Montag, 8. Juli 2019
Der verrückte Klassensprecher
damals, 20:51h
Ich habe sicher schon öfter von ihm erzählt, aber so im Nachhinein, im Urlaub, gehen einem noch einmal die schrillsten Fälle durch den Kopf, und einen davon will ich hier aufschreiben. Obwohl bei mir, in einer Alphabetisierungsklasse für jugendliche Flüchtlinge, wo der Bodensatz derjenigen zusammengekehrt wird, die zu Hause nicht ordentlich zur Schule gingen oder gehen konnten, eigentlich jeder Fall irgendwie schrill ist: Da gab es z. B. die Somalierin, die schon als Kind aus Armutsgründen zur Tante nach Ägypten delegiert wurde, dort natürlich auch nicht zur Schule ging und schließlich, Jahre später, nach Deutschland weitergeschickt wurde. Da war an einen Hauptschulabschluss natürlich nicht zu denken, denn obwohl sie im Praktikum handfest (und umsichtig!) zupackte und auch im Politikunterricht interessiert und rege mit dabei war, ging es doch mit Lesen und Schreiben auch nach drei Jahren noch recht mühsam, und in Englisch ging rein gar nichts.
Genau aus diesem Grund gibt es ja die „Sprachersatzprüfung“, d. h. die Migranten dürfen anstatt Englisch ihre Herkunftssprache als Fremdsprache wählen für den Hauptschulabschluss. Aber welche sollte sie da wählen? Sie kann in keiner ihrer drei Sprachen (Somali, Arabisch, Deutsch) richtig lesen und schreiben.
Oder der andere Armutsflüchtling, der ägyptische, der dank Merkels Vereinbarung mit Al-Sisi alle zehn Tage seine Duldung verlängern muss, dem war das Minderwertigkeitsgefühl von seiner Herkunftsschule schon so eingeimpft, dass er sich nicht traute, die Sprachersatzprüfung auf Hocharabisch zu beantragen - bis er endlich irgendwann kapierte, dass er allemal besser Hocharabisch kann als deutsche Hauptschüler Englisch …
Ganz anders der verrückte Klassensprecher: Er erzählte jedem stolz, dass er sieben Sprachen spricht - allerdings tat er das immer gleichzeitig. Er ging die Dinge offensiv an, so konnte er sich am besten selbst vormachen, er habe die Kontrolle. So schaffte er es auch, dass die anderen ihn zum Klassensprecher wählten.
Sich auf irgendetwas konzentrieren konnte er allerdings nicht. Und da sich bei ihm nichts tat, machten die allmählichen Lernfortschritte der anderen ihm Angst, was sich in immer häufigeren Wutanfällen äußerte. Manche Lehrer hatten Angst vor ihm, manche Schüler auch.
Als er ein neues Handy hatte, ein iPhone, auf das er sehr stolz war, verborgte er sein Ladekabel gönnerhaft an deutsche Schüler, die ihre iPhones an den Normalo-Ladekabeln ihrer Mitschüler nicht geladen kriegten. (Sie kennen sicher das lästige Kompatibilitätsproblem mit den Apple-Geräten - meine Schulleiterin an der Designschule hatte einmal zwei Halbjahre hintereinander für Chaos in der Notenkonferenz gesorgt, weil der Adapter ihres schicken MacBooks partout nicht mit dem Beamer zusammenarbeiten wollte und die Notenlisten mündlich vorgetragen werden mussten.) Dann war Freitagmittag, er marschierte mit seinem iPhone ins Wochenende und hatte bald selbst keinen Strom mehr. (Dennoch, aber das war ein anderes Mal, telefonierte er abends lange mit seiner toten Mutter, wie mir die Betreuer erzählten.) Entsprechend tobte er am Montagmorgen wutentbrannt durch die Klassenräume und suchte sein Kabel.
