Ach ja, noch danke für Ihren Spendenaufruf, dem ich gefolgt bin. Ohne Ihren Hinweis wäre mir das wohl nicht eingefallen.

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Ja, ich weiß, es ist immer viel komplizierter durchzuführen, als es sich so hinsagt - aber lassen Sie mich doch träumen: Die 100 Milliarden, die die Bundesregierung für die Aufrüstung der Bundeswehr aus dem Fenster werfen will - wären die nicht viel besser eingesetzt für die wirtschafts- und sozialpolitische Abfederung eines sofortigen Einfuhrstopps von Öl, Gas und Kohle aus Russland?

(... und ja, ich weiß, die Bundeswehr braucht eine bessere Ausrüstung - aber solange sie in dem Wahn verfangen bleibt, die Freiheit Deutschlands werde in Sansibar verteidigt, hat sies nicht besser verdient.)

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Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, wenn die also in Sansibar ist, dann nur, weil der Deutsche Bundestag das so beschlossen hat.

Georg Löfflmann, Assistant Professor am Politics and International Studies (PAIS) department der University of Warwick, UK, hat in einem sehr langem Thread neulich dargelegt, wofür diese 100 Milliarden wohl ausgegeben werden. Was in dieser Auflistung komplett fehlt sind Tanklaster und LKWs - und damit sieht es in der Bundeswehr überhaupt nicht gut aus, wie mir jemand sagte, der sich damit bestens auskennt. Und auf die Logistik kommt es mehr als auf alles andere an.

Derjenige sagte zu mir seinerzeit übrigens auch, die Bundesregierung hätte auf die us-amerikanische Forderung, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato endlich zu erfüllen, ganz elegant damit beantworten können, dass sie zustimmt und sogar noch ein Prozent drauf legt und das ganze Geld in die Instandsetzung von all den maroden Straßen und bröckelnden Brücken hierzulande investiert hätte - mit dem Argument, die müssten schließlich ertüchtigt werden, damit Militärfahrzeuge wie Panzer darauf fahren können.

Was ich in Löfflmanns Auflistung auch nicht sah, war ein Posten für die Sanierung maroder Kasernen.

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Das freut mich, dass Sie auch gespendet haben. Ich verkaufte dafür neulich ein paar Bücher und CDs.

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Ich habe hier einen sehr über zeugenden Vortrag gehört und in der Folge auch mehrere Artikel in der "Republik" gelesen. Demnach habe ich wohl alles falsch eingeschätzt: Die erfreulich deutliche Reaktion des Westens auf Russlands Angriff auf die Ukraine, so schätzt das Herr Tooze ein, hängt damit zusammen, dass sich die Ukraine nicht einfach überrollen ließ, sondern eine russische Niederlage oder ein Patt doch in den Bereich des Möglichen gerät, sodass es sich für den Westen lohnt, helfend einzugreifen. Und wenn das stimmt, dann haben Sie mit Ihrer Befürwortung von Waffenlieferungen natürlich Recht, Frau arboretum. Und er meinte auch (oder wurde das in der Republik gesagt?), dass 100 Milliarden eine angemessene Größe sei für die sicher nötige Ertüchtigung der Bundeswehr (mir war die Zahl irrwitzig hoch vorgekommen, ich hab mich wahrscheinlich noch nicht an die Vermehrung der Geldmenge in den letzten Jahren gewöhnt).

Es ist schon ein Kreuz mit der Politik. Ich konnte meine Meinung nur ändern, weil ich Ferien hab und ein bisschen Zeit, mal hier und da zu schnobern und mir Informationen zusammenzusuchen. Normalerweise hat man nur sein politisches Grundwissen und sein ideologisches Gerüst - und beides hilft einem im Konkreten oft nicht weiter, auch wenn meines, das pazifistische, sicher nicht das schlechteste ist.

Daher fand ich es ein bisschen unfair, Frau arboretum, Ihr Einwurf, der Bundestag sei ja selber Schuld, wenn er die Bundeswehr nach Mali schickt. Denn der Bundestag hat das nur abgesegnet, die Idee kommt von woanders. Und leider finde ich gerade den Artikel nicht mehr, den ich neulich las und der ausdrücklich Mali erwähnte: Es ging um den Rückgang der Auslandsberichterstattung durch langjährige Korrespondenten, wodurch uns (und den Abgeordneten im Bundestag) oft auch tiefgreifende Informationen fehlen, und dann kommt noch der Fraktionszwang dazu.

Wie gesagt, ich kann das alles schon gar nicht beurteilen. Aber klar sein dürfte, dass der Umbau der deutschen Militärpolitik weg von der Landesverteidigung und hin zu internationalem Eingreifen ein schwerer Fehler war und auch von der Verfassung ... nun ja, in ihrer aktuellen Version vielleicht gerade noch gedeckt, aber auf keinen Fall so gewollt war. (Und an den Grundsätzen der Verfassung sollte sich der Bundestag doch mehr orientieren als am Willen der Fraktionen.)

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