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Montag, 2. Januar 2012
Die Erlebniswelt unserer Kinder:
damals, 23:45h
... volle Straßen, brennende Hochhäuser.
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Julia Francks Großmutter
damals, 18:36h
Aus gegebenem Anlass heute mal wieder Erinnerungen aus realsozialistischen Zeiten: Ich las kürzlich, dass Julia Franck in ihrem neuen Roman „Rücken an Rücken“ aus Erinnerungen an ihre vor zwei Jahren verstorbene Großmutter schöpft, als Käthe hat sie sie abgezeichnet. Als Inge hat diese Frau auch in meiner Kindheit eine Rolle gespielt, denn sie war mit meinem Vater befreundet.
Inge war eine beeindruckende Frau, Bildhauerin, mit einem runden, schon faltigen Gesicht, leichtem Damenbart, leuchtenden Augen und rauer Stimmer: robust, direkt, herzlich. Das ganze Gegenteil zu mir, der damals ein schüchterner kleiner Junge war. Einmal, mein Vater feierte Geburtstag und die Wohnung war voller Gäste, hatte ich mich beim Spielen am Heiligen See völlig bemoddert und versuchte, von den Eltern unbemerkt ins Kinderzimmer zu kommen und mich umzuziehen. Die einzige Möglichkeit erschien mir das winzige offene Fenster über dem Klo. Ich war schon halb reingekrochen (das historische Haus hatte sehr dicke Außenmauern), da bemerkte ich, dass Inge auf der Kloschüssel saß. Sie war keineswegs verschämt oder peinlich berührt, sie sah nur verwundert hoch und brach in Lachen aus. Ich kehrte erschrocken um und ging nun doch schuldbewusst durch die Wohnungstür, begleitet vom Gelächter einer ganzen Geburtstagsgesellschaft.
Trotzdem war es immer schön, wenn Inge kam, mit Bunin, dem riesigen, weißen Hund (erst nach Jahren erfuhr ich, dass er nach einem russischen Schriftsteller heißen soll), mit ihr kamen Lachen, Leben, Großzügigkeit in unsere verängstigte DDR-Kleinfamilie, kamen Biermannschallplatten (einmal sogar Biermann selbst), kamen Fotokopien von Rudolf Bahros verbotenem Buch (es waren die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam - der Zettelstapel wurde von den Eltern ehrfürchtig gelesen und versteckt). Und wenn wir bei ihr waren, in ihrer riesigen Gründerzeitwohnung in Randberlin, meist aus Anlass einer Party, dann galten keine Kinderbettgehzeiten, dann stromerten wir Ewigkeiten durch Räume, Wintergarten, Atelier und Vorgarten, und die Eltern waren locker und gelöst wie sonst nie, und über allem hing ein Geruch von Knoblauch.
Inge hatte auch ein Sommerhaus an der Ostsee, das ihr aufgrund ihrer VVN*- und DDR-Elite-Zugehörigkeit zuteil geworden war. Das war ihr peinlich, und deshalb überließ sie es Sommer für Sommer all ihren Freunden zur kostenlosen Nutzung. Wir waren jeden Sommer da, verbrachten dort Bade-Ferien, die ich oft langweilig fand – erst später verstand ich, welchen Luxus ein solcher Strandurlaub jenseits der üblichen FDGB**- und Camping-Milieus bedeutet hatte. Und als mein Vater Anfang der achtziger Jahre die für leitenden Angestellte nicht unübliche IM-Verpflichtung verweigerte und als Strafe seinen Westreisekader-Pass verlor, da erbarmte sich Inge zwei Jahre später und sprach mit dem für sie zuständigen Stasi-Mann. Prompt durfte mein Vater wieder reisen und wusste selbst nicht, warum. Denn natürlich verriet sie ihm den Grund erst nach der Wende. Meine Schwester hat damals sogar geargwöhnt, mein Vater wäre irgendwie zu Kreuze gekrochen.
Womit Inge nichts anfangen konnte, das waren Schüchternheit und leise Töne. Meiner reservierten Mutter gab sie immer erstmal ein Glas Rotwein. Als mein Bruder, der zeitweise bei ihr zur Untermiete wohnte, um dem Studentenwohnheim zu entgehen, Besuch von einer Verehrerin erhielt, entsetzte sie sich über „das kümmerlichste Blumensträußchen, das ich in meinem Leben gesehen habe“. Und als ich in Pubertätszeiten mit den Eltern und der Welt in Konflikt geriet und entsprechend sprachlos und desorientiert wurde, lud sie mich einfach allein zu ihr ein, um mal über alles zu reden. Ich fuhr brav nach Berlin, obwohl ich wusste, dass das nichts bringt. Ich konnte und wollte so ein großherziges Angebot nicht ausschlagen, auch wenn es nutzlos war. Ich denke auch heute noch oft mit Sympathie an Inge. Und auch den Geruch von Knoblauch habe ich nicht aufgehört zu lieben.
