Sonntag, 10. September 2023
Eine simple Erkenntnis (ostdeutsche Vergangenheitsbewältigung)
damals, 12:50h
Zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen gehört Wikipedia-Lesen: Es gibt so viel basales Allgemeinwissen, das ich noch nicht habe …
Neulich wollte ich nur mal kurz nachschlagen, wer W. Szymborska ist, von der mir ein schönes Gedicht begegnete. Ich guckte schnell in Wikipedia nach und blieb an der Stelle hängen, wo sie sich 1966 mit einem Intellektuellen solidarisiert, der seinen Job verliert. Das konnte ich erstmal gar nicht einordnen, da ich keine Ahnung hatte, was 1966 in Polen los war. Also hab ich nachgelesen und kam von der Rolle Gomulkas in Polen über die Tauwetter-Politik Chrustschows und den Ungarn-Aufstand und den Prager Frühling zur deutsch-polnischen Entspannungspolitik ab 1970 und kombinierte das mit einer (wie mir schien) krassen Aussage von Egon Bahr, die in „Jena Paradies“ zitiert wird, diesem aufschlussreichen Buch über Matthias Domaschk und die Jenaer Oppositionsgruppen der 1970er Jahre.
Da wurde mir klar, dass ich unbewusst und unreflektiert noch als Kind eingesogenes, simples spätkommunistisches Orientierungswissen mit mir rumschleppe, das dringend der Neujustierung bedarf. Nach diesem verstaubt in mir lagernden Wissen sind Gomulka, Chrustschow, Dubcek und auch Brandt und Bahr Helden, über Ungarn redet man nicht und „Wandel durch Annäherung“ hätte das als Ziel haben können, was mit der Niederschlagung des Prager Frühlings untergegangen war, einen demokratischen Sozialismus.
Und bis auf die letzte, leider ziemlich falsche Aussage ist da ja auch viel Wahres dran. Es fehlt nur der Blick auf die größeren Zusammenhänge.
Also, ja, mit Chrustschow beginnt tatsächlich eine Öffnung hin zum Demokratischen, die das ganze sozialistische Lager erschüttert, und hier insbesondere Polen und Ungarn. Allerdings war allen unklar, wie weit diese Öffnung geht. Ungarn wagte es das auszutesten, mit der Idee, aus dem Warschauer Pakt austreten zu wollen, also an der europapolitischen Ordnung von Jalta und Potsdam zu rütteln. Das ging Chrustschow dann doch zu weit: Einen Machtbereich einfach so aufzugeben, der der Sowjetunion bei der Teilung Europas durch die Großkopfeten vertraglich zugesichert worden war – das ließ er nicht zu, die ungarischen Bestrebungen wurden mit aller Brutalität militärisch plattgemacht.
Möglich dagegen war die polnische Variante, bei der nach politischen Unruhen der stalinistische Staatschef durch den liberal handelnden Gomulka ersetzt wurde, der auf die Aufständischen zuging und faire Lösungen verhandelte und auch im Folgenden einen geschickt ausgleichenden Kurs zwischen den Bedürfnissen der polnischen Bevölkerung und den Machtansprüchen Moskaus fuhr. Als es allerdings in Moskau nach der Entmachtung Chrustschows unter Breshnew 1964 wieder deutlich in die reaktionäre Richtung ging, konnte auch Gomulka daran nichts ändern – und seine Tage als Staatschef waren gezählt, er wurde von den Hardlinern in der eigenen Regierung Stück für Stück beiseite gedrängt und 1970 abgesetzt.
Der Prager Frühling endlich versuchte 1968 ein „Ungarn light“, eine Demokratisierung ohne Abwendung von Moskau. Allerdings, anders als in Polen, tatsächlich institutionell verankert. Und auch das ging, wie wir wissen, Breshnew zu weit und wurde militärisch niedergeschlagen. Damit war endgültig Ruhe im Karton im sozialistischen Lager.
Interessant ist, dass die von Westdeutschland initiierte Entspannungspolitik genau in dem Moment einsetzt, in dem die Freiheitsbestrebungen innerhalb des sozialistischen Lagers endgültig tot sind. Die Totenstille ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass die stalinistische Zentrale, dass Breshnew und die seinigen sich darauf einlassen.
Und deshalb hat Egon Bahr die Zusammenarbeit mit Oppositionskräften in der DDR so kategorisch abgelehnt: Diese Ablehnung war die Voraussetzung dafür, dass er tun konnte, was er tat.
Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass die Entspannungspolitik sehr viel Gutes für den Osten getan hat: So wie es Chrustschow der von ihm initiierten Liberalisierung zu verdanken hat, dass er nur entmachtet, nicht wie üblich ermordet wurde, so hat es die DDR-Bevölkerung Brandt und Bahr und Gorbatschow zu verdanken, dass ihre Revolution so friedlich über die Bühne ging.
Dennoch bleibt die ungute Erkenntnis, dass von oben gewährte Freiheit etwas sehr Unvollkommenes und zudem Unzuverlässiges ist, solange sie nicht auch unten institutionell verankert wird.
