Donnerstag, 6. Mai 2021
Historiker-Demenz, die zweite
Schon wieder eine spannende Aussage meiner Mutter, bei der sich aufgrund von Demenz der geistige Horizont immer weiter einengt, die aber innerhalb dieses eingeschränkten Blickfeldes erstaunlich wach und klar bleibt.

Ich hatte mir einen Artikel aus der FAZ ausgeschnitten, weil ich ihn spannend fand: Eine ukrainische Schriftstellerin erzählt von umgangssprachlichen Begriffen aus dem Wortschatz ihrer Eltern, die sie erst nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland und dem Deutschlernen erkannte: Diese deutsch klingenden Vokabeln sind jiddisch und verraten die nach dem 2. Weltkrieg verschwiegene Bedeutung des Judentums in der Gegend, in der sie groß wurde.

Meine Mutter sah den Artikel liegen, las interessiert die Überschrift "Zurik, oder es gibt eine Menge Zores! Wer brachte meinen Eltern dieses seltsame Vokabular bei?" und sagte: "Na sowas! Da wundert sich eine Ukrainerin, woher die deutschen Vokabeln bei ihren Eltern herkommen. Das Kindchen! Na, von den Nazis natürlich. Die haben doch da in der Ukraine ... Das weiß ich von meinem Vater, der war doch bei Dingler in der Personalabteilung und da hat er die Ukrainer zur Arbeit eingeteilt. Ich weiß noch genau: Wenn meine Mutter wieder mit dem Haushalt nicht zurande kam, weil eingekocht werden musste zum Beispiel, da hat er gesagt: Ach, sag doch einfach Bescheid, da schick ich dir mal die Tanja rüber ..."

Ich fand das interessant, weil mein Opa nach meinem bisherigem Kenntnisstand bei Dingler als Werbefachmann gearbeitet und nichts mit Zwangsarbeitern zu tun gehabt hatte. In diesem Zusammenhang ergibt sich sich auch ein ganz neuer Blick auf eine grausige Kindheitserinnerung, die meine Mutter schon öfter erzählt hat: wie sie nämlich zusammen mit ihrer Mutter irgendwas am Bahnhof zu besorgen hatte und wie da ein Güterzug am Gleis stand, aus dem Menschen nach Wasser riefen. Aber wie sie mit zwei Gläsern Wasser hingehen wollten, wurden sie von waffenfuchtelnden Soldaten zurückgetrieben. Und wie mein Opa, als die beiden weinend nach Hause kamen, seiner Frau wütend befahl, doch still zu sein: "Du weißt doch genau, was los ist! Und nur, weil dus einmal mit eigenen Augen siehst, brauchst du doch nicht zu heulen!"

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Nicht nur mich hat diese Erzählung beeindruckt, auch meine Mutter selbst: Sie hat in den folgenden Tagen viel von ihren Kindheitstagen in Zweibrücken erzählt, vor allem über "Rathgebers". Rathgeber war der Nazi, der 1933 meinem arbeitslosen Opa diese Stelle in seiner Firma verschafft hatte (Gegenleistung: NSDAP-Mitgliedschaft plus eine Stimmabgabe bei der Saarabstimmung). Meine Mutter erinnert vor allem, dass man da immer zum Kaffeetrinken antanzen musste in deren Villa und dass die die Rathgeber-Kinder so frech und arrogant zu ihr gewesen seien, so sehr, dass er Sohn durchmal mal eine Ohrfeige von seinem Vater einfing.
Heute sagt meine Mutter unvermittelt: "Fährst du nochmal nach Zweibrücken? Dann kann ich dir was mitgeben für den Jungen." "Welchen Jungen denn?" - "Na, von den Rathgebers. Für den geb ich dir eine Ohrfeige mit."

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