Montag, 9. November 2009
Anekdoten aus dem Untergangsjahr der DDR, Teil 1
Also, mein 1989 – heute ist doch ein guter Tag, darüber zu schreiben, wie mich Stubenzweig so nett bat. Wie schon erwähnt, lief ja in dem Jahr mein privates 1989, so dass ich auf die gesellschaftlichen Vorgänge wenig achten konnte: Seit Ende 88 hatte eine Freundin, die einen Ausreiseantrag mit zumindest nicht ganz schlechten Chancen auf Bewilligung hatte. Sie wollte nichts als endlich weg und ich wusste nicht, was ich wollte. Dass wir zusammen waren, ergab keinen Sinn – da wir inzwischen verheiratet sind, aber uns immer noch nicht einig, was damals eigentlich passiert ist, kann ich diese spannende Geschichte hier noch nicht erzählen. Stattdessen hier ein paar absurde Erinnerungssplitter aus dem Untergangsjahr eines todkranken Staats.
Auf den ersten Blick schien alles ziemlich relaxed. Ich war Student des Elitefachs Kunstwissenschaft in Greifswald und hatte als solcher wenig zu tun. Ich erinnere an einen normalen Dienstagmorgen, mal wieder kein Unterricht (wir hatten 9 obligatorische Semesterwochenstunden in diesem Jahr), ich kam mit Brötchen vom Bäcker und begegnete in der Wiesenstraße Knut P., der mir nur lachend zurief: „Wie du studierst, möchte ich mal Urlaub haben!“ Aber besonders werktätig war er ja auch nicht. Er war Dresdner, Anfang 88 plötzlich in G. aufgetaucht und im Hauptberuf Oppositioneller. Verwickelte alle in wilde Diskussionen über die anstehenden Veränderungen. Kannte die Leute von „Frieden und Menschenrechte“ in Berlin und besaß tatsächlich einige Hefte der furchtbar verbotenen Zeitschrift „Grenzfall“, die er mir lieh und die ich mit großen Augen durchlas. In einem Heft konnte man den Originaltext des geheimen Zusatzprotokolls vom Hitler-Stalin-Pakt nachlesen (Vereinbarung über die Teilung Polens). Nach offizieller DDR-Lesart gab es diesen Text gar nicht, obwohl jeder historisch Interessierte (vom Hörensagen) seinen Inhalt kannte.
Als ich Februar über die Semesterferien zu meiner Freundin fuhr, bat er mich um den Schlüssel zu meiner Wohnung. Er müsse täglich mit einer Hausdurchsuchung rechnen, bräuchte einen unverdächtigen Raum, wo er Sachen lagern könnte. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet zu helfen. Als er mit dem Schlüssel fort war, kam die Angst: Was, wenn er jetzt doch ein Spitzel ist? Immerhin hatte er erzählt, dass sein Vater im NVA-Oberkommando in Straußberg arbeite und er sich mit diesem immer noch gut verstehe. Also durchforstete ich mein Zimmer und nahm alles, was verdächtig sein könnte, mit in die Ferien. Gott sei Dank passierte nichts. Obwohl sich nach der Wende herausstellte, dass Knut doch bei der „Firma“ gewesen war.
Als ich März zurückkam, unternahm ich den zaghaften Schritt, mein vermeintliches Elfenbeinturmdasein aufzugeben. Ich begann zusätzlich zur Kunstwissenschaft Pädagogik zu studieren. Ich wollte Lehrer werden, aus dem diffusen Wunsch heraus, an den deutlich spürbar kommenden Veränderungen teilzunehmen. Meine Kommilitonen (besonders die Lehrer-Studenten selbst) schüttelten den Kopf: Pädagogik, das Knebelfach für die Proleten des Uni-Betriebs – da musste man doch raus-, nicht reinkommen! Der Institutsleiter der Pädagogik jedenfalls empfing mich persönlich und entwickelte mit mir einen Studienplan. Meine Kunst-Institutsleiterin vermutete hinter meinem rätselhaften Treiben einen besonders cleveren Karriere-Schachzug meines Vaters für mich. Und ich saß endlich in einem langweiligen Pädagogikseminar und sinnierte über die Schrägheit der Situation.
