Dienstag, 24. September 2024
Was an Politik so nervt, …
… das ist, dass das Thema immer erstmal so weit banalisiert wird, dass unterschiedliche Meinungen als gegensätzliche Meinungen erscheinen und ein Streit organisiert werden kann.

Das Buch von Oschmann hätte ich gar nicht gelesen, wenn es mir nicht eine Bekannte mit dringender Empfehlung in die Hand gedrückt hätte. Denn Oschmann hing in der öffentlichen Debatte der Ruf des Jammerossis und DDR-Nostalgikers an, und diese Leute kann ich nun gar nicht leiden.

Dabei ist Oschmann alles andere als das. Sicher, er polemisiert ein bisschen. (Meine Schwester meint dazu: „Das Buch basiert auf einem Zeitungsartikel. Der ist sicher hervorragend. Aber einen Zeitungsartikel nimmt keiner ernst. Also hat er den zu einem Buch aufgeblasen und sprachlich ein bisschen nachgewürzt.“) Aber im Kern hat er Recht, sowas von Recht: Ossis werden aus westlicher Sicht gern zu einer ununterscheidbaren Masse verquirlt und als solche von oben betrachtet. Ich könnte tausend Beispiele nennen.

Jetzt lese ich das neue Buch von Kowalcuk, „Freiheitsschock“. Das Buchcover erklärt, es handele sich hier um einen „Anti-Oschmann“. Ist es aber gar nicht. Sicher, Kowalcuk polemisiert ein bisschen, auch gegen Oschmann. Aber im Kern hat er sowas von Recht, wenn er Ossiland und die diversen Abstufungen von Feigheit dort von innen analysiert. Seinem angeblichen Kontrahenten widersprechen seine Gedanken keineswegs, im Gegenteil, sie sind eine kluge und wohltuende Ergänzung. Man wünschte sich die beiden engagierten klugen Menschen mal in einer Podiumsdiskussion.

Also, wenn Sie mich fragen, der einzige Unterschied ist aus meiner Sicht der ziemlich andere Blickwinkel aufgrund der jeweiligen Lebenserfahrung, also eher etwas Persönliches als etwas Politisches: Oschmann hat sich halt immer angepasst – schon in der DDR (sonst hätte er nicht studieren können, was er studiert hat) und dann auch im Westen, wie er eindrücklich beschreibt. Und Kowalczuk hat eben immer rebelliert – schon in der DDR, wo das natürlich heftige Folgen hatte, aber auch danach im Westen: immer gegen den Strom. Beides, wie ich finde, ehrenwerte und moralisch vertretbare Lebenswege. Beide Menschentypen braucht es, damit eine Gesellschaft gut funktioniert.

Also hört doch auf zu streiten, lasst euch nicht zu Kontrahenten in einer dummen, ideologisierten Debatte machen!

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Na ja, wie immer: Natürlich gab es dieses Gespräch zwischen Oschmann und Kowalczuk, nämlich hier:
https://www.ardaudiothek.de/episode/der-zweite-gedanke/das-reden-der-anderen-die-neue-ost-west-debatte/radio3/12721301/

Und natürlich sind sich die beiden im Grunde einig - und klug genug, dies auch zu bekunden.

Und alles, was sich rings darum "Debatte" nennt, ist überflüssig und einem öffentlichen Wissenszuwachs eher abträglich.

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Finden Sie, dass das, was im Osten häufig über Westler und die Bundesrepublik kolportiert wird, denn differenziert?

Ich habe auch noch einen Buchtipp: "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt" vom ostdeutschen Soziologen Steffen Mau.

Dort ist eine Buchbesprechung im Deutschlandfunk Kultur zum Nachhören oder Herunterladen.

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"Finden Sie, dass das, was im Osten häufig über Westler und die Bundesrepublik kolportiert wird, denn differenziert?" Keineswegs. Und ich hätte nichts gegen einen Oschmann aus dem Ruhrgebiet, der mal polemisch zugespitzt eine entsprechende Debatte anregt.

