Montag, 31. Juli 2017
Verwunschen
Mal wieder zu Gast bei den alten Eltern, ich durfte eine vorsichtige Bereinigung des Kellers in Angriff nehmen, und so brachte ich die dreißig nutzlosesten der leeren Einmachgläser zum Glascontainer, ich war auch ermächtigt, die längst alt gewordenen selbstgemachten Apfelsaftflaschen zu entleeren und – obwohl die Zusage meinem Vater sichtlich schwer fiel - den alten, kaputten Röhrenfernseher zum Recyclinghof zu bringen.
Der schönste Lohn für diese Arbeit, das waren die seltsamen Artefakte, die ich dabei nebenbei zutage förderte und auf ihrem letzten Gang begleitete:

Nun ja, optisch interessant verschimmelte Kompottgläser (Johannisbeeren 1981, angebrannt)
und die eine oder andere Saftflasche, in der verdächtige Nebelwolken ziehen, die gibt es in anderen alten Kellern sicher auch, aber eine halbleere Waschpaste EVP 1,60 M und ein Tomatensaft „Havelland“ mit dem Ablaufdatum Juni 1973, das ist doch schon was.



Und dann fand ich sogar die Lieblingssüßigkeiten meiner Kindertage „Zuckerrübensirup aus Zörbig“ und „Warenje“, die supersüße Beerenkonfitüre aus dem „Magazin“, dem russischen Laden hinterm Kasernentor, wo wir auch unsere Streichhölzer zu kaufen pflegten, die der Konsum uns Kindern verweigerte!

Und als I-Tüpfelchen fanden wir heute Morgen eine Fledermaus, die friedlich in der Gardine an der Haustür schlief. Verwunschenes Potsdam!

Verwunschen sind übrigens auch die Eltern, die ihre Wohnung fast nur noch zum Einkaufen verlassen und von der äußeren Welt nur wahrnehmen, was ihnen die FAZ ins Haus meldet (und was sie durch die Bank schrecklich finden). Sie sind darüber hinaus auch auf das „ND“ abonniert, aus alter Treue, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie es lesen – ganz im Gegensatz zur TV Spielfilm, die sie eifrig durchforsten. Sie haben auch einen Festplattenrecorder und nehmen fleißig auf, allerdings grundsätzlich nur Filme, die vor 1950 erschienen sind, also vor der Zeit, in der sie als erwachsene Wesen in die Welt gingen.
Und in der Tat: Befrag sie zu politischen Ereignissen oder ästhetischen Entwicklungen von 1910 oder 1930 – du wirst von ihnen noch immer glasklare, kluge und lebendig engagierte Äußerungen hören, als sei all das gestern geschehen. Man sagt von manchen alten Leuten, sie gingen im Alter in ihre Kindheit zurück – meine Eltern tun mehr als das.

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Wie geht es Ihren Eltern derzeit? Gibt es Nachbarn, die sie unterstützen?

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Danke der Nachfrage: Ja, seit ein paar Jahren haben sie endlich richtig nette Nachbarn (Wessis, die sich als "alte 68er" bezeichnen), die jetzt in der Coronakrise ungefragt anboten, die Einkäufe zu übernehmen. Sowas gibts auch. Außerdem kommt jeden Morgen einmal kurz der Pflegedienst.

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Wie gut. Sie haben vermutlich derzeit schon genug Sorgen. Halten Sie jetzt Online-Kurse oder wie geht es für Sie weiter?

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Ja, online. Muss man sich ein bisschen reinfisseln, ist aber machbar und mir ist noch nicht klar, ob und wie das über längere Zeit funktionieren kann. Aber das betrifft ja alles andere auch. Ansonsten: Sorgen eher wenig, als jemand, dessen Gehalt weiter läuft und dessen Arbeit online machbar ist, gehört man ja zu den Glücklichen. Sicher macht es ein bisschen Angst, wie da so ein Unheil unvermeidlich auf das Land zurollt, aber persönlich reicht es ja, wenn man sich nicht ansteckt und für den Fall des Falles das Immunsystem fit erhält. Unsere Großeltern, die den Sommer 1939 erlebt haben, mit kleinen Klindern, die würden über unsere Sorgen lachen.

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Ich glaube, der Januar 1945 war für meine Großmutter noch schlimmer als der Sommer 1939, dito die Hungerjahre danach. Als Kind überlebte sie den Steckrübenwinter 1917, die Spanische Grippe kam auch nach Niederschlesien.

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Meine beide Großeltern sind durch die Nachkriegshungerjahre verhältnismäßig gut, aber natürlich auch ziemlich hungrig durchgekommen. Mit dem Sommer 1939 meinte ich den suspense-Effekt, das Wissen, dass der Krieg in allernächster Zeit auf einen zukommt, und was Krieg bedeutet, wussten sie nun wirklich (allerdings nicht, dass dieser noch schlimmer werden sollte als der vorige).

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