Donnerstag, 9. September 2010
Jeder kehre vor seiner Tür
damals, 02:20h
Eigentlich wollte ich mich nicht zur Sarrazin-Debatte äußern. Ich hatte keine Lust, seine Thesen nun genau zu prüfen. Ob die Statistiken, die er zitiert, nun frei erfunden, manipuliert oder nur kühn interpretiert sind, das im Einzelnen nachzuprüfen, macht keinen Spaß. Da gibt es Journalisten, die dafür bezahlt werden nachzurecherchieren, und das haben Sie ja auch getan.
Was ich zur allgemeinen Diskussion beitragen kann, sind meine eigenen Erfahrungen mit Migranten, Erfahrungen eines Deutschen, wie er deutscher nicht sein könnte, und vor allem: Erfahrungen von Angesicht zu Angesicht und nicht aus der Vogelperspektive, wie sie Politiker und Statistikenbefrager bevorzugen und aus der die Betroffenen meist recht klein erscheinen.
Dass ich also so eine „Kopftuchfrau“ zum ersten Mal aus nächster Nähe gesehen habe, ist noch gar nicht so lang her. Mein Sohn war anderthalb, meine Frau wollte wieder zu arbeiten anfangen und wir suchten eine Tagesmutter. Nach einigem Zögern entschieden wir uns für eine Türkin. Die Alternative wäre eine etwas schmuddelige Deutsche gewesen oder eine perfekt durchorganisierte Zehn-Kinder-Einrichtung, die so sehr nach „KITA“ roch, dass es einfach gar nicht ging. Das ging im Februar los, es schneite manchmal und ich musste mein Kind zu halb acht früh per Fahrrad nach Ottensen kutschieren, wo Frau Z. im Morgenmantel die Tür öffnete und den Kleinen übernahm. Erst später, als einiges Vertrauen gewachsen war, gestand sie, dass dann immer seine kalten Händchen an den Busen nahm und nochmal mit ihm ins Bett verschwand, bis die anderen Kinder kamen. Frau Z. war super, obwohl sie nur so viel Deutsch radebrechen konnte, wie sie von den Tageskindern lernte. Die Skepsis aus unserem Umfeld („Gerade jetzt in der so wichtigen Phase der frühkindlichen Sprachentwicklung!“) erwies sich als unbegründet: Mein Sohn (2. von rechts) hat sehr gut Deutsch gelernt – und sein frühkindliches Türkisch (er konnte mehr als drei Sorten Börek unterscheiden) hat er leider schon völlig vergessen.
Und diese Frau soll eine Gefahr für Deutschland sein? Es gab nun mal nicht genug Arbeit in der Türkei damals. Ihr Mann fand einen guten Job in Hamburg (den er bis heute inne hat), da hieß es für sie mitkommen und Kinder großziehen. Natürlich hatte sie Sehnsucht nach zu Hause. Als sie sehr krank wurde, dachte ich sogar, dass es diese Sehnsucht war, die fast hat sterben lassen. Übrigens: Ihre Tochter erzählte, dass der Notarzt, als sie ihn rufen musste, zuerst überzeugt war, natürlich wieder zu so einer weinerlich-depressiven Türkin geholt zu werden. Erst als er vor ihr stand, wusste er, dass es um Leben und Tod ging. Diesen Blick – von Angesicht zu Angesicht – würde ich auch Herrn Sarrazin empfehlen.
Natürlich gibt es auch andere. Es gibt Leute, die aus derselben Verlegenheit heraus, in Deutschland zu sein und in Deutschland isoliert zu sein, nicht auf die Idee kommen, Tageskinder aufzunehmen, sondern sich – was näher liegt – zu gekonnten Sozialgeldempfängern und -ertricksern entwickeln. Und Leute, die anfangen Deutschland zu hassen. Meistens sind das dieselben.
