Mittwoch, 18. Oktober 2017
Aus meinem Sozialarbeiterleben: alle Erfahrungen und Gedanken durcheinander
Seit einiger Zeit unterrichte ich wieder Ausländer, und zwar jugendliche Flüchtlinge. Alle Flüchtlinge unter 18 Jahre unterliegen bei uns der Schulpflicht, das Ziel ist ein Schulabschluss – sowie der Übergang in eine Lehre. Von meinen Gedanken und Erfahrungen dabei berichte ich hier erstmal spontan durcheinander – vielleicht mach ich später etwas Sinnvolles daraus.
Am Anfang war es ganz schön chaotisch, und zwar anstrengend chaotisch. Nicht wie in den Integrationskursen, in denen ich auch schon gearbeitet hab, wo das Durcheinander, das die Teilnehmer in den Unterricht trugen, oft auch ein fröhliches war. Hier nicht: Direktheit ja, Herzlichkeit nein. Sie waren alle ganz schön egoistisch und es dauerte lange, bis so eine Truppe zueinander fand. Es gab Tumulte, Aggressionen, Schreierei (auch von mir, wenn es mir reichte), auch Prügeleien: Einmal hatte ein Kollege seiner Klasse einen Ball geschenkt, und ein Migrantischer unter den „normalen“ Berufsschülern hetzte meine Jungs auf, um diesen Ball zu kämpfen. Einmal war der Anlass, dass eine Klasse aus organisatorischen Gründen von einem Schulstandort zu einem andern verschoben wurde. Dann wieder kam ein neuer Schüler in die Klasse, der die Hackordnung in Frage stellte, und schon flogen wieder die Fäuste. Für mich unkörperlichen Deutschen war es eine gute Erfahrung, dass man als Lehrer dazwischengehen kann, dass man sie trennen kann (und übrigens, bei einer Kollegin mit ihrem Frauenkörper funktionierte das noch besser). Von wegen offenes Lernen und differenzierte Angebote – nur indem monatelang das Gleiche passierte, wuchs ganz allmählich das Vertrauen, in dessen Folge sich die ersten Lernerfolge einstellten.
Ich erinnere mich an einen Schüler, der offenkundig psychiatrisch auffällig war. Aber was sollte ich tun? Der psychologische Dienst der Schulbehörde erklärte sich für nicht zuständig für Flüchtlinge, der kommunale sozialpsychiatrische Dienst erklärte ihn für schulfähig, der Psychologe der Berufsschulbehörde (der in anderen Fällen schon schnell und unbürokratisch geholfen hatte) sah in ihm nur ein armes, nach komplizierter Fluchtgeschichte desorientiertes Würstchen – was sicher richtig war, aber nicht den Kern des Problems betraf. Dieser Schüler, nennen wir ihn X., war nicht in der Lage zu lernen oder konzentriert geistig zu arbeiten, den ausbleibenden Lernerfolg kompensierte er durch regelmäßige Ausraster, er schrie, drohte und prügelte, hatte auch Wahnvorstellungen und 15 Minuten später tat es ihm regelmäßig entsetzlich leid, alle Lehrerinnen hatten Angst vor ihm – außer einer toughen Polin, die ihm mannhaft entgegentrat, so dass er in seiner Wut eben das eigene Handy zu Boden schmetterte und zerstörte … Dieser Schüler hatte übrigens den Luxus einer engagierten Betreuerin, einer Rechtsanwältin, die zu berichten wusste, dass er auch daheim in Afghanistan aus Verhaltensgründen keine Schule hatte besuchen können. Wir wurden ihn los, indem der Schulleiter ihn durch Tricks der Schule verwies. Damit war der Schule geholfen, nicht aber diesem Menschen, der unter seiner psychischen Krankheit umso mehr litt, als er sie nicht unter Kontrolle hatte.
