Sonntag, 9. Januar 2011
Plädoyer für eine Aussetzung des Wortes „Kommunismus“ (weil leicht verschwindet, wofür Worte kommen)
Wie ich sicher schon erwähnt habe, befand sich im Wohnzimmertisch meiner Eltern einige Jahre lang eine Wanze, die die Gespräche an diesem Tisch getreulich aufzeichnete – und mir später dank BStU erlaubte, Elemente meiner Erziehung genau zu rekonstruieren. Da spricht z. B. meine Mutter gegenüber meinem Vater von der Enttäuschung, dass ihre Kinder die marxistischen Begriffe nicht mehr ernst nehmen, weil sie ihnen durch den geistlosen und verlogenen Staatsbürgerkundeunterricht beigebracht wurden. Richtig. Schon damals ist das Kind in den Brunnen gefallen und die entsprechende Terminologie unbrauchbar geworden. Und das ist dreißig Jahre her.
Seitdem ist die Sinnentleerung dieser Begriffe weiter fortgeschritten. Meine Fernschüler schreiben oft und gern aus diesem Internettext ab, in dem behauptet wird, Bertolt Brecht sei in den dreißiger Jahren vor dem kommunistischen Regime in Deutschland ins Ausland geflohen – „Kommunismus“ gilt ihnen als unspezifische Bezeichnung für das schlechthin Böse in der Politik. Nun hat Gesine Lötzsch daran erinnert, dass es auch Leute gibt, die den Kommunismus ebenso unreflektiert für das Gute halten. Was er eigentlich ist, wissen offenbar beide nicht.
Jedenfalls habe ich Gesine Lötzsch vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk-Interview gehört und sie war nicht in der Lage, dem Interviewer zu erklären, inwiefern Rosa Luxemburg demokratisch dachte (Ich hab das richtige Argument gleich eingeworfen, aber leider funktioniert ein Radio nicht als Sender und niemand hörte mich.) Und dann stritt sie sich mit dem Interviewer, ob sie sich für die Verbrechen des Kommunismus entschuldigen sollte. Als ob es auf diese Höflichkeitsgeste ankäme.
Wollte man den Begriff „Kommunismus“ wirklich ernsthaft in einem aktuellen Kontext verwenden, dann müsste man doch zuerst über die strukturellen Schwächen nachdenken, die der Kommunismus (wie jede Ideologie) hat und die die besagten Verbrechen erst ermöglicht haben. Aber daran scheinen weder Antikommunisten noch Kommunismus-Fans ein Interesse zu haben.
Auf „Kommunismus“ als hohlen Kampfbegriff kann ich getrost verzichten. Neulich fand ich in einer „Zu-verschenken“-Kiste am Straßenrand Rosa Luxemburgs politische Schriften. Ich nahm das Buch mit, schlug es zu Hause auf und stellte fest, dass es unlesbar ist – sofern man 100 Jahre altes Partei-Chinesisch nicht simultan übersetzen kann. Ich bin sicher, dass Luxemburg zu den ehrenhaftesten Politikern der letzten 100 Jahre gehört. Aber ich habe das Buch weggeworfen. Damit habe ich ihrem Andenken vermutlich die meiste Ehre angetan.

Und da heute doch der Gedenktag ist, will ich das durch ein Günter-Kunert-Gedicht aus den achtziger Jahren erklären:

Am Landwehrkanal

Durch Zeiten schwammen sie: Die Toten
Getragen von Kanälen unsrer Stadt.
Doch als sie uns erreichten, hat
Ihr Stummsein Schweigen uns geboten.

Weil leicht verschwindet, wofür Worte kommen:
Die bleiben, während ihr versinkt,
und ohne dass euch eines wiederbringt.
Sie haben euere Stelle eingenommen.

Gedenke sprachlos: Bilderfetzen,
von blinder Oberfläche absorbiert,
bevor auch solch Erinnern sich verliert
mit Wut und Ohnmacht und Entsetzen.

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