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Samstag, 3. Januar 2009
Das Jahrhundertbuch (Januar 04)
damals, 18:49h
Folgender Text entstand in den letzten Tagen im Zug:
„Mein Jahrhundertbuch. 51 Liebeserklärungen.“ Wie kam dieses Buch auf den Hocker neben meinem Bett, in diesen Stapel von Schriften, die ich lesen wollte, aber nicht werde? Ich weiß nicht mehr, wer es mir mitgebracht hat – selbst würd ich mir so was ja nie kaufen – ein „ZEIT-Buch“ (!), „herausgegeben von Iris Radisch" (!), Studienratslektüre für Leute, die Literatur nicht selber lesen, sondern nur darüber informiert sein wollen. Bei mir im Zimmer kann man sich aus erster Hand informieren, was das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts sein soll – oder könnte es jedenfalls. Die Staubschichten auf den Bücherreihen zeigen, dass keiner diese Möglichkeit nutzt, ich nicht und ein anderer schon gar nicht. Hat mir deshalb einer dieses Buch geschenkt? Einer von denen, die sich damals über Iris Radisch und Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ die Köpfe heiß redeten und sich wunderbar literarisch interessiert dabei vorkamen, obwohl sie ihre Freizeit mit jeweils 2-3 verzogenen Gören sowie in Sportklubs und vor CD- und DVD-Regalen verbringen, anstatt zu lesen, und die in mir, in ihrer Freundschaft zu mir immerhin den Beweis sehen, dass sie noch nicht ganz verblödet sind?
Und jetzt kräht selbst ein Säugling im Zimmer neben meinem, einer, der nichts weiß von Iris Radisch und der ZEIT, einer, der mich anlachen möchte oder schreien oder einfach umhersabbern und an seinen Zehen spielen – alles, nur nicht schlafen, und noch schlimmer, jetzt geh ich jeden Tag arbeiten, um Geld heranzuschaffen für die Frau, die ihn stillt und die mich zu umarmen versucht, wenn ich schon nichts mehr spüre, weil es so warm ist, so überheizt in dieser überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnung und ich den Tag, den lieben langen Tag in Klassenzimmern verbracht habe und vergeblich den Lehrer gespielt, eine Figur also, die ich selber bedauert habe, als ich noch Schüler war und frei zu denken, was ich wollte.
Aber das wollte ich nicht sagen, ich wollte über „Das Jahrhundertbuch“ reden. Wollte mich lustig machen, wie erwartungsgemäß langweilig da alles daherkommt: wenn Jerofejew sich aus fadenscheinigen Gründen für Nabokows „Lolita“ begeistert – weil ihn der Verkaufserfolg offenbar mehr fasziniert als die guten Bücher, die Nabokow immerhin auch geschrieben hat. Wenn Salman Rushdie ganz den gelehrigen 3.-Weltler markiert, indem er den mainstreamigsten Klassiker aus der 1.-Welt-Literatur empfiehlt: „Ulysses“, den keiner von uns gelesen hat, es sei denn im Grundstudium oder an der Volkshochschule. Und wenn den mittleren Europäern nichts anderes einfällt als Kafka, Kafka und natürlich Hitler und Stalin.
Jetzt liegt dieses langweilige Buch auf meinem Nachttisch, auf dem Gerät, das mein Nachttisch sein soll oder hätte sein sollen. Denn wozu brauche ich einen Nachttisch, da ich abends nicht zum Lesen komme und morgens aus dem Bett spring, weil ichs eilig hab. Und die Brille leg ich lieber auf das Fensterbrett. Die Sachen auf den Fußboden, weil mich das an das Chaos von früher erinnert, als es noch ein fröhliches war. Meine Freundin liegt nebenan mit dem Kleinen und auch ich liege manchmal nebenan, meistens sogar um ehrlich zu sein, wenn mir nach Nähe ist, wenn ich lebendig bin. Und das Buch auf meinem Nachttisch verstaubt. Was sollte ich auch damit in einer Welt, in der es keine patriarchalischen Diktatoren gibt und auch keine Lolitas.
Mein Chef ist ein müder, alter Mann, weißhaarig, mit traurigen Augen und einer Vorliebe für kleine Witze und ironische Bemerkungen. Entscheidungen scheut er. Dass er mir gekündigt hat letzte Woche, das war überhaupt nicht er, das ist wie ein Blitzschlag durch ihn durchgegangen von irgendwoher – das hat nun mich getroffen, und er blickt sich verwundert um, wie er das Phänomen überlebt hat. Wie ich es überlebt habe, interessiert ihn so wenig wie die meisten Erscheinungen dieser Welt.
Und ich wittere eine Chance, wieder zu meinen Büchern zu kommen, in meine Bücherhöhle, in die Phantasiewelt des 20. Jahrhunderts: wo es um Macht geht und Katastrophen, um zerstörerische Triebe und Giganten, die ganze Völker morden, um die Größe des Untergangs. Ja, ich weiß, es gibt das alles. Aber es ist nur ein Bruchteil, es sind nur Buchtitel, es ist nicht das Ganze. Und ich, wenn ich das Buch des Jahrhunderts wählen sollte, ich nennte nicht den „Prozess“ und auch nicht „Das kleine Arschloch“ – sondern den „Roman eines Schicksallosen“. Oder Anna Seghers’ Roman über den Identitätslosen, der bleiben will, bleiben und leben.
