Samstag, 12. Juni 2010
Warum ist es schön, in Deutschland zu leben?
Warum ist es schön, an einem Freitagmorgen im Juni bei bedecktem Himmel über das Kopfsteinpflaster der Leverkusenstraße zu radeln? Der schöne Farbklang von Himmelsgrau, Laubgrün und Backsteinrot kann doch nicht über die triste Atmosphäre von Arbeitervorort mit Grillstübchen und Zeitungskiosk hinweg täuschen, auf den schon der Straßenname deutlich genug hinweist. Nebenan liegen Boschstraße, Ruhrstraße und Leunastraße, und so sieht das Viertel auch aus. Dass das schön ist, kann mir keiner erzählen: Meine Großeltern kommen selber aus einem dieser Industriestädtchen, wo man früher SPD wählte, später Pauschalreisen (bzw. FDGB-Reisen) buchte und Schönheit immer als Dekadenz verachtete.

Also muss es am Wetter liegen. Richtig. Ich mag diese milde, leicht diesige Frische. Ich erinnere mich an Urlaubstage an der Ostsee, wo dieses Wetter die Unterbrechung des Schwimm- und Badealltags und das Aufkommen faulenzerischen Glücks anzeigte. Wir waren damals jedes Jahr an der Ostsee, in Ahrenshoop, wo in der Nachfolge Johannes R. Bechers allerlei Semiprominenz urlaubte. Zu denen gehörten wir zwar nicht, da wir weder Westgeld hatten noch einen klingenden Nachnamen à la Maron oder Havemann. Aber mein Vater hatte eine gute Freundin, die über das Etikett „Altkommunistin“ und VVN ein Ferienhäuschen dort gesponsort bekam, sich dafür schämte und das Haus alljährlich kostenlos reihum ihren Freunden übergab. Mein Vater hielt Abstand zu den Besitzern der Nachbarhäuser, die er als faul und neureich verachtete. Wir liefen jeden Morgen schon vor dem Frühstück im Bademantel zum Strand runter, um mit ihm eine Runde zu schwimmen. Ab 14 Grad Wassertemperatur war das Pflichtprogramm. Außer bei Regen. Da konnte man den Vater beim Schwimmen begleiten (und wurde als besonders standhaft belobigt), man konnte aber auch zu Hause bleiben und war doch kein Faulenzer. Regen, das waren lange Frühstücke und kurze Spaziergänge, gut eingepackt, und vor allem: stundenlanges Lesen.
Das alles ist lange her. Mein Vater ist alt und immer noch kämpferisch gesinnt. Und ich liebe ihn mehr trotzdem als deshalb. Ich liebe auch dieses nördliche Deutschland, in dem es so viel regnet, niemand mehr SPD wählt und selbst der Bundespräsident keine Lust mehr hat. Ich finde, die Depression steht dem Land gut zu Gesicht.

... comment

<