Freitag, 18. November 2011
Gegen das Vergessen
Nach ein paar Tagen des üblichen Ensetzens über die Rechtsterroristen und ihre V- und Verfassungsschutzfreunde (das diesmal auch mich erfasst hatte) beginnt jetzt offenbar die notwendig folgende Phase des Nicht-mehr-wissen-Wollens: Heute Morgen im Deutschlandfunk schob der SZ-Journalist Hans Leyendecker alles auf die Polizei ("Ermittlungsfehler" war sein Lieblingswort) und Innenminister Friedrich meinte, der Verdacht gegen den Verfassungsschutz sei "gestreut" worden, als säßen die eigentlichen V-Leute in den Medien.
Nun, ein Verdacht, der gestreut wurde, der lässt sich ja auch wieder zerstreuen, dazu wäre nichts weiter nötig, als die Wahrheit offenzulegen: Denn selbst wenn die nicht erfolgte Festnahme der drei Terroristen und ihr Untertauchen 1998 tatsächlich nur auf eine Fehlentscheidung der Polizei zurückzuführen sein sollten (wie Leyendecker sagt), bleiben noch einige Fragen: Warum hat der Verfassungsschutz nicht an die Ermitltungsbehörden gemeldet, dass Holger G. aus Niedersachsen nach einer Fluchtmöglichlkeit die Untergetauchten suchte? Wie kamen die Täter zu den professionell gefälschten Ausweisen? Was wollte der Verfassungsschutz-Mann am Tatort des Mordes 2006 in Kassel? Und warum mordeten die Täter nach dessen vorübergehender Festnahme nicht weiter? Warum kontaktierte im Sommer diesen Jahres ein V-Mann
die Ermittler mit einer Geschichte über die Tatwaffe? Und wie kam es überhaupt jetzt zu diesem merkwürdigen Selbstmord?
Für all das mag es Erklärungen geben. Nur: Ich will sie hören!

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Nachdem ich das
anfänglich arg verschlafen hatte, höre und sehe ich seit einiger Zeit genauer hin. Aber Erklärungen wollen nur wenige abgeben. Lediglich einige Befragte weisen darauf hin, daß dies ein Zustand ist, der nicht alleine im Osten wurzelt (von den nationalistischen, «patriotischen» Bewegungen von Nord nach West bis Süd mal abgesehen). Woran liegt's? Zuwenig Geschichtsunterricht?

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Zuwenig Geschichtsunterricht?

Glaube ich weniger. Im Osten: Zu viel verordnetes Gedenken ohne wirkliche Aufarbeitung der zugrundeliegenden Strukturen. Überall: Zuviel innere Unsicherheit, zuviele äußere Feindbilder, zuwenig (sinnvolle) Arbeit, zuwenig Orientierung, zu viel Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit, zu viel Rechts in der sogenannten Mitte, zu viel Gefühl des ewigen Zu-Kurz-Kommens.

Auf die Erklärungen bin ich auch mal gespannt.

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Da könnten Sie Recht haben. Ich sehe das Problem aber gar nichts in der Existenz des Rechtsradikalismus, der ist nunmal da so wie manches andere Hässliche auch. Ich finde sogar, dass jetzt über den Rechtsradikalismus an sich zu diskutieren vom eigentlichen Problem ablenkt. Was ich nämlich verschlafen habe, das ist, diesen unglaublichen V-Leute-Sumpf ernst zu nehmen. Ich hatte bisher naiverweise angenommen, dass das V-Leute-Unwesen halt darin besteht, dass vom Staat bezahlte Leute ein bisschen rechtsradikal spielen und dass diese ganze NPD ein Witzverein ist, der nur dazu dient, Protestwähler abzuschöpfen und die Wichtigkeit des Verfassungsschutzes zu unterstreichen - ungefähr so, wie das Gorillaschnitzel jüngst in einer schönen Grafik dargestellt hat. Und dass die echte rechte Gewalttätigkeit, von der wir alle wissen, anderswo ihre Basis hat.
Nun zeigt sich, dass es umgekehrt ist: Nicht Verfassungsschützer spielen rechtradikal, sondern Rechtsradikale spielen Verfassungschützer. Und die Gewalttaten gehen doch von diesem NPD-Funktionär-V-Leute-Mix aus und die Steuergelder wurden nicht nur für ein propagandistisches Witztheater verwendet, sondern auch, um gewaltttätige Strukturen aufzubauen, Mörder zu schützen und Polizeiarbeit zu behindern. Das finde ich das Entsetzliche.

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Wenn man alles vertuschen will, gründet man am besten eine Behörde
Die NZZ bringt es (in einem Kommentar Ulrich Schmids von heute, den ich online leider nicht gefunden habe) mal wieder auf den Punkt: ""Statt sich zu fragen, wie es kommen konnte, dass rechtsextreme Gewalttäter trotz intensivster Beschattung mordend durchs Land ziehen können, und statt rigoros gegen die offensichtlich zahlreichen Mitarbeiter in den Sicherheitsdiensten vorzugehen, die mit der rechtsextremen Szene sympathisieren, richtet man Arbeitsgruppen ein, die hinter Hellraumprojektoren so lange tagen werden, bis man sie vergessen hat."

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Einige Menschen in Jena waren kein bisschen überrascht, die hatten mit den Typen schon Anfang der 1990er "einschlägige" Bekanntschaft machen müssen. Und wurden von der Polizei wenig ernst genommen. Nachzulesen im Tagesspiegel vom 18. November 2011:

An den Rand gedrängt


Die Fragen, die sich diese Leute schon seit Jahren stellen, sind übrigens dieselben.

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Langsam kommen sie ja, die Erklärungen:
"NSU-Terroristen waren keine V-Leute" - diese Formulierung ist für die Tagesschau heute also schon eine Schlagzeile. Also, wenn man das extra noch betonen muss ...
Auch ansonsten kommt ja inzwischen stückchenweise etwas mehr von der Wahrheit ans Licht: Es standen "nur" 35 von 150 Mitgliedern des Thüringer Heimatschutzes im Dienst des Verfassungsschutz. Der hessische Verfassungschutzmann war doch am Tatort, als der Kasseler Internetcafé-Betreiber erschossen wurde, nur ist ihm von dem Mord nichts aufgefallen. In Untersuchungshaft sitzt er ebensowenig wie André E., der die untergetauchten Terroristen zwar mit Bahncards versorgt hat, aber angeblich nicht wusste, dass er damit Terroristen unterstützt. Und warum ist eigentlich Helmut Roewer noch auf freiem Fuß, der seinen eigenen rechten Buchverlag aus Verfassungschutzgeldern finanzierte und seine Heimatschutz-Leute immer ausführlich über geplante Polizeiaktionen informierte?
Kurz: Die ganze Sache bleibt zwar abstrus, die Ausreden nähern sich aber offenbar deutlich der Wahrheit an. Liebe Journalisten, liebe Ermittlungsauschuss-Mitglieder - lasst nicht locker! Damit die Tagesschau ihre Schlagzeilen noch ein paar Mal überarbeiten kann!

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