Mittwoch, 23. Januar 2013
Zwischendurch bemerkt
Heute habe ich mir was ganz richtig Schönes gegönnt: Das Hamburger Literaturfaltblatt vermerkte, dass eine Lesung mit Hans-Ulrich Klose stattfindet. Nun, diesen Politiker fand ich damals als Jugendlicher ganz toll, als ich die Welt per Westfernsehen wahrzunehmen begann. Meine beiden anderen Stars aus dieser Lebensperiode, Neil Young und Rickie Lee Jones, habe ich inzwischen ja auch bei Auftritten in Hamburg live begutachtet, warum sollte ich dies nicht auch mit Klose tun?
Und es war wunderbar: Da saß also dieser stilvoll ergraute, hochseriöse alte Mann in einer St.-Pauli-Kellerkneipe vor 30 Altlinken und las Gedichte. Eine Szenerie aus lauter nicht zueinander passenden, aber jeweils sehr sympathischen Elementen. Natürlich konnte der Mann - als Berufspolitker - seine Texte professionell sprechen, es waren leichte, teils melancholische, teils mehr verträumte Gedichte über den westdeutschen Lebensalltag, manchmal mit einem kleinen Hang zum Kitsch, nicht sehr tiefgehend, aber nirgends platt, mit einem Grundton von postmoderner Heimatlosigkeit und voller dezentem Lebensgenuss. Und nach einer Stunde und bevor das Publikum ihn in weitergehende politische Diskussionen verwickeln konnte, zog Klose seinen Mantel an und verließ den Raum.
Und ich dachte staunend und neidisch: Die siebziger Jahre in Westdeutschland, für die dieser Mann steht, die müssen doch das Paradies gewesen sein.

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klingt cool.

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War es auch.

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Paradies
ist vielleicht bisschen hoch gegriffen. Gegenfrage wäre freilich, ob es ein vergleichbar jungdynamischer DDR-Bezirksfürst zu der Zeit so viel schlechter gehabt hätte als ein Herr Klose in Hamburg.

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Die Gegenfrage hat mich ins Grübeln gebracht - kennt man eben nicht so, diese Leute, die lebten ja viel weniger öffentlich. Ich weiß von Sindermann (rechts im Bild), dass er als Bezirkschef von Halle den Kontakt zu Biermann suchte, ich glaube, sogar noch nach dessen Verbot. Aber das ist dann das Äußerste an Kultur, was ich mir vorstellen kann. Dass unser Bezirkschef damals in Potsdam, Jubeljahn, vielleicht Gedichte geschrieben haben könnte, möchte man sich lieber nicht vorstellen.
Und als dann 1989 Wandlitz zur Besichtigung stand, stellte sich ja heraus, dass auch der vermutete überbordende Reichtum nicht vorhanden war.
Weniger Wohlstand, weniger Bildung, weniger Kultursinn, das ist meine Vermutung.

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Ja, mag schon sein. Wobei die Bereiche Bildung und Kultursinn hüben und drüben auch nicht zu knapp von unterschiedlichen sozialen, um nicht zu sagen systemischen Erwünschtheiten geprägt gewesen sein dürften.

Das hat ja schon im Westen von Stadt zu Stadt zum Teil erheblich divergiert, was als Kulturangebot kanonischen Rang hatte und was nicht. Es hat mich neulich regelrecht erschüttert, bei Don Alphonso zu lesen, dass der auf Klassenfahrt nach Ost-Berlin fahren musste, um "Mann ist Mann" von Brecht mal im Theater sehen zu können, dergleichen wäre im tiefschwarzen Ingolstadt nie gespielt worden. In Mannheim hingegen, der roten Hochburg im schwarzen Ländle, habe ich das Stück als Zwölfjähriger im Nationaltheater gesehen, und es wäre mir nicht im Traum eingefallen, das für etwas Exotisches zu halten.

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"Systemische Erwünschtheiten" ist gut gesagt, darauf zielte mein Neid: Wie Klose sich gibt, war konform, konformer gehts kaum, aber da lebt man doch gern, wo sowas konform ist.
Und vermutlich haben Sie Recht und das ist gar nicht westdeutsch, sondern vielmehr hamburgisch. Vielleicht hat es doch einen tieferen Sinn, dass ich in dieser Stadt gelandet bin.

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