Neulich wollte ich nur mal kurz nachschlagen, wer W. Szymborska ist, von der mir ein schönes Gedicht begegnete. Ich guckte schnell in Wikipedia nach und blieb an der Stelle hängen, wo sie sich 1966 mit einem Intellektuellen solidarisiert, der seinen Job verliert. Das konnte ich erstmal gar nicht einordnen, da ich keine Ahnung hatte, was 1966 in Polen los war. Also hab ich nachgelesen und kam von der Rolle Gomulkas in Polen über die Tauwetter-Politik Chrustschows und den Ungarn-Aufstand und den Prager Frühling zur deutsch-polnischen Entspannungspolitik ab 1970 und kombinierte das mit einer (wie mir schien) krassen Aussage von Egon Bahr, die in „Jena Paradies“ zitiert wird, diesem aufschlussreichen Buch über Matthias Domaschk und die Jenaer Oppositionsgruppen der 1970er Jahre.
Da wurde mir klar, dass ich unbewusst und unreflektiert noch als Kind eingesogenes, simples spätkommunistisches Orientierungswissen mit mir rumschleppe, das dringend der Neujustierung bedarf. Nach diesem verstaubt in mir lagernden Wissen sind Gomulka, Chrustschow, Dubcek und auch Brandt und Bahr Helden, über Ungarn redet man nicht und „Wandel durch Annäherung“ hätte das als Ziel haben können, was mit der Niederschlagung des Prager Frühlings untergegangen war, einen demokratischen Sozialismus.
Und bis auf die letzte, leider ziemlich falsche Aussage ist da ja auch viel Wahres dran. Es fehlt nur der Blick auf die größeren Zusammenhänge.
Also, ja, mit Chrustschow beginnt tatsächlich eine Öffnung hin zum Demokratischen, die das ganze sozialistische Lager erschüttert, und hier insbesondere Polen und Ungarn. Allerdings war allen unklar, wie weit diese Öffnung geht. Ungarn wagte es das auszutesten, mit der Idee, aus dem Warschauer Pakt austreten zu wollen, also an der europapolitischen Ordnung von Jalta und Potsdam zu rütteln. Das ging Chrustschow dann doch zu weit: Einen Machtbereich einfach so aufzugeben, der der Sowjetunion bei der Teilung Europas durch die Großkopfeten vertraglich zugesichert worden war – das ließ er nicht zu, die ungarischen Bestrebungen wurden mit aller Brutalität militärisch plattgemacht.
Möglich dagegen war die polnische Variante, bei der nach politischen Unruhen der stalinistische Staatschef durch den liberal handelnden Gomulka ersetzt wurde, der auf die Aufständischen zuging und faire Lösungen verhandelte und auch im Folgenden einen geschickt ausgleichenden Kurs zwischen den Bedürfnissen der polnischen Bevölkerung und den Machtansprüchen Moskaus fuhr. Als es allerdings in Moskau nach der Entmachtung Chrustschows unter Breshnew 1964 wieder deutlich in die reaktionäre Richtung ging, konnte auch Gomulka daran nichts ändern – und seine Tage als Staatschef waren gezählt, er wurde von den Hardlinern in der eigenen Regierung Stück für Stück beiseite gedrängt und 1970 abgesetzt.
Der Prager Frühling endlich versuchte 1968 ein „Ungarn light“, eine Demokratisierung ohne Abwendung von Moskau. Allerdings, anders als in Polen, tatsächlich institutionell verankert. Und auch das ging, wie wir wissen, Breshnew zu weit und wurde militärisch niedergeschlagen. Damit war endgültig Ruhe im Karton im sozialistischen Lager.
Interessant ist, dass die von Westdeutschland initiierte Entspannungspolitik genau in dem Moment einsetzt, in dem die Freiheitsbestrebungen innerhalb des sozialistischen Lagers endgültig tot sind. Die Totenstille ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass die stalinistische Zentrale, dass Breshnew und die seinigen sich darauf einlassen.
Und deshalb hat Egon Bahr die Zusammenarbeit mit Oppositionskräften in der DDR so kategorisch abgelehnt: Diese Ablehnung war die Voraussetzung dafür, dass er tun konnte, was er tat.
Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass die Entspannungspolitik sehr viel Gutes für den Osten getan hat: So wie es Chrustschow der von ihm initiierten Liberalisierung zu verdanken hat, dass er nur entmachtet, nicht wie üblich ermordet wurde, so hat es die DDR-Bevölkerung Brandt und Bahr und Gorbatschow zu verdanken, dass ihre Revolution so friedlich über die Bühne ging.
Dennoch bleibt die ungute Erkenntnis, dass von oben gewährte Freiheit etwas sehr Unvollkommenes und zudem Unzuverlässiges ist, solange sie nicht auch unten institutionell verankert wird.
... comment
fritz_,
Montag, 11. September 2023, 21:39
Hattest du eventuell mal was mit Briefmarken am Hut (boring!). Freiwillig oder unfreiwillig? Dann kennst du das vielleicht.