Im August war ich im Studentensommer „beim großen Bruder“ („Besuchen Sie die Sowjetunion, solange sie noch steht.“). Eigentlich wurde ja für solchen Auslandseinsatz nur zugelassen, wer schon einen Sommer im Inland geschafft hatte. Aber 1989 wurde das nicht mehr so eng gesehen, (das Interesse an der Sowjetunion und damit die Anmeldungszahlen für die Fahrt begannen schon zu bröckeln). Unser Einsatzort war Vilnius, wo wir bei Ausgrabungen in der Innenstadt halfen. Die Intention war offensichtlich der archäologische Nachweis, dass die Stadt Vilna weder weder russisch noch polnisch, sondern von je her die Hauptstadt eines litauischen Großreichs gewesen sei. Wenn wir abends in die Innenstadt kamen, floss der Alkohol in Strömen (trotz Gorbatschows Verbot), überall gab es antirussische Demonstrationen, wurden Wehrdienstausweise verbrannt, bildete man eine Menschenkette in Erinnerung an die Okkupation durch Stalin.
Das war spannend, befriedigte aber nicht meine Russland-Sehnsucht. Also schwänzte ich einen Tag und trampte zusammen mit einem Kommilitonen nach Minsk, was immerhin schonmal Weiß-Russland war. Die litauischen Kollegen belächelten unser Vorhaben: „Minsk? Eto ,gorod geroi‘!“ (Das ist eine „Heldenstadt“!). so war es auch, grausig: Noch nie zuvor hatte ich so weit in den Himmel ragende Stalinbauten gesehen, dazwischen Brachland. Und jede Menge alte Opas, die Batterien von Orden auf ihren Anzügen spazieren trugen. Nach Minsk mitgenommen wurden wir übrigens von einem litauischen Ehepaar, dessen männliche Hälfte die Arbeit als Elektriker in einem staatlichen Reperaturbetrieb schwänzte: Seine Frau hatte aus von Polen erworbenem Stoff Bikinis genäht, die nun in Minsk verkauft werden sollten. Von den Einnahmen sollten Kacheln für das Bad im eigenen Häuschen erworben werden.
Echtes Russland sahen wir später doch noch: Die abschließenden Rundreise führte uns durch Leningrad, wie St. Petersburg damals noch hieß. An einem Straßenkiosk gegenüber dem Studentenwohnheim, in dem wir übernachteten, wurde schon ab morgens grässlich schmeckendes billiges Bier ausgeschenkt, und meine Kommilitonin Kathrin, die sich „Kascha“ nannte (wie die russische Armensuppe) und mit der mich ein kleiner Flirt verband, begegnete bei unserer Abfahrt auf dem Bahnhof einem um Essen bettelnden Menschen – sie brach in Tränen aus und war lange nicht zu beruhigen ...

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Nachtrag zur Stasi-Geschichte
Was einem so einfällt, wenn man tagträumend der Vergangenheit nachsinnt: Vor ein paar Tagen fiel mir ein zeitlicher Zusammenhang auf, nämlich dass Knut P. im März 1989 um den Schlüssel für die Deponierung von Materialien in meinem Zimmer gebeten hatte. Unmittelbar zuvor, im Februar 1989, so steht in dem erhaltenen Bruchstück meiner Stasi-Akte, hatte die Stasi beschlossen, aufgrund meiner "indifferenten", aber nicht feindlichen Haltung zur DDR und meiner "operativ bedeutsamen" Kontakte, dass ich der ideale IM sei; es sei umgehend eine entsprechende Legende zu erstellen, mit der man mich zum Spitzeldienst pressen könnte. Der Zusammenhang beider Ereignisse ist zwingend. Was mich aber noch interessieren würde: Warum ging der Plan nicht auf? Ist Knut in der letzten Sekunde vor der Fiesheit seines Auftrags zurückgeschreckt oder hat die Stasi das Interesse an mir verloren? Das würd ich zu gerne noch erfahren irgendwann.

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