Freitag, 17. Januar 2014
Politik und Depression
arboretum bat mich neulich, mal über Politik in meiner Kindheit zu erzählen. Hässliches Kapitel. Aber sei’s drum. Um das Ganze in den passenden historischen Rahmen zu heben, beginne ich mit einem Rückblick auf das Jahr 33 und ich hoffe, hier wird mir keiner ein gaucksches Gleichsetzen deutscher Diktaturen vorwerfen. So ist es nicht gemeint: nicht politisch – eher antipolitisch.
Als das Jahr 1933 kam, waren meine Großeltern nicht mehr ganz jung. Mein Großvater, Sozialdemokrat und Finanzbeamter, kroch zu Kreuze, um den wirtschaftlichen Ruin der Familie zu verhindern. (Sein Bruder, der sich anders entschied, endete, jämmerlich – und nicht etwa märtyrerhaft.) Meine Großeltern jedenfalls (auch meine Großmutter war langjähriges SPD-Mitglied) zogen sich ganz in die private Resignation zurück und bekamen noch einmal ein Kind, meinen Vater. Unter diesem depressiven Vorzeichen wuchs auch ich auf, eine Generation später. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, dass ich die Panzer gesehen habe, die 1968 durch meine Heimatstadt rollten, auf der Rückkehr von einer äußerst ruhmlosen Mission. Es waren riesige, laute, beeindruckend bedrohliche Monster. Meine Mutter erzählt, dass ein fremder Mann mir Fähnchen geschenkt, ich sie begeistert geschwenkt und sie sie mir wütend aus der Hand gerissen habe. Daran kann ich nicht erinnern, an den Zwiespalt zwischen Sprachlosigkeit und Wut, den meine Mutter mit sich herumschleppt, schon. Ich habe auch erst später erfahren, dass unser Umzug nach Potsdam wenige Monate später auch mit diesem Ereignis zusammenhing: Mein Vater suchte sich eine neue Arbeit, die er für weniger politisch hielt, wo man ihm auch die übliche Unterwerfungsgeste ersparte, eine Resolution zur Rechtfertigung des Putsches in Prag zu unterschreiben.
Das Ende des Prager Frühlings bedeutete für meine Eltern den endgültigen Abschied von ihren kommunistischen Jugendidealen. Ähnlich wie meine Großmutter sah sich meine Mutter, obwohl sie sehr politisch dachte, auf die private Sphäre verwiesen. Dort, in den eigenen vier Wänden, wurde der Marxismus weiter zelebriert. Im Schrank standen die gesammelten Werke von Bertolt Brecht und alle Platten von Ernst Busch. Sie wurden auch gehört. Mit der Realität, in die wir Kinder jeden Morgen zur Schule gingen, hatte das nichts zu tun. Ich erinnere mich zum Beispiel an das sagenumwobene Buch „Die Alternative“, das als heimlicher Kopienstapel in unser Haus kam, die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam. Ich ging an das Versteck und versuchte zu lesen, verstand aber nur Bahnhof. Es hatte nichts mit mir zu tun. Trotzdem kritzelte ich „Freiheit für Rudolf Bahro!“ in mein Mathebuch und hatte furchtbare Angst, irgendjemand könnte das entdecken.
Als zum Beginn der achten Klasse, wenige Wochen vor dem kollektiven Eintritt in die FDJ, Fahnenappell angesagt war, nutzten viele Mitschüler die kleine formale Lücke, um nicht mehr mit Pioniertuch (und noch nicht im FDJ-Hemd) zu erscheinen, sondern einfach in Zivil. Ich fand das unehrlich und sagte das auch in der Versammlung. Plötzlich hatte ich alle gegen mich, auch die Lehrer. Und auch zu Hause meine Mutter meinte, dass man sowas lieber nicht öffentlich äußern sollte. Damit war klar: Den kämpferischen Reden zu Hause hatte kein öffentliches Handeln zu entsprechen. Mir war das recht, mir lag das Kämpferische eh nicht.
Also weiter heimlich Kampflieder und freche Satiren von Biermann zu Hause - und Schweigen, sobald man rausging. Einmal, ein paar Jahre später, wurden meine Schwester und ich von meinem Freund S. dabei ertappt. Als es klingelte, schoben wir das Plattencover von „aah ja!“ schnell unter den Fernseher, die Anlage vergaßen wir auszuschalten. „Was hört ihr denn da?“ fragte S. arglos, erspähte die Hülle, zog sie vor und erblasste. Großes Drama. Die, vor denen wir die Platten eigentlich versteckten, wussten dagegen Bescheid. Die Stasi hat alles per Wanze abgehört und den Inhalt mehrerer Biermann-Platten getreulich transskribiert und abgetippt. S. dagegen durfte, als er dicht hielt, nun auch den „ersten Kreis der Hölle“ von Solschenizyn lesen. Allerdings: Er dürfe nicht wissen, dass wir ihn besitzen, meinten die Eltern: Sag ihm, wir haben das geborgt gekriegt, und er kann es für eine Woche haben.“ Also lasen S., seine Eltern, seine Schwester und sein Schwager den 1000-Seiten-Roman umschichtig in sieben Tagen.
Aber das sind nur so die Anekdoten. Tatsächlich hielt ich mich weiter für einen Sozialisten und Verteidiger der DDR. Als in der 11. Klasse angeordnet wurde, die Jungen hätten in GST-Uniform (GST – „Gesellschaft für Sport und Technik“, Schieß- und Kampfsport-Verein, dessen Uniformen für die vormilitärische Ausbildung an der Schule genutzt wurden) und FDJ-Hemd zur Demonstration am Ersten Mai zu erscheinen, zwängte ich mein FDJ-Hemd über die Uniformjacke und erklärte meinem Direktor, ich sei in erster Linie FDJler. Allerdings interessierten solche Spitzfindigkeiten in der Auslegung des realen Sozialismus weder ihn noch sonst jemanden.
Und sie taten ja auch nichts zur Sache. Tatsächlich waren die Fronten klar. Ich begriff es, glaube ich, in diesem Jahr: als uns in der Schule die vormilitärische Ausbildung aufgedrückt wurde, als wir die natürlich veralberten, ich daraufhin vom Russischlehrer und „Kommandeur“ als Rädelsführer bezeichnet wurde und mein Vater in die Schule rannte, um mich rauszuhauen ... Ich beschloss darauf in meinem Frust, mit einem Freund im Sommer zu einer evangelischen Rüstzeit zu fahren. Mein Vater verbot es mir mit der Begründung, ich müsse doch die innenpolitisch angespannte Situation bedenken und im Grunde stände ich doch eher auf der Seite des Staates als der der Kirche. Was mir angesichts meines Russischlehrers nicht gerade einleuchtete. Gehorcht habe ich ihm trotzdem. Und dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob er diese idiotische Begründung wirklich so meinte oder, wie mein Freund S. mutmaßte, einfach im Jahr der Bewerbung zum Studium den dicken Eintrag in der Stasiakte fürchtete, wenn ich als Nicht-Christ und Sohn eines SED-Mitglieds mit der Kirche urlaubte.
Fazit: Bleibt mir mit Politik vom Halse! Ja, klar: politisch schwätzen, die Dinge ein bisschen verstehen – das macht Spaß. Aber verantwortlich handeln, das kann man nur für sich, seine Freunde, seine Familie, seine Moral – für den Bereich eben, auf den man Einfluss hat.

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