Sonntag, 25. November 2018
So war das, Teil 8
damals, 18:34h
Und dabei blieb es. Am nächsten Abend war Friedenskreis, wie jeden Mittwoch. Diesmal konnte auch Erik nicht kommen. Dabei war es spannend. Knut platzte fast vor Unruhe, und er kam gleich zum Thema. Viel musste er nicht erklären, von den Verhaftungen hatten alle gehört. Aber niemand hatte geahnt, dass wir hier hinten in der Provinz da etwas tun konnten. Dabei war es so einfach: Man musste nur aufhören sich wegzuducken. Anfangen den Mund aufzumachen. Wir waren es nur noch nicht gewohnt. Mühsam begannen wir, einen Text zu formulieren, und je länger wir daran saßen, desto schneller kamen die Ideen. Ab und an half Knut, ungeschickte Formulierungen zu ändern. Manches war ihm zu direkt gesagt, anderes wiederum zu untertänig. Er hatte da die Erfahrung. Er war auch derjenige, der wusste, an wen wir eigentlich schreiben müssten, nämlich an die Eingabe-Stelle des Innenministeriums – da war mehr Aussicht auf Beachtung, als wenn wir gleich an Erich Honecker geschrieben hätten, wie manche von uns zuerst dachten. Nach gut zwei Stunden waren wir fertig und unterschrieben alle. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, während ich den Stift in der Hand hatte, aber danach, als ich meine Unterschrift da stehen sah, war mir wohl wie nie zuvor.
Also machte ich, was ich immer machte in solchen Situationen: Ich verließ die Gruppe, um draußen allein durch die dunklen Straßen zu streichen und das Gefühl zu genießen. Merseburg ist schön, sagte ich mir, als ich die Kleine Ritterstraße langging. Die Straße war menschenleer, ich konnte mitten auf der Fahrbahn gehen. Links und rechts die Häuser, kaum noch irgendwo ein Fenster erleuchtet, sie wirkten so friedlich, so intakt, sie ruhten so in sich, als hätten sie immer hier gestanden und würden immer hier stehen. Nein, Merseburg war stark. Sie würden nicht alles abreißen. Es würde sich etwas ändern.
In der Bahnhofstraße huschte etwas Dunkelhaariges an mir vorbei. "Kerstin!", rief ich. Sie war es tatsächlich. Stoppte und sah sich mit verirrtem Blick um. "Ach, du bist's.", sagte sie dann. "Warum musst du mich denn so erschrecken?" Ich begleitete sie ein Stück und sie taute zusehends auf, und ich sah ihr dabei zu, wie sie wuchs und sich mit Leben füllte. Nach 200 Metern war sie ganz die Kerstin, deren Charme ich so mochte. "Ich komm von der Volkshochschule." sagte sie und plauderte ein bisschen über die skurrilen Typen, mit denen sie da den Kurs im Aktzeichnen besuchte. „Die Möchtegernkünstler von Merseburg! Mit ihren Schnauzbärten und ihrem vernuschelten Sächsisch ...“ - „Warum gehst du dann hin?“ fragte ich (das mit dem Sächsisch hatte mich angepiekst, schließlich sprach ich es auch). „Du musst doch nicht.“ Kerstin sah mich groß an, machte eine abwehrende Geste. Einen Augenblick war es still. „Ich will was lernen.“, erwiderte sie dann. „Ich bin jetzt hier. Ich werde noch drei Jahre hier sein, und ich werde die Zeit nutzen.“ Sie stockte einen kleinen Moment, ihre Augen wirkten angriffslustig. Ich nahm sie sanft beim Arm. Sie lächelte. „Du hast Recht, jetzt ist Feierabend. Jetzt muss ich gar nichts mehr ... Weißt du", meinte sie dann und sah in den Nachthimmel, "jetzt müsste Sommer sein und noch ein bisschen Abendrot, und hier an der Ecke wär dann ein Straßencafé. Da könnten wir sitzen, ein Glas Wein trinken und gucken, ob schon Sterne zu sehen sind." - "Wir sind in Merseburg, Kerstin", sagte ich, ich war noch ein wenig grummelig, "es ist dunkel, und 'Die Rebe' hat mittwochs geschlossen. Aber wir können am Bahnhof eine Flasche Wein kaufen und uns hier auf eine Parkbank setzen." – „Mario!“ Sie sah mich strafend an. "Wie die Penner am Früh-und-Spät-Verkauf? Nein, nicht auf die Parkbank. Ich will nach Hause. Aber wenn du mich lieb bittest, kannst du mitkommen."