* Verein für Verfolgte des Naziregimes, erlaubte einem, kostenlos Straßenbahn zu fahren
** Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, in der DDR hauptsächlich zuständig für Urlaubsreisen
Inge war eine beeindruckende Frau, Bildhauerin, mit einem runden, schon faltigen Gesicht, leichtem Damenbart, leuchtenden Augen und rauer Stimmer: robust, direkt, herzlich. Das ganze Gegenteil zu mir, der damals ein schüchterner kleiner Junge war. Einmal, mein Vater feierte Geburtstag und die Wohnung war voller Gäste, hatte ich mich beim Spielen am Heiligen See völlig bemoddert und versuchte, von den Eltern unbemerkt ins Kinderzimmer zu kommen und mich umzuziehen. Die einzige Möglichkeit erschien mir das winzige offene Fenster über dem Klo. Ich war schon halb reingekrochen (das historische Haus hatte sehr dicke Außenmauern), da bemerkte ich, dass Inge auf der Kloschüssel saß. Sie war keineswegs verschämt oder peinlich berührt, sie sah nur verwundert hoch und brach in Lachen aus. Ich kehrte erschrocken um und ging nun doch schuldbewusst durch die Wohnungstür, begleitet vom Gelächter einer ganzen Geburtstagsgesellschaft.
Trotzdem war es immer schön, wenn Inge kam, mit Bunin, dem riesigen, weißen Hund (erst nach Jahren erfuhr ich, dass er nach einem russischen Schriftsteller heißen soll), mit ihr kamen Lachen, Leben, Großzügigkeit in unsere verängstigte DDR-Kleinfamilie, kamen Biermannschallplatten (einmal sogar Biermann selbst), kamen Fotokopien von Rudolf Bahros verbotenem Buch (es waren die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam - der Zettelstapel wurde von den Eltern ehrfürchtig gelesen und versteckt). Und wenn wir bei ihr waren, in ihrer riesigen Gründerzeitwohnung in Randberlin, meist aus Anlass einer Party, dann galten keine Kinderbettgehzeiten, dann stromerten wir Ewigkeiten durch Räume, Wintergarten, Atelier und Vorgarten, und die Eltern waren locker und gelöst wie sonst nie, und über allem hing ein Geruch von Knoblauch.
Inge hatte auch ein Sommerhaus an der Ostsee, das ihr aufgrund ihrer VVN*- und DDR-Elite-Zugehörigkeit zuteil geworden war. Das war ihr peinlich, und deshalb überließ sie es Sommer für Sommer all ihren Freunden zur kostenlosen Nutzung. Wir waren jeden Sommer da, verbrachten dort Bade-Ferien, die ich oft langweilig fand – erst später verstand ich, welchen Luxus ein solcher Strandurlaub jenseits der üblichen FDGB**- und Camping-Milieus bedeutet hatte. Und als mein Vater Anfang der achtziger Jahre die für leitenden Angestellte nicht unübliche IM-Verpflichtung verweigerte und als Strafe seinen Westreisekader-Pass verlor, da erbarmte sich Inge zwei Jahre später und sprach mit dem für sie zuständigen Stasi-Mann. Prompt durfte mein Vater wieder reisen und wusste selbst nicht, warum. Denn natürlich verriet sie ihm den Grund erst nach der Wende. Meine Schwester hat damals sogar geargwöhnt, mein Vater wäre irgendwie zu Kreuze gekrochen.
Womit Inge nichts anfangen konnte, das waren Schüchternheit und leise Töne. Meiner reservierten Mutter gab sie immer erstmal ein Glas Rotwein. Als mein Bruder, der zeitweise bei ihr zur Untermiete wohnte, um dem Studentenwohnheim zu entgehen, Besuch von einer Verehrerin erhielt, entsetzte sie sich über „das kümmerlichste Blumensträußchen, das ich in meinem Leben gesehen habe“. Und als ich in Pubertätszeiten mit den Eltern und der Welt in Konflikt geriet und entsprechend sprachlos und desorientiert wurde, lud sie mich einfach allein zu ihr ein, um mal über alles zu reden. Ich fuhr brav nach Berlin, obwohl ich wusste, dass das nichts bringt. Ich konnte und wollte so ein großherziges Angebot nicht ausschlagen, auch wenn es nutzlos war. Ich denke auch heute noch oft mit Sympathie an Inge. Und auch den Geruch von Knoblauch habe ich nicht aufgehört zu lieben.
* Verein für Verfolgte des Naziregimes, erlaubte einem, kostenlos Straßenbahn zu fahren
** Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, in der DDR hauptsächlich zuständig für Urlaubsreisen
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