„Mein Jahrhundertbuch. 51 Liebeserklärungen.“ Wie kam dieses Buch auf den Hocker neben meinem Bett, in diesen Stapel von Schriften, die ich lesen wollte, aber nicht werde? Ich weiß nicht mehr, wer es mir mitgebracht hat – selbst würd ich mir so was ja nie kaufen – ein „ZEIT-Buch“ (!), „herausgegeben von Iris Radisch" (!), Studienratslektüre für Leute, die Literatur nicht selber lesen, sondern nur darüber informiert sein wollen. Bei mir im Zimmer kann man sich aus erster Hand informieren, was das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts sein soll – oder könnte es jedenfalls. Die Staubschichten auf den Bücherreihen zeigen, dass keiner diese Möglichkeit nutzt, ich nicht und ein anderer schon gar nicht. Hat mir deshalb einer dieses Buch geschenkt? Einer von denen, die sich damals über Iris Radisch und Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ die Köpfe heiß redeten und sich wunderbar literarisch interessiert dabei vorkamen, obwohl sie ihre Freizeit mit jeweils 2-3 verzogenen Gören sowie in Sportklubs und vor CD- und DVD-Regalen verbringen, anstatt zu lesen, und die in mir, in ihrer Freundschaft zu mir immerhin den Beweis sehen, dass sie noch nicht ganz verblödet sind?
Und jetzt kräht selbst ein Säugling im Zimmer neben meinem, einer, der nichts weiß von Iris Radisch und der ZEIT, einer, der mich anlachen möchte oder schreien oder einfach umhersabbern und an seinen Zehen spielen – alles, nur nicht schlafen, und noch schlimmer, jetzt geh ich jeden Tag arbeiten, um Geld heranzuschaffen für die Frau, die ihn stillt und die mich zu umarmen versucht, wenn ich schon nichts mehr spüre, weil es so warm ist, so überheizt in dieser überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnung und ich den Tag, den lieben langen Tag in Klassenzimmern verbracht habe und vergeblich den Lehrer gespielt, eine Figur also, die ich selber bedauert habe, als ich noch Schüler war und frei zu denken, was ich wollte.
Aber das wollte ich nicht sagen, ich wollte über „Das Jahrhundertbuch“ reden. Wollte mich lustig machen, wie erwartungsgemäß langweilig da alles daherkommt: wenn Jerofejew sich aus fadenscheinigen Gründen für Nabokows „Lolita“ begeistert – weil ihn der Verkaufserfolg offenbar mehr fasziniert als die guten Bücher, die Nabokow immerhin auch geschrieben hat. Wenn Salman Rushdie ganz den gelehrigen 3.-Weltler markiert, indem er den mainstreamigsten Klassiker aus der 1.-Welt-Literatur empfiehlt: „Ulysses“, den keiner von uns gelesen hat, es sei denn im Grundstudium oder an der Volkshochschule. Und wenn den mittleren Europäern nichts anderes einfällt als Kafka, Kafka und natürlich Hitler und Stalin.
Jetzt liegt dieses langweilige Buch auf meinem Nachttisch, auf dem Gerät, das mein Nachttisch sein soll oder hätte sein sollen. Denn wozu brauche ich einen Nachttisch, da ich abends nicht zum Lesen komme und morgens aus dem Bett spring, weil ichs eilig hab. Und die Brille leg ich lieber auf das Fensterbrett. Die Sachen auf den Fußboden, weil mich das an das Chaos von früher erinnert, als es noch ein fröhliches war. Meine Freundin liegt nebenan mit dem Kleinen und auch ich liege manchmal nebenan, meistens sogar um ehrlich zu sein, wenn mir nach Nähe ist, wenn ich lebendig bin. Und das Buch auf meinem Nachttisch verstaubt. Was sollte ich auch damit in einer Welt, in der es keine patriarchalischen Diktatoren gibt und auch keine Lolitas.
Mein Chef ist ein müder, alter Mann, weißhaarig, mit traurigen Augen und einer Vorliebe für kleine Witze und ironische Bemerkungen. Entscheidungen scheut er. Dass er mir gekündigt hat letzte Woche, das war überhaupt nicht er, das ist wie ein Blitzschlag durch ihn durchgegangen von irgendwoher – das hat nun mich getroffen, und er blickt sich verwundert um, wie er das Phänomen überlebt hat. Wie ich es überlebt habe, interessiert ihn so wenig wie die meisten Erscheinungen dieser Welt.
Und ich wittere eine Chance, wieder zu meinen Büchern zu kommen, in meine Bücherhöhle, in die Phantasiewelt des 20. Jahrhunderts: wo es um Macht geht und Katastrophen, um zerstörerische Triebe und Giganten, die ganze Völker morden, um die Größe des Untergangs. Ja, ich weiß, es gibt das alles. Aber es ist nur ein Bruchteil, es sind nur Buchtitel, es ist nicht das Ganze. Und ich, wenn ich das Buch des Jahrhunderts wählen sollte, ich nennte nicht den „Prozess“ und auch nicht „Das kleine Arschloch“ – sondern den „Roman eines Schicksallosen“. Oder Anna Seghers’ Roman über den Identitätslosen, der bleiben will, bleiben und leben.
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Mal wieder Resteverwertung
damals, 18:47h
Auch wenn mein Publikum nicht sehr zahlreich ist, bemühe ich mich doch, es zu unterhalten. Natürlich auch, weil ich mich zu meinem Thema verbreiten will - das weniger und weniger die DDR ist und immer mehr ein Nachdenken über eine Haltung ist, die ich einzunehmen anstrebe und auch in den jeweils rezensierten Filmkunstwerken suche und nicht immer finde: Authentizität, Überwindung von Klischees oder so. Und da ich gerade anhand "Leben der Anderen" mit haruwa über das Klischee vom patriarchgalen Despoten uneins war, hier nun ein älterer Text aus meiner Schublade dazu, der halbwegs autobiografisch, teilweise aber auch nur daherphantasiert und -schwadroniert ist. Viel Spaß damit!
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