So war das damals, da war nichts zu machen. Also kauften wir die Flasche Wein und gingen untergehakt zum Studentenwohnheim. Unterwegs fingen wir zu knutschen an, denn darum ging es ja. Es verwunderte mich auch nicht, dass Kerstins Zimmergenossinnen beide nicht da waren an diesem Abend. Aber als wir halb ausgezogen in ihrem Bett lagen, ging es irgendwie nicht weiter. Kerstin verkrampfte sich, und ich – war davon genervt. „So geht das nicht.“, sagte Kerstin endlich. Ich richtete mich auf, regelrecht erleichtert, und nahm mir noch einen Schluck Wein. Kerstin sah mich verstört an, sie schien nicht weiter zu wissen. „Ich bin müde.“, sagte sie, obwohl sie gar nicht so wirkte. Ich durfte also gehen. Und diese Ansage, diese Erlaubnis löste irgendeine Sperre in mir, plötzlich durchflutete mich eine Welle der Zärtlichkeit für Kerstin, wie ich sie niemals vorher – und auch später nie mehr – erlebte. Ich nahm sie in den Arm und küsste sie und sie erwiderte das und wir sanken zurück und blieben noch lange so liegen, ohne Worte, ohne Bewegungen, ineinander verschlungen. „Mehr geht nicht.“, sagte ich, als ich ging. „Aber ich hab dich lieb. Sehr.“
Also machte ich, was ich immer machte in solchen Situationen: Ich verließ die Gruppe, um draußen allein durch die dunklen Straßen zu streichen und das Gefühl zu genießen. Merseburg ist schön, sagte ich mir, als ich die Kleine Ritterstraße langging. Die Straße war menschenleer, ich konnte mitten auf der Fahrbahn gehen. Links und rechts die Häuser, kaum noch irgendwo ein Fenster erleuchtet, sie wirkten so friedlich, so intakt, sie ruhten so in sich, als hätten sie immer hier gestanden und würden immer hier stehen. Nein, Merseburg war stark. Sie würden nicht alles abreißen. Es würde sich etwas ändern.
In der Bahnhofstraße huschte etwas Dunkelhaariges an mir vorbei. "Kerstin!", rief ich. Sie war es tatsächlich. Stoppte und sah sich mit verirrtem Blick um. "Ach, du bist's.", sagte sie dann. "Warum musst du mich denn so erschrecken?" Ich begleitete sie ein Stück und sie taute zusehends auf, und ich sah ihr dabei zu, wie sie wuchs und sich mit Leben füllte. Nach 200 Metern war sie ganz die Kerstin, deren Charme ich so mochte. "Ich komm von der Volkshochschule." sagte sie und plauderte ein bisschen über die skurrilen Typen, mit denen sie da den Kurs im Aktzeichnen besuchte. „Die Möchtegernkünstler von Merseburg! Mit ihren Schnauzbärten und ihrem vernuschelten Sächsisch ...“ - „Warum gehst du dann hin?“ fragte ich (das mit dem Sächsisch hatte mich angepiekst, schließlich sprach ich es auch). „Du musst doch nicht.“ Kerstin sah mich groß an, machte eine abwehrende Geste. Einen Augenblick war es still. „Ich will was lernen.“, erwiderte sie dann. „Ich bin jetzt hier. Ich werde noch drei Jahre hier sein, und ich werde die Zeit nutzen.“ Sie stockte einen kleinen Moment, ihre Augen wirkten angriffslustig. Ich nahm sie sanft beim Arm. Sie lächelte. „Du hast Recht, jetzt ist Feierabend. Jetzt muss ich gar nichts mehr ... Weißt du", meinte sie dann und sah in den Nachthimmel, "jetzt müsste Sommer sein und noch ein bisschen Abendrot, und hier an der Ecke wär dann ein Straßencafé. Da könnten wir sitzen, ein Glas Wein trinken und gucken, ob schon Sterne zu sehen sind." - "Wir sind in Merseburg, Kerstin", sagte ich, ich war noch ein wenig grummelig, "es ist dunkel, und 'Die Rebe' hat mittwochs geschlossen. Aber wir können am Bahnhof eine Flasche Wein kaufen und uns hier auf eine Parkbank setzen." – „Mario!“ Sie sah mich strafend an. "Wie die Penner am Früh-und-Spät-Verkauf? Nein, nicht auf die Parkbank. Ich will nach Hause. Aber wenn du mich lieb bittest, kannst du mitkommen."
So war das damals, da war nichts zu machen. Also kauften wir die Flasche Wein und gingen untergehakt zum Studentenwohnheim. Unterwegs fingen wir zu knutschen an, denn darum ging es ja. Es verwunderte mich auch nicht, dass Kerstins Zimmergenossinnen beide nicht da waren an diesem Abend. Aber als wir halb ausgezogen in ihrem Bett lagen, ging es irgendwie nicht weiter. Kerstin verkrampfte sich, und ich – war davon genervt. „So geht das nicht.“, sagte Kerstin endlich. Ich richtete mich auf, regelrecht erleichtert, und nahm mir noch einen Schluck Wein. Kerstin sah mich verstört an, sie schien nicht weiter zu wissen. „Ich bin müde.“, sagte sie, obwohl sie gar nicht so wirkte. Ich durfte also gehen. Und diese Ansage, diese Erlaubnis löste irgendeine Sperre in mir, plötzlich durchflutete mich eine Welle der Zärtlichkeit für Kerstin, wie ich sie niemals vorher – und auch später nie mehr – erlebte. Ich nahm sie in den Arm und küsste sie und sie erwiderte das und wir sanken zurück und blieben noch lange so liegen, ohne Worte, ohne Bewegungen, ineinander verschlungen. „Mehr geht nicht.“, sagte ich, als ich ging. „Aber ich hab dich lieb. Sehr.“
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