Daraufhin weigerten sich die deutschen Schülerinnen, die er angeschrien hatte, weiter auf derselben Etage wie er unterrichtet zu werden. Eine Lehrerin, vor der er sich nach einer normalen Ermahnung stiernackig aufgebaut hatte, weigerte sich, noch länger in der Klasse zu bleiben. Und einer schicken Afghanin unterstellte er, ihn „Esel“ genannt zu haben, und verfolgte sie auf den Schulfluren mit wütenden Entschuldigungsforderungen. Dabei konnte er nur nicht ertragen, dass sie hübsch und gebildet war, obwohl sie aus demselben armen Land kam wie er. (Oder fand er sie einfach toll und ärgerte sich, von ihr übersehen zu werden?)
Nach den Tobsuchtsanfällen tat es ihm immer schrecklich leid und er entschuldigte sich in seinem Kauderwelsch wortreich bei mir als seinem Klassenlehrer. Eine Scheibe, die er in der Wut zerschlagen hatte, bezahlte er getreulich, anhand des Nebenjobs, den ihm der Vormund besorgt hatte. Zu Gegenüberstellungen mit seinen Kontrahenten war er aber emotional nicht in der Lage - ich hätte weitere Anfälle provoziert, das merkte ich schon.
Einmal zeigte er mir auf dem Handy seine „Freundinnen“ - die Alsterschwäne.
Als ein neuer Schüler in die Klasse kam, der sofort ägyptisch-machohaft eine Führungsrolle in der Gruppe beanspruchte, hatte er in dem Moment, in dem ich in der ersten kleinen Pausen kurz den Raum verließ, die Fäuste des Klassensprechers im Gesicht, und man sah sich erst vor Gericht wieder.
Was tut man mit so einem Schüler? Das fragten mich auch seine Klassenkameraden: ob es denn erlaubt sei, einen Verrückten zum Klassensprecher zu haben. Der Vormund brachte jedenfalls in Erfahrung, dass sein Mündel wegen genau solcher Vorfälle in Afghanistan keine Schule besucht hatte, und schickte ihn zum sozialpsychiatrischen Dienst. Der beurteilte ihn als schulfähig. Auch der Schulpsychologe, den ich kontaktierte, vermochte nur ein Fluchttrauma zu erkennen. Und wer bin ich, als Laie, hier psychiatrische Hilfe einzufordern?
Ich war ratlos. Aber zum Glück hatte ich einen pragmatischen Abteilungsleiter, der sich nicht nur formelrechtlich gut auskannte, sondern vor allem sah, dass hier ein Schüler begann, die ganze Abteilung zu demolieren. „Der Schulleiter hat mich ermahnt, dass es rechtlich nahezu unmöglich ist, einen Schüler auszuschulen, der das nicht will,“, erklärte er mir, „aber …“ Wer nach einem Jahr nicht alphabetisiert ist, kann nicht wie die anderen (die Somalierin schaffte es wie gesagt mit Ach und Krach) in die normale Flüchtlingsklasse wechseln in Richtung Schulabschluss und Ausbildung - also ab in eine andere Schule und nochmal von vorn.
Aber die, nicht dumm, nahm ihn nicht auf. Nach zwei Wochen hatten wir ihn wieder am Hals. Denn ein Über-18-Jähriger darf seine Schullaufbahn vollenden, sofern er das möchte. Und der verrückte Klassensprecher war wild entschlossen, seinen Abschluss zu machen, was auch immer er sich darunter vorstellte. Wieder half der Abteilungsleiter. Er sagte: „In dieses Gebäude hier kommt er mir nicht mehr, das kann ich nicht verantworten.“ und bastelte dem jungen Querkopf einen individuellen Schulplan zu wechselnden Uhrzeiten an einem Außenstandort der Schule. Der Plan ging auf: Der Eingeladene erschien nur sporadisch. Und ab 20 unentschuldigten Fehlstunden
kann dieses Verhalten als Ablehnung des Angebots zum freiwilligen Schulbesuch gelten …
Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich bin nur sicher, ein Psychiater wäre hilfreicher gewesen. Für alle Beteiligten.