Ich erinnere mich an einen Mann (aus Afghanistan), der Frau und Schwiegertochter zu mir in den Kurs schickte. Die beiden Frauen teilten sich in die Betreuung eines Babys – die Mutter kam vormittags, die Großmutter nachmittags – er selbst kümmerte sich um die Formalien, Bescheinigungen usw., sein Schwiegersohn arbeitete. Jetzt war die Großmutter (deren Kurs noch nicht begonnen hat) krank, also kann die Mutter nicht zur Schule kommen. Ich sage zu ihm: „Bringen Sie mir eine Krankschreibung Ihrer Frau. Das genügt.“ Darauf er: „Nein, das ist zu kompliziert.“ Und erscheint am Folgetag mit einer Krankschreibung für seine absolut gesunde Schwiegertochter. Diese selbe Schwiegertochter hat übrigens später den Termin für die schriftliche Prüfung verschlafen. Ich sage zu ihr: „Warum sind Sie nicht zur Prüfung gekommen?“ – „Mein Mann hat mir nicht gesagt, dass Prüfung ist.“ Na super! Ich: „Entweder Sie legen mir eine gültige Krankschreibung vor oder Sie bezahlen die Prüfungskosten. Das sind 95 Euro.“ Sie: „Kein Problem.“ Und zückt einen 50-Euro-Schein. Die Frau hat in einem Jahr Deutschunterricht nicht begriffen, dass 50 Euro weniger als 95 Euro sind. Weil sie nicht mit Geld umgehen darf. Weil ihr Mann ihr gesagt hat: Wenn es Probleme gibt, zückst du diesen Schein. Da krieg ich so einen Hass! Und sage: Dieselbe Sorte ist es, die mir dann erzählt: „Ist das nicht schrecklich, da in Dresden, wo einfach eine Muslimin erstochen wurde, mitten im Gerichtssaal. Furchtbar, dieses Deutschland!“ Als ich erwidere: „Ich finde es gut, dass in Deutschland eine Muslimin, wenn sie beleidigt wird, vor Gericht gehen kann und dort Recht bekommt.“, da stellt sich heraus, dass die Empörte über den Sachverhalt gar nicht informiert ist, sondern nur irgendwelche hetzerische Propaganda nachgeplappert hat.
Und da sind wir beim Punkt: Es gibt diese Leute, auf die Sarrazin abzielt. Aber man erkennt sie nicht am Kopftuch (das tragen andere auch), man erkennt sie an ihrer Haltung. Diese Leute sind nicht fundamentalistisch, kulturalistisch oder was auch immer – nennen wir das Kind doch beim (deutschen) Namen: Sie sind rechts. So rechts wie Sarrazin oder sogar noch mehr. Und das ist kein Wunder. Ich hatte in der Vergangenheit Anlass, mich mit Danzig und Königsberg vor dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. Die Leute dort waren mehrheitlich rechts, nationalistisch, Nazianhänger. Offenbar korrumpiert die Trennung von der Heimat das liberale Denken. Dieses Phänomen beobachte ich auch bei Menschen aus dem arabisch-persischen Raum und der Türkei. Sie fangen an, die Familie, Gott, die Hierarchie höher zu schätzen als ihre eigenen Angehörigen. Die Folge ist, dass Analphabetinnen aus Kamerun in der Regel doppelt so schnell lernen wie Analphabetinnen aus Pakistan. Gott sei Dank sind nicht alle so. Es gibt da auch Frauen, die könnten direkt aus dem wunderbaren „Women without men“ entsprungen sein, es gibt wunderbare Menschen wie Herrn E. aus Afghanistan, dessen Geschichte ich nochmal extra aufschreiben muss.
Und es gibt auch in Deutschland andere Menschen als diesen ideologischen Sarrazin, der, so scheints, lieber altklug über Probleme redet als sich diesen Problemen ehrlich zu konfrontieren. Wie kommt der überhaupt dazu, so auf Menschen herabzublicken, die er gar nicht kennt?! Da könnte ich mich genau so hinstellen und behaupten, er, Thilo Sarrazin, wäre als Bundesbanker per se und persönlich Schuld daran, dass ich so wenig Geld habe. Da gibt es sicher auch irgendwelche Statistiken, die das beweisen. Aber, um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung von Finanzen. Also behalte ich meine sozialen Ressentiments für mich. Und das sollte er auch tun.