Im Übrigen äußert Kowalczuk eben diesen Einwand auch im obigen Gespräch, und Oschmann gibt ihm gerne zu, dass die bewusste Auslassung dieses Blickwinkels, die Beschränkung auf die ostdeutsche Sicht, eine polemische Zuspitzung darstellt, ohne die er die notwendige Aufmerksamkeit für die Debatte nicht bekommen hätte. Ich empfehle wirkich dieses Gespräch, in dem die beiden Autoren sich - ohne sich wirklich zu verstehen - doch sehr gut ergänzen - und beide sich auch intellektuell von ihrer besten Seite zeigen.

Ja, der Mau ist natürlich auf meiner Leseliste, ich gebe auch zu, dass sich da ein Vorurteil eingeschlichen hat, da ich nach den Rezensionen zu seinem Lütten-Klein-Buch dachte: Ach, so ein Soziologen-Buch, da hast du keine Lust drauf. Es wird wirklich Zeit, das Vorurteil mal zu revidieren bzw. mal einem ehrlichen Realitäts-Check zu unterziehen.

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Ich lese gerade "Lütten Klein und finde, es liest sich gut und ist interessant. Er erklärt auch gut, etwa, dass "die Aufwertung von Herkunft und Zugehörigkeit - das nationale Projekt - (.) das demokratische Projekt der deutschen Einheit [überlagerte]" und bis in die Gegenwart ausstrahlt.

Interview im DLF Kultur mit Steffen Mau, der in Lütten Klein aufwuchs.

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Ich habe damals den Artikel gelesen und erinnere mich noch daran, dass ich seinerzeit dachte, dass der Literaturprofessor Oschmann offenbar weder "Zonenkinder" von Jana Hensel (* 1976 in Borna) noch "Aufgewacht. Mauer weg" von Susanne Leinemann (* 1968 in Hamburg) gelesen hatte. Beide erlebten den Mauerfall in Leipzig, beide Bücher erschienen 2002.

Susanne Leinemann schildert in ihrem Buch auch, wie in der Zeit danach ihre Liebesbeziehung mit ihrem Leipziger Freund scheiterte und woran. Sie fand sich plötzlich in der unliebsamen Rolle, dauernd "den Westen" verteidigen zu müssen, an dem plötzlich alles durchweg Scheiße war (dabei hatte sie selbst genug daran zu kritisieren).

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Das kann ich leider nicht beurteilen, da ich beide Bücher nicht kenne. Möglich ist es (Oschmann ist kein Spezialist für Gegenwartsliteratur), obwohl: "Zonenkinder" ist doch eher ein berühmtes Buch, ich kann mir nicht vorstellen, dass Oschmann da nicht wenigstens reingeguckt hat.

Mir ging es in meinem Text hauptsächlich um meine Überraschung, erkennen zu müssen, dass Oschmanns Thesen gar nichts irgendwie Skandalöses anhaftet und dass er klug und souverän argumentiert (ganz im Gegensatz zu der Boulevard-Sachbuchschreiberei etwa einer Katja Hoyer) ... und um meine Irritation, dass Kowalzcuk, den ich sehr schätze, irgendwie im Gegensatz zu Oschmann, den ich schätzen lernte, stehen soll - und dann merkte ich, da gibts überhaupt keinen Gegensatz, nur eine belebend wirkende Differenz.

... und Mau kommt auch noch an die Reihe, Und bringt dann wahrscheinlich die nächste Farbe in den Erkenntnisgewinn.

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Aber da wir grad bei Buchempfehlungen sind - das könnte Sie interessieren, da Sie ja auch ein Faible fürs Russische haben: Ich lese gerade Maria Stepanova - "Der Absprung", ein sympathisches kleines Buch mit vielen sprachlich schönen und klugen Sentenzen zur Gegenwart drin (über Russland, Putin und das Putinhafte im Russischen, übers Fremdsein der Migrantin und die Folgen der Kommunikation auf Englisch mit andern Nicht-Englisch-Muttersprachlern, über die Diskrepanz zwischen Schriftsteller und Mensch, über den Grund, warum sich manche Frauen die Beine rasieren usw usf.,) und parallel daneben den Gedichtband "Mädchen ohne Kleider", und der ist wirklich umwerfend, seit vielen Jahren hab ich keine Lyrik mehr gelesen, die mich so tief bewegt hat, da müssen Sie mal reingucken!

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Vielen Dank für die Empfehlungen!

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