Dienstag, 14. Juni 2016
Kapitalismus verdirbt den Charakter ...
... und zwar sowohl der realsozialistische Kapitalismus wie auch der westlich-demokratische – insofern ist es völlig egal, ob die chinesische Wirtschaft künftig den Titel „Marktwirtschaft“ tragen darf: Denn wieso sollten kapitalistische Dumping-Tricksereien im Namen des Staatssozialismus gefährlicher sein als dieselben Tricksereien, wenn sie nur unter dem Label „Marktwirtschaft“ firmieren?
Na ja, das ist aber große Politik, das sollen Leute entscheiden, die sich dazu berufen fühlen. Ich berichte lieber aus meinem kleinbürgerlichen Umfeld, und da ist es eindeutig, was dieses Wirtschaftssystem anrichtet: Es bewegt nämlich Menschen, ihr persönliches Glück, ihren persönlichen Stolz herzugeben für irgendwelche finanziellen Interessen, die in der Regel auch nicht zu nennenswertem Reichtum und schon gar nicht zu einem lebenswerten Leben verhelfen.
Beispiel 1: Ein Ossi-Schicksal, wie es im Buche steht. Er übte in der DDR einen staatsnahen Beruf aus, 1990 arbeitslos, Umschulung zum BWLer, so sein Bericht. „Und was machst du jetzt so beruflich?“ fragt einer aus der bierseligen Männerrunde. „Für die Kapitalisten das Geld zählen!“ kommt prompt und zähneknirschend die Antwort voll unterdrückter Aggressivität. Ein unglücklicher Mensch. Warum tut er sich das an, die Tätigkeit, wenn er sie hasst? Ich fürchte, weil er glaubt, sich verleugnen zu müssen, um Geld zu verdienen.
Beispiel 2: Diesmal ein eher familiärer Kreis. Mehrere Elternpaare mit Einzelkindern. Eine Mutter berichtet, dass sie just ihren Job verlor, kurz bevor die Tochter aufs Gymnasium kam, und da ihr Mann sehr gut verdient, ließ sie sich halt Zeit mit dem Finden einer neuen Arbeit, stand der Tochter bei beim Übergang in die neue Schule und fing erst kürzlich wieder an zu arbeiten. Darauf eine andere Mutter hinter vorgehaltener Hand und voller Neid: „Na ja, wenn da so viel Geld da ist, da kannst du natürlich viel mehr rausholen aus deinem Kind.“ Rausholen?! Ich fass es nicht. Wie kann jemand, der selber Mutter ist, sich selbst so sehr entwerten und mütterliche Liebe und Fürsorge (wie auch immer man diese bewertet) als profitorientierte Produktentwicklung missverstehen?!
Wie gesagt: Kapitalismus verdirbt den Charakter.

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Wieso missverstehen? Ist es nicht gerade ein Zeichen von (systemkonformer) Fürsorge und Liebe, wenn man dem Nachwuchs hilft, soziales Kapital in Form von schulischem Erfolg/Bildung zu akkumulieren? Und wäre es nicht eine Art von Vernachlässigung, es nicht zu tun? Schließt sich das mit Liebe und Fürsorge im nichtkapitalistischen Sinne völlig aus, dem Kind alle mögliche Unterstützung für den Schulalltag zukommmen zu lassen?

Man kann das natürlich bekloppt finden, aber ich sehe mittlerweile, dass das Schulsystem hier schon so drauf angelegt ist, dass die Eltern nicht zu knapp Unterstützung geben. Ohne permanentes Monitoring, enge Führung und tatkräftige Unterstützung bei Referaten und Projektarbeiten ist notenmäßig dauerhaft nur Mittelmaß drin, wenn man nicht gerade superbrilliante Überfliegerkids hat.

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Natürlich ist es ein Zeichen von Fürsorge, wenn man dem Nachwuchs die Möglichkeit gibt, soziales Kapital in Form von Erfolg und Bildung zu akkumulieren. Daran ist nichts Verkehrtes. Ein Kind braucht Möglichkeiten, so viel und so gute wie möglich.
Das Entscheidende sind aber (darin denke ich nach wie vor marxistisch) die Besitzverhältnisse: Wenn die Mutter die Vorstellung hat, dass sie aus dem Kind etwas "herausholen" kann, dann sieht sie sich als Besitzerin des Kindes dazu veranlasst, aus ihrer Investition in ihren Besitz Kapital zu schlagen. Das ist, streng genommen, Missbrauch.
Es steht dem Kind selbst natürlich frei, kapitalistisch zu denken, und kein Elternteil darf böse sein, wenn das Kind (wie damals jr. schon im Kindergarten) den Berufswunsch "Geschäftsmann" äußert oder umsetzt. Eltern müssen dem Kind dabei sogar helfen. Allerdings gibt es noch jede Menge anderer Lebensentwürfe, die dem Kind vielleicht gefallen könnten: Mönch im Tibet oder am Athosberg z.B., freischaffender Künstler, Green-Peace-Aktivist, Kindergärtner, Faulenzer, Dandy und und und. Auch für die gilt es das Kind fit zu machen, da braucht es mehr als schulische Bildung.
Von außen sieht man den Unterschied oft nicht - umso wichtiger ist es, ihn zu betonen: elterliche Unterstützung als Investition - igitt, dieselbe Unterstützung als Geschenk - ein kostbares Gut.

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Die Wortwahl mit dem "herausholen" stößt mir natürlich auch auf, aber ich würde in diesem Kontext Leistung aus dem Kind herausholen nicht 1:1 deckungsgleich sehen mit Kapital aus dem Besitz schlagen, wenngleich es da Schnittmengen geben mag.

Wir haben es nicht in der Hand, welche Lebensentwürfe unsere Lütten mal wählen, mehr als dafür zu sorgen, dass möglichst viele verschiedene Optionen zur Verfügung stehen, können wir streng genommen nicht tun. Und während die Optionen Faulenzer oder Straßenmusiker keine besonderen Qualifiktionen und Anstrengungen erfordern, ist beispielsweise ein Medizin-Studienplatz schon an ein gewisses Maß an schulischer Leistung gebunden, und obschon ich keinerlei Wert drauf lege, Töchterlein dereinst mal im weißen Kittel zu sehen, will ich auch nicht, dass sie sich diese Option von vornherein verbaut.

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Ja, schön, wie nah wir beieinander sind, obwohl die Schwerpunkte anders liegen. Sicher, es gibt nicht wenige Lebensentwürfe, für die ein guter Schulabschluss und evtl. auch die Fähigkeit "zu büfffeln" unabdingaber sind. Aber auch der Faulenzer und der Straßenmusiker müssen einiges aushalten können. Mein bester Freund - von den gutbürgerlichen Eltern wurden ihm durchaus Leistungsfähigkeit und Leistungsorientierung mitgegeben - schlug den Weg eines Punk-Gitarristen ein und scheiterte letztendlich, obwohl einige Zeit wirklich nicht erfolglos, daran, den schnellen, hart erkämpften Erfolg zu einem Lebenskontinuum zu machen, einfach weiterzumachen, durchzuhalten, auch wenn man nicht Blixa Bargeld wurde oder eine deutsche "Gang of Four" gründete. Aber was red ich: dieslbe Fähigkeit braucht doch auch der erfolgreiche Arzt, letztendlich.
... vielleicht nörgl ich auch bloß rum, weil meine Eltern genauso wie die vom meinem Freund in der Erziehung zu sehr nur auf schulische Bildung gedrillt haben. Na ja. Ein Kind braucht so viel - alles, was nötig wäre, schafft wohl keiner zu geben.

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