Ein jeder kehre vor seiner Tür und rein bleibt jedes Stadtquartier.
Was ich zur allgemeinen Diskussion beitragen kann, sind meine eigenen Erfahrungen mit Migranten, Erfahrungen eines Deutschen, wie er deutscher nicht sein könnte, und vor allem: Erfahrungen von Angesicht zu Angesicht und nicht aus der Vogelperspektive, wie sie Politiker und Statistikenbefrager bevorzugen und aus der die Betroffenen meist recht klein erscheinen.
Dass ich also so eine „Kopftuchfrau“ zum ersten Mal aus nächster Nähe gesehen habe, ist noch gar nicht so lang her. Mein Sohn war anderthalb, meine Frau wollte wieder zu arbeiten anfangen und wir suchten eine Tagesmutter. Nach einigem Zögern entschieden wir uns für eine Türkin. Die Alternative wäre eine etwas schmuddelige Deutsche gewesen oder eine perfekt durchorganisierte Zehn-Kinder-Einrichtung, die so sehr nach „KITA“ roch, dass es einfach gar nicht ging. Das ging im Februar los, es schneite manchmal und ich musste mein Kind zu halb acht früh per Fahrrad nach Ottensen kutschieren, wo Frau Z. im Morgenmantel die Tür öffnete und den Kleinen übernahm. Erst später, als einiges Vertrauen gewachsen war, gestand sie, dass dann immer seine kalten Händchen an den Busen nahm und nochmal mit ihm ins Bett verschwand, bis die anderen Kinder kamen. Frau Z. war super, obwohl sie nur so viel Deutsch radebrechen konnte, wie sie von den Tageskindern lernte. Die Skepsis aus unserem Umfeld („Gerade jetzt in der so wichtigen Phase der frühkindlichen Sprachentwicklung!“) erwies sich als unbegründet: Mein Sohn (2. von rechts) hat sehr gut Deutsch gelernt – und sein frühkindliches Türkisch (er konnte mehr als drei Sorten Börek unterscheiden) hat er leider schon völlig vergessen.
Und diese Frau soll eine Gefahr für Deutschland sein? Es gab nun mal nicht genug Arbeit in der Türkei damals. Ihr Mann fand einen guten Job in Hamburg (den er bis heute inne hat), da hieß es für sie mitkommen und Kinder großziehen. Natürlich hatte sie Sehnsucht nach zu Hause. Als sie sehr krank wurde, dachte ich sogar, dass es diese Sehnsucht war, die fast hat sterben lassen. Übrigens: Ihre Tochter erzählte, dass der Notarzt, als sie ihn rufen musste, zuerst überzeugt war, natürlich wieder zu so einer weinerlich-depressiven Türkin geholt zu werden. Erst als er vor ihr stand, wusste er, dass es um Leben und Tod ging. Diesen Blick – von Angesicht zu Angesicht – würde ich auch Herrn Sarrazin empfehlen.
Natürlich gibt es auch andere. Es gibt Leute, die aus derselben Verlegenheit heraus, in Deutschland zu sein und in Deutschland isoliert zu sein, nicht auf die Idee kommen, Tageskinder aufzunehmen, sondern sich – was näher liegt – zu gekonnten Sozialgeldempfängern und -ertricksern entwickeln. Und Leute, die anfangen Deutschland zu hassen. Meistens sind das dieselben.