P.S. Lustig in diesem Zusammenhang: Ein Bekannter, der interkulturelle Pädagogik studiert, erzählte mir neulich, dass folgende Idee in seinen Kreisen wissenschaftlich ernst genommen wird: Die Idee, alle Migranten müssten zuerst ordentlich Deutsch lernen, zeuge auch von nationaler Überheblichkeit - schließlich sei in vielen Wirtschaftszweigen das Englische Standard. Wie viel soziale Ignoranz brauch man eigentlich, um auf so eine Idee zu kommen?
Genau aus diesem Grund gibt es ja die „Sprachersatzprüfung“, d. h. die Migranten dürfen anstatt Englisch ihre Herkunftssprache als Fremdsprache wählen für den Hauptschulabschluss. Aber welche sollte sie da wählen? Sie kann in keiner ihrer drei Sprachen (Somali, Arabisch, Deutsch) richtig lesen und schreiben.
Oder der andere Armutsflüchtling, der ägyptische, der dank Merkels Vereinbarung mit Al-Sisi alle zehn Tage seine Duldung verlängern muss, dem war das Minderwertigkeitsgefühl von seiner Herkunftsschule schon so eingeimpft, dass er sich nicht traute, die Sprachersatzprüfung auf Hocharabisch zu beantragen - bis er endlich irgendwann kapierte, dass er allemal besser Hocharabisch kann als deutsche Hauptschüler Englisch …
Ganz anders der verrückte Klassensprecher: Er erzählte jedem stolz, dass er sieben Sprachen spricht - allerdings tat er das immer gleichzeitig. Er ging die Dinge offensiv an, so konnte er sich am besten selbst vormachen, er habe die Kontrolle. So schaffte er es auch, dass die anderen ihn zum Klassensprecher wählten.
Sich auf irgendetwas konzentrieren konnte er allerdings nicht. Und da sich bei ihm nichts tat, machten die allmählichen Lernfortschritte der anderen ihm Angst, was sich in immer häufigeren Wutanfällen äußerte. Manche Lehrer hatten Angst vor ihm, manche Schüler auch.
Als er ein neues Handy hatte, ein iPhone, auf das er sehr stolz war, verborgte er sein Ladekabel gönnerhaft an deutsche Schüler, die ihre iPhones an den Normalo-Ladekabeln ihrer Mitschüler nicht geladen kriegten. (Sie kennen sicher das lästige Kompatibilitätsproblem mit den Apple-Geräten - meine Schulleiterin an der Designschule hatte einmal zwei Halbjahre hintereinander für Chaos in der Notenkonferenz gesorgt, weil der Adapter ihres schicken MacBooks partout nicht mit dem Beamer zusammenarbeiten wollte und die Notenlisten mündlich vorgetragen werden mussten.) Dann war Freitagmittag, er marschierte mit seinem iPhone ins Wochenende und hatte bald selbst keinen Strom mehr. (Dennoch, aber das war ein anderes Mal, telefonierte er abends lange mit seiner toten Mutter, wie mir die Betreuer erzählten.) Entsprechend tobte er am Montagmorgen wutentbrannt durch die Klassenräume und suchte sein Kabel.
Daraufhin weigerten sich die deutschen Schülerinnen, die er angeschrien hatte, weiter auf derselben Etage wie er unterrichtet zu werden. Eine Lehrerin, vor der er sich nach einer normalen Ermahnung stiernackig aufgebaut hatte, weigerte sich, noch länger in der Klasse zu bleiben. Und einer schicken Afghanin unterstellte er, ihn „Esel“ genannt zu haben, und verfolgte sie auf den Schulfluren mit wütenden Entschuldigungsforderungen. Dabei konnte er nur nicht ertragen, dass sie hübsch und gebildet war, obwohl sie aus demselben armen Land kam wie er. (Oder fand er sie einfach toll und ärgerte sich, von ihr übersehen zu werden?)