Geradezu das Gegenbeispiel ist Y., ein hübsches, immer adrett geschminktes Mädchen aus demselben Afghanistan, an dem eine Kollegin ganz richtig beobachtete: „Jede Woche rutscht das Kopftuch einen Zentimeter weiter nach unten, und mit jedem Zentimeter lernt sie schneller.“ Inzwischen trägt sie das Tuch nur noch zum Ramadan und ist unsere Vorzeigeschülerin, mit soliden Lernerfolgen und wachsender Selbstständigkeit, so dass jeder sicher ist, dass das in einem sicheren Ausbildungsplatz endet. Y. hat übrigens (ich weiß nicht, woher, vielleicht aufgrund ihrer geistig behinderten kleinen Schwester oder aufgrund ihres Halbwaisenstaus) schon ein Ausweispapier über 3 Jahre Aufenthalt, und ich bin sicher, ohne dieses Papier sähe das auch mit ihrer Lernentwicklung ganz anders aus.
Man sieht daran auch, dass das Kopftuch weniger ein Zeichen ist – es wird nur von uns Deutschen als Zeichen wahrgenommen (Y. trug es doch, weil das so üblich war, und sie lässt es jetzt weg, weil es hier so üblich ist). Die Vorstellung von der Ideologie der Kopftuchmädchen ist ja ebenso eine voruteilende wie die von der Übergriffigkeit der arabischen Jungen. Einer von denen begann ein Praktikum im Kindergarten, er küsste die Kinder und flog sofort raus. Als einen Tag später in einem anderen Kindergarten ein afghanisches Mädchen aus meiner Klasse ebenfalls die Kinder küsste, wurde sie zur Chefin bestellt, ermahnt, und es gab nie wieder Probleme.
Ach ja, den frei gewordenen Platz im Kindergarten konnte ich schnell füllen, da ein Mädchen aus meiner Klasse (muslimische Afrikanerin) ebenfalls aus dem Praktikum geflogen war, bei einer Boutique im Szene-Viertel Schanze. Da wurde übrigens auch das Kopftuch als Argument angegeben, außerdem sei sie frech geworden. Nach dem Abgleich der sich widersprechenden Aussagen von Chefin und Praktikantin glaube ich, es lag daran, dass im Szene-Laden Praktikanten zwar vorurteilsfrei angenommen werden, aber da wird hart malocht, und wer da das Tempo nicht bringt … Im evangelischen Kindergarten ist man dagegen trotz Kopftuch ganz begeistert von meiner Schülerin, denn das geht es nicht um Schnelligkeit und Gehorsam, sondern im Gegenteil um Selbstständigkeit und Verantwortungsgefühl.
Letztes Beispiel N., dem gegenüber ich etwas negativ eingestellt war, da er schwänzte und, wenn er da war, nur störte. Darauf angesprochen hieß es immer nur radebrechend, er habe „Probleme“ und Angst vor der Abschiebung. Ich gab nicht viel darauf, denn das haben all meine andern afghanischen Jungs auch – und kommen trotzdem irgendwie voran. Als es gar nicht mehr ging, bat den den besagten Psychologen um Hilfe, und der brachte heraus, dass N. tatsächlich schon den Abschiebebescheid vorliegen hat (während seine Klassenkameraden die Duldung haben, bis dann eines Tages in ferner Zukunft entschieden wird)– kein Wunder, dass da nicht mehr an Lernen zu denken ist. N. war jahrelang auf der Flucht, darunter mehrere Jahre in der Türkei, und auch wenn er sicher älter als die behaupteten 18 Jahre ist, so muss er doch als halbes Kind zu Hause los sein. Jedenfalls fallen seine Heimatsehnsucht, seine altersuntypische Kindlichkeit, seine Depressivität auch mir Laien auf. Den Praktikumsplatz beim Malermeister hat er jedenfalls verspielt durch Untätigkeit, jetzt macht er sein Praktikum beim Döner-Mann. Kollegen waren entsetzt, weil daraus ja keine Berufsperspektive erwachsen kann. Ich fand es besser als nichts. Und jetzt stellt sich heraus, dass der Chef ganz begeistert ist und ihn sogar fest einstellen würde – denn N. kann türkisch und und hat eine freundliche, kundenfreundliche Art. Ein Kollege meinte, das sei sicher ein ausbeuterischer Job. Ich halte das auch für wahrscheinlich. Aber angesichts der drohenden Abschiebung und der Unmöglichkeit, bei seinem Schulfrust je irgendeinen Abschluss zu erreichen – wäre es da nicht besser, er würde, bevor er höchstwahrscheinlich wieder zurückmuss, noch einige Zeit Geld verdienen und nach Hause schicken können?