Ich erinnere mich an einen Mann (aus Afghanistan), der Frau und Schwiegertochter zu mir in den Kurs schickte. Die beiden Frauen teilten sich in die Betreuung eines Babys – die Mutter kam vormittags, die Großmutter nachmittags – er selbst kümmerte sich um die Formalien, Bescheinigungen usw., sein Schwiegersohn arbeitete. Jetzt war die Großmutter (deren Kurs noch nicht begonnen hat) krank, also kann die Mutter nicht zur Schule kommen. Ich sage zu ihm: „Bringen Sie mir eine Krankschreibung Ihrer Frau. Das genügt.“ Darauf er: „Nein, das ist zu kompliziert.“ Und erscheint am Folgetag mit einer Krankschreibung für seine absolut gesunde Schwiegertochter. Diese selbe Schwiegertochter hat übrigens später den Termin für die schriftliche Prüfung verschlafen. Ich sage zu ihr: „Warum sind Sie nicht zur Prüfung gekommen?“ – „Mein Mann hat mir nicht gesagt, dass Prüfung ist.“ Na super! Ich: „Entweder Sie legen mir eine gültige Krankschreibung vor oder Sie bezahlen die Prüfungskosten. Das sind 95 Euro.“ Sie: „Kein Problem.“ Und zückt einen 50-Euro-Schein. Die Frau hat in einem Jahr Deutschunterricht nicht begriffen, dass 50 Euro weniger als 95 Euro sind. Weil sie nicht mit Geld umgehen darf. Weil ihr Mann ihr gesagt hat: Wenn es Probleme gibt, zückst du diesen Schein. Da krieg ich so einen Hass! Und sage: Dieselbe Sorte ist es, die mir dann erzählt: „Ist das nicht schrecklich, da in Dresden, wo einfach eine Muslimin erstochen wurde, mitten im Gerichtssaal. Furchtbar, dieses Deutschland!“ Als ich erwidere: „Ich finde es gut, dass in Deutschland eine Muslimin, wenn sie beleidigt wird, vor Gericht gehen kann und dort Recht bekommt.“, da stellt sich heraus, dass die Empörte über den Sachverhalt gar nicht informiert ist, sondern nur irgendwelche hetzerische Propaganda nachgeplappert hat.
Und da sind wir beim Punkt: Es gibt diese Leute, auf die Sarrazin abzielt. Aber man erkennt sie nicht am Kopftuch (das tragen andere auch), man erkennt sie an ihrer Haltung. Diese Leute sind nicht fundamentalistisch, kulturalistisch oder was auch immer – nennen wir das Kind doch beim (deutschen) Namen: Sie sind rechts. So rechts wie Sarrazin oder sogar noch mehr. Und das ist kein Wunder. Ich hatte in der Vergangenheit Anlass, mich mit Danzig und Königsberg vor dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. Die Leute dort waren mehrheitlich rechts, nationalistisch, Nazianhänger. Offenbar korrumpiert die Trennung von der Heimat das liberale Denken. Dieses Phänomen beobachte ich auch bei Menschen aus dem arabisch-persischen Raum und der Türkei. Sie fangen an, die Familie, Gott, die Hierarchie höher zu schätzen als ihre eigenen Angehörigen. Die Folge ist, dass Analphabetinnen aus Kamerun in der Regel doppelt so schnell lernen wie Analphabetinnen aus Pakistan. Gott sei Dank sind nicht alle so. Es gibt da auch Frauen, die könnten direkt aus dem wunderbaren „Women without men“ entsprungen sein, es gibt wunderbare Menschen wie Herrn E. aus Afghanistan, dessen Geschichte ich nochmal extra aufschreiben muss.
Und es gibt auch in Deutschland andere Menschen als diesen ideologischen Sarrazin, der, so scheints, lieber altklug über Probleme redet als sich diesen Problemen ehrlich zu konfrontieren. Wie kommt der überhaupt dazu, so auf Menschen herabzublicken, die er gar nicht kennt?! Da könnte ich mich genau so hinstellen und behaupten, er, Thilo Sarrazin, wäre als Bundesbanker per se und persönlich Schuld daran, dass ich so wenig Geld habe. Da gibt es sicher auch irgendwelche Statistiken, die das beweisen. Aber, um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung von Finanzen. Also behalte ich meine sozialen Ressentiments für mich. Und das sollte er auch tun.
Ein jeder kehre vor seiner Tür und rein bleibt jedes Stadtquartier.
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