Nach den Tobsuchtsanfällen tat es ihm immer schrecklich leid und er entschuldigte sich in seinem Kauderwelsch wortreich bei mir als seinem Klassenlehrer. Eine Scheibe, die er in der Wut zerschlagen hatte, bezahlte er getreulich, anhand des Nebenjobs, den ihm der Vormund besorgt hatte. Zu Gegenüberstellungen mit seinen Kontrahenten war er aber emotional nicht in der Lage - ich hätte weitere Anfälle provoziert, das merkte ich schon.
Einmal zeigte er mir auf dem Handy seine „Freundinnen“ - die Alsterschwäne.
Als ein neuer Schüler in die Klasse kam, der sofort ägyptisch-machohaft eine Führungsrolle in der Gruppe beanspruchte, hatte er in dem Moment, in dem ich in der ersten kleinen Pausen kurz den Raum verließ, die Fäuste des Klassensprechers im Gesicht, und man sah sich erst vor Gericht wieder.
Was tut man mit so einem Schüler? Das fragten mich auch seine Klassenkameraden: ob es denn erlaubt sei, einen Verrückten zum Klassensprecher zu haben. Der Vormund brachte jedenfalls in Erfahrung, dass sein Mündel wegen genau solcher Vorfälle in Afghanistan keine Schule besucht hatte, und schickte ihn zum sozialpsychiatrischen Dienst. Der beurteilte ihn als schulfähig. Auch der Schulpsychologe, den ich kontaktierte, vermochte nur ein Fluchttrauma zu erkennen. Und wer bin ich, als Laie, hier psychiatrische Hilfe einzufordern?
Ich war ratlos. Aber zum Glück hatte ich einen pragmatischen Abteilungsleiter, der sich nicht nur formelrechtlich gut auskannte, sondern vor allem sah, dass hier ein Schüler begann, die ganze Abteilung zu demolieren. „Der Schulleiter hat mich ermahnt, dass es rechtlich nahezu unmöglich ist, einen Schüler auszuschulen, der das nicht will,“, erklärte er mir, „aber …“ Wer nach einem Jahr nicht alphabetisiert ist, kann nicht wie die anderen (die Somalierin schaffte es wie gesagt mit Ach und Krach) in die normale Flüchtlingsklasse wechseln in Richtung Schulabschluss und Ausbildung - also ab in eine andere Schule und nochmal von vorn.
Aber die, nicht dumm, nahm ihn nicht auf. Nach zwei Wochen hatten wir ihn wieder am Hals. Denn ein Über-18-Jähriger darf seine Schullaufbahn vollenden, sofern er das möchte. Und der verrückte Klassensprecher war wild entschlossen, seinen Abschluss zu machen, was auch immer er sich darunter vorstellte. Wieder half der Abteilungsleiter. Er sagte: „In dieses Gebäude hier kommt er mir nicht mehr, das kann ich nicht verantworten.“ und bastelte dem jungen Querkopf einen individuellen Schulplan zu wechselnden Uhrzeiten an einem Außenstandort der Schule. Der Plan ging auf: Der Eingeladene erschien nur sporadisch. Und ab 20 unentschuldigten Fehlstunden
kann dieses Verhalten als Ablehnung des Angebots zum freiwilligen Schulbesuch gelten …
Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich bin nur sicher, ein Psychiater wäre hilfreicher gewesen. Für alle Beteiligten.
P.S. Lustig in diesem Zusammenhang: Ein Bekannter, der interkulturelle Pädagogik studiert, erzählte mir neulich, dass folgende Idee in seinen Kreisen wissenschaftlich ernst genommen wird: Die Idee, alle Migranten müssten zuerst ordentlich Deutsch lernen, zeuge auch von nationaler Überheblichkeit - schließlich sei in vielen Wirtschaftszweigen das Englische Standard. Wie viel soziale Ignoranz brauch man eigentlich, um auf so eine Idee zu kommen?
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