Vielleicht ist das ein Denkfehler im System: Das Schulsystem für jugendliche Flüchtlinge orientiert sich an dem für gescheiterte deutsche Jugendliche, die nach dem Schulabschluss keine Lehrstelle bekommen haben und noch ein Jahr Schulpflicht bei uns abreißen müssen. Bei diesen Leuten, die alle schon schlechte Erfahrungen mit Schule gemacht haben, da muss man natürlich ganz vorsichtig sein mit Strenge und Sanktionen – und sie stattdessen irgendwie verlocken, sich ins Ausbildungs- und Berufsleben zu begeben. Bei den Flüchtlingen, die neu nach Deutschland kommen, bringt Nachsichtigkeit nichts: Sie kommen ja und beobachten erstmal, wie Regeln hier gehandhabt werden. Und wenn das lax ist, dann nehmen sie es halt auch lax. Und was den schnellen Übergang in die Berufswelt betrifft, da ist, finde ich, niemanden mit einer Lehrstelle geholfen, wenn er nicht ausreichend Deutsch kann, um die Berufsschule zu bewältigen. Und erstmal müssen sie emotional wieder Boden unter den Füßen bekommen (so wie Y.), dann sind auch individuelle, schnelle Wege möglich. Vorher braucht es Gemeinschaft, Regeln, Regelmäßigkeit.
Mal zusammengefasst, was ich für wichtig halte:
- klare Regeln, Regelmäßigkeit, sicheres Aufgehobensein in einer Klassengruppe
- sichere Aufenthaltsverhältnisse: schnell abschieben oder sicher hier behalten
- zivile Wohnverhältnisse außerhalb von Lagern oder Camps, wie sie sie von ihrer Flucht kennen.
Ich wage nämlich zu behaupten, dass die meisten dieser Jugendlichen traumatisiert sind, und zwar nicht (oder nicht nur) durch die Verhältnisse in ihrem Herkunftsland, sondern vor allem durch die Erlebnisse während ihrer Flucht. Integration kann erst beginnen, wenn sie begreifen und fühlen, dass sie nicht mehr auf der Flucht sind, dass man sich nicht mehr brutal egoistisch durchbeißen muss, sondern dass es sich individuell lohnt, sich in eine neue Gemeinschaft einzufügen.

Nachtrag im Januar 18 (schön, dass es so ein Blog gibt, wo niemand mitliest, der näher damit zu tun hat, so dass ich Ideen einfach so ins Unreine aussprechen kann): Grundsätzlich müsste es so laufen mit den jugendlichen Flüchtlingen: zuerst ein halbes oder ein dreiviertel Jahr nur Deutschunterricht intensiv, so dass auch die schwächeren Schüler genügend Deutsch können, um sich in deutschen Sprachzusammenhängen orientieren zu können (natürlich gehört dazu auch ein bisschen Alltagswissen über Deutschland, aber das versteht sich von selbst, das lässt jeder einigermaßen verantwortliche Deutschlehrer auch so einfließen). Dann Arbeit, ein Langzeitpraktikum oder so - wobei die Auszahlung symbolischer Geldzahlungen sicher auch gut wäre - mindestens ein halbes Jahr und in einem Milieu, in dem möglichst die meisten (und auf jeden Fall alle Chefs) Deutsch sprechen, sodass jeder begreift, warum Schulbildung (Mathe, Schrifltichkeit, EDV inkl. Mail und Excel, Englisch, Unterscheidung deutscher Umgangs-, Höflichkeits- und Fachsprache usw.) notwendig ist und selbst entscheiden kann, ob ob er das will bzw. kann oder ob ihm Hilfsarbeitertätigkeiten ausreichen (müssen). In der Zwischenzeit wäre dann ja auch so viel Zeit ins Land geflossen, dass über den Aufenthaltsstatus etwas mehr Klarheit besteht (um nochmal an den wichtigsten Lernhinderungsgrund zu erinnern). Und dann die Möglichkeit, einen Schulabschluss nachzuholen, auch mit über 18 Jahren - um dann über eine Ausbildung ins normale System zu gelangen.
Also der Grundsatz: Schul- und Berufsausbildung getrennt statt gleichzeitig. Beides ist nötig und braucht sein Gewicht, seine Zeit.

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