Ich habe als Kind ein paar alte Briefmarkenalben bekommen, über den Onkel, die vom Opa stammten, und die mich mit allen möglichen phantastischen Ländern, Wörtern und Ausdrücken bekanntgemacht haben. Eire? Latvija? Transvaal? Postage & Revenue?
Gerade so, dass ich lesen konnte, hatte ich dieses ganze Panoptikum aus aller Herren Länder vor mir.
Manchmal haben Standardmarken einen zusätzlichen Stempelaufdruck.
Viele kennen vielleicht den Fall der deutschen Briefmarken unmittelbar nach dem WK 2. Die ganz kleinen, die Standardmarken, vielleicht 15x20 groß, unscheinbar, aber allgegenwärtig.
Auf dem meistverwendeten Briefmarkensatz war damals halt die Hackfresse vom A.H. Die Briefmarken mussten in manchen Fällen nach dem Krieg erst mal weiterverwendet werden, man hatte keine anderen. Also haute man einen Stempel drüber, auf dem steht "Deutschlands Verderber", und man konnte sie erst mal weiterverwenden.
Wo war ich? Ach so. Die DDR hatte (vor meiner Zeit) Briefmarken, auf denen das Rote Rathaus abgebildet war. Auf einer dieser Marken in den Alben meines Opas ist ein Mehrpreis aufgestempelt und der Schriftzug "Helft dem sozialistischen Ungarn". Also offenbar von 1956 ff. Und wenn ich mich nicht irre, habe ich auch aus dem gleichen Marken-Set eine mit dem Aufdruck "Helft der ČSSR". Das gilt dann wohl den Ereignissen um den Prager Frühling von 1968.
Ich kann es in den alten Alben gerade nicht en détail überprüfen, weil ich nicht zu Hause bin. Geschichte ist faszinierend, vermittelt auch durch diese unscheinbaren Nebensachen.
Ich habe als Kind ein paar alte Briefmarkenalben bekommen, über den Onkel, die vom Opa stammten, und die mich mit allen möglichen phantastischen Ländern, Wörtern und Ausdrücken bekanntgemacht haben. Eire? Latvija? Transvaal? Postage & Revenue?
Gerade so, dass ich lesen konnte, hatte ich dieses ganze Panoptikum aus aller Herren Länder vor mir.
Manchmal haben Standardmarken einen zusätzlichen Stempelaufdruck.
Viele kennen vielleicht den Fall der deutschen Briefmarken unmittelbar nach dem WK 2. Die ganz kleinen, die Standardmarken, vielleicht 15x20 groß, unscheinbar, aber allgegenwärtig.
Auf dem meistverwendeten Briefmarkensatz war damals halt die Hackfresse vom A.H. Die Briefmarken mussten in manchen Fällen nach dem Krieg erst mal weiterverwendet werden, man hatte keine anderen. Also haute man einen Stempel drüber, auf dem steht "Deutschlands Verderber", und man konnte sie erst mal weiterverwenden.
Wo war ich? Ach so. Die DDR hatte (vor meiner Zeit) Briefmarken, auf denen das Rote Rathaus abgebildet war. Auf einer dieser Marken in den Alben meines Opas ist ein Mehrpreis aufgestempelt und der Schriftzug "Helft dem sozialistischen Ungarn". Also offenbar von 1956 ff. Und wenn ich mich nicht irre, habe ich auch aus dem gleichen Marken-Set eine mit dem Aufdruck "Helft der ČSSR". Das gilt dann wohl den Ereignissen um den Prager Frühling von 1968.
Ich kann es in den alten Alben gerade nicht en détail überprüfen, weil ich nicht zu Hause bin. Geschichte ist faszinierend, vermittelt auch durch diese unscheinbaren Nebensachen.
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damals,
Dienstag, 12. September 2023, 20:36
Das entzieht sich meiner Kenntnis, da ich mit Briefmarken nicht viel zu tun hatte. Klingt aber plausibel und passt ins Bild.
Die Sache mit dem Stempel auf der Hitlermarke finde ich regelrecht lustig: Wie flexibel und effiizient man doch mit Stempeln agieren kann! Erinnert mich an meinen Bruder, der sich in Grundschulzeiten mit seinem Stempelbaukasten einen "... ist doof!"-Stempel baute, damit er dem jeweils verhassten seiner beiden Geschwister schnell und effektiv entsprechende Botschaften in die Schulhefte stempeln konnte.
Die Sache mit dem Stempel auf der Hitlermarke finde ich regelrecht lustig: Wie flexibel und effiizient man doch mit Stempeln agieren kann! Erinnert mich an meinen Bruder, der sich in Grundschulzeiten mit seinem Stempelbaukasten einen "... ist doof!"-Stempel baute, damit er dem jeweils verhassten seiner beiden Geschwister schnell und effektiv entsprechende Botschaften in die Schulhefte stempeln konnte.
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fritz_,
Mittwoch, 13. September 2023, 21:45
Einen "... ist doof!"-Stempel kann man immer gebrauchen. Vermutlich der meistgebrauchte in Bloggoland und überhaupt. Da hat dein Bruder sichere Intuition bewiesen.
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